Meine erste Begegnung mit Hans-Jürgen Schrader – in seiner Eigenschaft als Germanistik-Professor in Genf – fand Jahrzehnte zuvor in Klausenburg/Cluj-Napoca statt, wo ich zum Gutachter einer von ihm betreuten Dissertation ernannt wurde. Diese für Rumänien besondere institutionelle Leistung, dass ein »auswärtiger« Kollege Doktoranden an einer einheimischen Universität betreuen durfte, war eine Erfindung des damaligen Rektors und Bildungsministers Andrei Marga, der sich nicht damit abfinden wollte, dass an seiner Universität mangels zugelassener lokaler Betreuer keine Promotionen im Fach Germanistik durchgeführt werden konnten, und zu einer Lösung griff, die meines Wissens einmalig blieb. Es war aber auch die Chance, die die »Vorsehung« für eine lange und beständige Freundschaft bot.
Ich habe nicht gezählt, wie oft wir uns seither an verschiedenen Orten der Welt getroffen haben. Mein Eindruck bei diesen Gelegenheiten war immer, dass trotz der manchmal langen Zeitabstände, in denen wir uns nicht von Angesicht zu Angesicht sehen konnten, unser Gespräch nie abbrach. Wir haben schon sehr früh die vielen Dinge und vor allem die vielen Überzeugungen entdeckt, die uns menschlich verbinden, also das weite Feld der Gemeinsamkeiten, die jenseits der immer fruchtbaren fachlichen Diskussion den gemeinsamen Nenner eines kommunikativen Miteinanders bilden, das durch nichts getrübt wird. Vielleicht hängt dies auch mit der Fähigkeit zusammen, in dem Anderen jene Eigenschaften zu erkennen, die man sich auch für sich selbst wünscht: Im Falle von Hans-Jürgen Schrader fand ich unter anderem seine offensichtliche Bereitschaft bewundernswert, die Individualität des Gegenübers einfühlsam verstehen zu wollen, was auch als großzügiges Angebot einer manchmal notwendigen Unterstützung – welcher Art auch immer – zu verstehen ist. Aber die Schärfe seines kritischen Blicks auf Unzulänglichkeiten hie und da, vor allem im Bereich der gesellschaftlichen Moral, ist immer spürbar. Man ahnt, wo sein Wohlwollen endet und an welchen Maßstäben er die Voraussetzungen für aufrichtige Freundschaft misst.
Im letzten Frühjahr trafen wir uns wieder für ein paar Stunden. Wir waren beide auf der Durchreise, ich von Weimar nach Jassy/Iași, Hans-Jürgen Schrader und seine Frau Eveline von Zagreb nach Genf. Im Wiener Institut für Österreichkunde in der Hanuschgasse sollte er einen Vortrag über die »Wiener Gruppe« halten – neben der Wiedersehensfreude auch für mich ein Anreiz. Von der ersten Reihe des kleinen Saales aus konnte ich seinen beeindruckenden Auftritt verfolgen und hatte wieder einmal Gelegenheit, über die Fähigkeiten nachzudenken, die einen brillanten Germanisten und zugleich erstklassigen Pädagogen ausmachen. Denn Hans-Jürgen Schrader verkörpert beides durch sein enormes Wissen und durch die außergewöhnliche Gabe, dieses Wissen rhetorisch, also prägnant und persuasiv, zu vermitteln. Er gehört zu denjenigen, die ein intellektuelles Publikum nicht nur durch jederzeit ausstrahlende Sachkenntnis gewinnen, sondern diese auch anschaulich, humorvoll und heiter vermitteln können. Hans-Jürgen Schrader hat seine Erfahrungen großzügig seinen Studenten und Doktoranden zur Verfügung gestellt und sich verpflichtet gefühlt, den Besten unter ihnen auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Diejenigen, die dies zu schätzen wussten und davon Gebrauch machten, kann man nur beneiden.
Hans-Jürgen Schrader kann auf eine glänzende wissenschaftliche Laufbahn und ein bedeutendes Werk zurückblicken. Die Schwerpunkte seiner germanistischen Forschung und editorischen Tätigkeit liegen in Epochen und Themen, deren kulturgeschichtliches Gewicht vielen Fachleuten heute (leider) nicht mehr ganz bewusst ist: Bibelübersetzungen ins Deutsche, Pietismus, geistliche Emblematik, Wilhelm Raabe, Mascha Kaléko, Arno Schmidt; ebenso interessant und tiefgründig hat er über Goethe und seine Zeitgenossen geschrieben, über die Spezifik der deutsch-jüdischen Literatur, über Heine, Grillparzer, Else Lasker-Schüler, Brecht, Dürrenmatt, Alois Brandstätter unter anderen – nichts aus der deutschsprachigen Literatur und Kultur ist ihm fremd. Exemplarisch erscheint die leidenschaftliche Hingabe, mit der er sich dem Schrifttum des mittelost- und südosteuropäischen Raumes widmete; Hans-Jürgen Schrader gilt heute als einer der wichtigsten Spezialisten für dessen deutschsprachiges Kultur- und Literaturerbe, dessen Spuren er bis weit in die Lyrik deutschsprachiger israelischer SchriftstellerInnen von Manfred Winkler und Ilana Shmueli bis Yvonne Livay gesucht und gefunden hat.
Zum 3. März 2023 feierte Hans-Jürgen Schrader seinen 80. Er verdient die Liebe und treue Zuneigung aller, die ihm nahestehen, und nicht minder den allgemeinen Respekt für seine große intellektuelle Leistung!
Andrei Corbea-Hoișie
Andrei Corbea-Hoișie Professor für Germanistik an der Alexandru-Ioan-Cuza-Universität Jassy, Projektleiter am Hermannstädter Institut für Sozial- und Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 243–245.