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Horst Samson: Literatur im Blitzlichtgewitter. Das Alter ist ein kugelförmiges Gespinst – Der Schriftsteller Gerhard Ortinau ist 70

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Als Herta Müller am 10. Dezember 2009 in Stockholm den Nobelpreis für Literatur entgegennahm, sagte sie in der Tischrede beim Bankett: »Zum Glück traf ich in der Stadt Freunde, eine Handvoll junge Dichter der Aktionsgruppe Banat. Ohne sie hätte ich keine Bücher gelesen und keine geschrieben. Noch wichtiger ist: Diese Freunde waren lebensnotwendig. Ohne sie hätte ich die Repressalien nicht ausgehalten. Ich denke heute an diese Freunde.«

Zu diesen, unseren Freunden und im Zeichen der Literatur Verbündeten gehörte auch Gerhard Ortinau. In jenen 70er- und 80er-Jahren der gesellschaftlichen Depression und der politischen Repression unter dem damaligen kommunistischen Diktator Nicolae Ceaușescu und seines Geheimdienstapparates Securitate war vertrauensvolle Freundschaft nicht nur ein rares Gut und fast schon Luxus, sondern zudem auch eine gegenseitige Quelle der Inspiration für uns junge Schriftsteller, nicht zuletzt eine Version für einen gemeinsamen literarischen Entwicklungsprozess. Die Allianz bedeutete schlussendlich aber auch eine Art Lebensversicherung, war es doch von erheblicher, ja mitunter von geradezu existentieller Bedeutung, Freunde zu haben, die einen im Auge behielten, falls man urplötzlich drohte, verloren zu gehen im diktatorischen Gewühle und Gedränge um die Herstellung von Gleichförmigkeit, bespitzelter Denkarten durch die »Gedankenpolizei«, oder – falls man des Querdenkens identifiziert und dazu auserkoren worden war – als Kanarienvogel hinter schwedischen Gardinen zu Verhörzwecken oder zu gar Schlimmerem und auf undefinierte Zeit zu verschwinden. Einen Rütli-Schwur hatten wir formell zwar nie abgelegt, aber das Wissen um Verdacht und Verrat perpetuierte unser Denken, die Absprachen, eine Art Bündnis.

So verliefen einige der Grenzmarkierungen Mitte der 70er-Jahre als der 23-jährige Gerhard Ortinau seinen für die damalige Zeit einschlagenden Erstlingsband mit »kurzer Prosa« unter dem Titel Die Verteidigung des Kugelblitzes in die Öffentlichkeit entließ. Das schmale Bändchen, erschienen im Dacia Verlag Klausenburg/Cluj-Napoca unter dem Lektorat Franz Hodjaks, war ein Paukenschlag und Aufbruchssignal in die literarische Moderne und beendete – wie es der Literaturkritiker Gerhard Csejka im Vorwort zu dem Buch anklingen ließ, den »falschen Anspruch der Gesellschaft an die Literatur«, der in seiner proletkultistischen Ausformung einen »falschen Anspruch der Literatur an sich selber« hervorgebracht hatte. Die Zahl 13 an ausgewählten Stücken »kurzer Prosa« sollte sich keineswegs als Unglückszahl für den rumäniendeutschen literarischen Aufbruch in der Prosa erweisen, im Gegenteil eine leise Euphorie machte sich schnell breit, angefacht von Csejkas Lob und den schnörkellosen, in klarer Sprache veröffentlichten Texten, die uns voller Bewunderung auf Gerhard Ortinau blicken ließ und ihm um ein Haar den Schatten eines Genies folgen lassen sollten. »Ortinaus Prosa ist vorzüglich gerade darin, daß bei allem beachtlichen technischen Aufwand nie etwas leerläuft, Selbstzweck bleibt. Was aber andererseits nicht heißt, daß jedes Wort schwerbelastet wäre mit Über- und Hintersinnigkeiten, die man sich in schweißtreibender Lese- und Ratearbeit herausschmelzen müsste – die Zeichen sind klar und leicht gesetzt, souverän literarisch und dennoch hinausweisend über sich selbst, hinweisend auf das unwahrscheinlich Wirkliche, das wir mitunter erleben«, schrieb Gerhard Csejka und staunte darüber, wie sich der junge Autor Gerhard Ortinau »alles verfügbar macht, wie das Phänomen überhaupt neu und erstaunlich in rumäniendeutschen Sphären sein dürfte, das mit einigen Banater Schriftstellern heraufgekommen ist: diese totale Disponibilität der künstlerischen Verfahren, dieser unsentimentale Verzicht auf die ›Aura‹ (W. Benjamin), auf persönliche ›Einzigkeit‹ zugunsten des Effekts«. Man äffe keine ausländischen Modetrends nach, freute sich der Literaturkritiker, sondern »borgt ungeniert, was man braucht und verfügt verantwortungsbewusst, gehörig verfremdend und unter genauer Quellenangabe darüber, mache es den höchst eigenen Zwecken dienstbar«. Damit erteilte Csejka dem Debütanten den Ritterschlag, bezeichnete Ortinaus Kurzprosa als Befreiungsschlag gegen den bis dahin weitgehend grassierenden sozialistischen Erzählrealismus. Ortinaus Kugelblitz-Texte »gehören zum Originellsten, was an deutscher Prosa in letzter Zeit hierzulande geschrieben wurde«. Dass dem auch so war, hat niemand von uns in Zweifel gezogen, hatte Ortinau damit doch seine eigene Ausdrucksweise in origineller und fulminant frischer Form gefunden, fernab seiner Vorbilder, zu denen er vier Jahre vorher noch Marin Sorescu, Anemone Latzina, Bert Brecht, Franz Kafka und Ernest Hemingway zählte.

Gerhard Ortinau überraschte alle mit seiner ironisch unterfütterten Prosa, standen seine ersten Veröffentlichungen doch im Zeichen der Lyrik. Mit drei Gedichten – Bevor die Stunden verwesen, Ironische Genesis und Paradoxon – hatte er in der von Eduard Schneider 1972 im Facla-Verlag Temeswar/Timișoara herausgegebenen Anthologie Wortmeldungen in Buchform debütiert, in der zum ersten Mal eine Generation junger Dichter, 22 an der Zahl, ihre Stimme erhob. Ortinaus Gedicht Paradoxon aus dem Kapitel Wir haben die Verhältnisse erkannt stimmte schon mal den Ton an, der in seiner späteren Prosa aufhorchen ließ: »jemand bringt einen / Wecker mit ins Restaurant / und stellt ihn / vor sich auf den Tisch // Vorsichtig erkundigen / sich die Anwesenden / ob der Wecker / zu verkaufen sei // da sagt der Mann: / ich kann nicht / antworten / denn ich bin stumm // damit hat der Mann / Politik gemacht / denn es ist hohe Politik / zu behaupten: / ich mache keine Politik«.

Die Gedichte dieses Kapitels der Wortmeldungen, so schrieb der Herausgeber und Literaturkritiker Eduard Schneider in seinem Nachwort, seien »Ideengedichte […], die der existentiellen Deutung der Kondition des Menschen die soziale und politische Dimension hinzufügen«. Dieses frühe Gedicht Ortinaus wird rund 40 Jahre später in einem 34 Seiten dünnen Auswahlband mit dem Titel Am Rande von irgendwas, frühe Gedichte & Texte 1970–1978 (hochroth-Verlag Berlin 2010) erneut auftauchen, allerdings ergänzt und versehen mit der Fußnote eines Offiziers »Exact așa este!« (auf Deutsch: »Genau so ist es!«), in Ortinaus »Securitate-Akte« dokumentiert.

In dem Prosastück Provinz stromert der 40-jährige Protagonist auf Alltagsstreife durch die Banater Metropole, in der immer wieder ein Ledermantel auftaucht, fühlt sich als Teil einer anonymen Armee von Bürgern, ist auf der Suche nach Aspirin gegen seine Kopfschmerzen, während New York in seinen Gedanken kurz aufleuchtet, aber auch die Erkenntnis: »Schließlich ist es nicht gut, etwas zu sagen, was nicht gut ist.« Er reflektiert den Sozialismus, streift Marys Brüste und endet am Ende der Prosa bei seiner Frau Sabina vor dem Fernsehapparat und der schwerwiegenden Frage im letzten Satz: »Was tut eine Armee, wenn keine Ordnung da ist?« Damit entlässt Ortinau den Leser ins Offene!

Nach der Lektüre der verteidigung des kugelblitzes notiert der Germanist Thomas Krause in seinem Buch Die Fremde rast durchs Gehirn, das Nichts … Deutschlandbilder in den Texten der Banater Aktionsgruppe (1969–1991), erschienen im Peter Lang Verlag – Europäischer Verlag der Wissenschaften in Frankfurt am Main, 1998: »Bei Gerhard Ortinau (die letzte banater story, offener brief eines auf den mond verschlagenen (nur für rumäniendeutsche leser)) wird die Vergangenheits- und Gegenwartsebene mittels des bizarren Verkantens von Perspektiven, des Unwahrscheinlichen und des Unmöglichen miteinander verknüpft und zum Ausgangspunkt weitreichender Zukunftsüberlegungen gemacht.« Es ist, würde ich vermuten, der kreative Drang, verschleierte Gewesenheiten, bedrückende Gegebenheiten und erkannte, veränderungsbedürftige Verhältnisse in einer Art literarischer Vergegenkunft zusammen zu binden.

Grandios komponiert und stilistisch brillant geschrieben ist Ortinaus Wehner-Monolog, Wehner auf Öland. Eine Verkleinerung, veröffentlicht in der Anthologie Heimat – gerettete Zunge. Visionen und Fiktionen deutschsprachiger Autoren aus Rumänien, erschienen im Pop Verlag Ludwigsburg 2013. In diesem Monolog setzt sich Ortinau mit dem berühmten und streitbaren Sozialdemokraten Herbert Wehner auseinander, der als Mitglied der KPD im Auftrag der Komintern in Moskaus geschult, nach Schweden geschickt und dort von 1942 bis 1946 inhaftiert war. Ortinaus Text ist eine Auseinandersetzung mit Wehner, der gezeichnet von einer Infarkt-Demenz die letzten Jahre in seinem Ferienhaus auf der Insel Öland in Schweden verbringt. »Während Wehner – in der Funktion einer mit dramatischen Effekten ausgeladenen Figur des politischen Welttheaters – allmählich seine Identität verliert, kreist um die Insel das mythische Totenschiff Naglfar. Es ist ein mutig konstruierter, vielschichtiger Text«, hebt Prof. Dr. Wolfgang Schlott im Vorwort der von Horst Samson herausgegebenen Anthologie hervor.

Zu Ortinaus leider schmalem literarischen Werk zählen noch zwei Theaterstücke, Käfer. Eine deutsche Komödie, am 6. Juni 1999 am Theater der Stadt Heidelberg uraufgeführt beziehungsweise als Hörspiel im Deutschlandradio 1999, und Die Nacht des schlaflosen Kellners, Uraufführung 2002 am Staatstheater Oldenburg, sowie die Brief-Erzählung Ein leichter Tod – Brief des SS-Hauptsturmführers Dr. Weber an den Obersturmbannführer Dr. Brandt vom persönlichen Stab des Reichführers-SS (Oberbaum Verlag, Chemnitz 1996).

Gerhard Ortinau erblickte am 18. März 1953 im Weiler Movila Gîldăului das Licht der Bărăgan-Steppe, wohin seine Eltern 1951 deportiert wurden. Er wuchs ab 1956 in dem Banater Dorf Sackelhausen/Săcălaz), nahe Temeswar auf, der europäischen Kulturstadt 2023. Zwischen 1972 und 1976 studierte er Germanistik und Rumänistik an der Universität in Temeswar (heute Universität des Westens). Er war Mitglied des Schriftstellerkreises Aktionsgruppe Banat, zu dem unter anderen auch Richard Wagner, Rolf Bossert, Albert Bohn, Werner Kremm, Johann Lippet, Anton Sterbling und William Totok gehörten und dem auch Herta Müller, Balthasar Waitz, Helmuth Frauendorfer und ich nahestanden.

1976 trat er aus Protest aus der Rumänischen Kommunistischen Partei aus und stellte einen Antrag zur endgültigen Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland. Im gleichen Jahr eröffnete der rumänische Geheimdienst Securitate einen Operativen Vorgang (Dosare de urmărire informativă, DUI) gegen Ortinau. 1980 konnte er mit einem am 19. Januar 1980 ausgestellten und bis zum 19. Juli 1980 gültigen Pass Rumänien verlassen. Seither lebt er in Berlin. Gerhard Ortinau erhielt mehrere Stipendien, unter anderem das Stipendium des Deutschen Literaturfonds und das Autorenstipendium des Berliner Senats. 2005 wurde er mit dem Würth-Literaturpreis (3. Preis) ausgezeichnet.

As time goes by – man kennt den Satz von dem Klavierspieler Sam aus dem Humphrey-Bogart-Film Casablanca, dennoch will man manchmal, verblüfft über den Lauf der Jahrzehnte und die Dauer von Freundschaften, der Zeit misstrauen. Als ich Gerhard Ortinau im März zum 70. Geburtstag gratulierte, schrieb ich »Lieber Gerhard, du wechselst heute die Vorwahl. Mit 70 wird’s gefährlich […] Zwar schwärmt das Netz vom ›wertvollen Oldtimer, reich an Kilometern, aber noch gut in Schuss, und mit leichten Gebrauchsspuren‹. Das wäre noch die bessere Variante, sagen wir mal das noch museumsreife Modell, vorausgesetzt der Kühler leckt nicht und der Auspuff funktioniert noch. Wenn der Motor aber beim Anlassen pfeift, dann wisse, es ist der Tinnitus. Ich erinnere dich nur daran, denn du […] könntest altersgerecht auf die besessene Idee kommen, es sei der Gesang der Sirenen. Das, mein Lieber, war früher richtig! […] Zuletzt noch ein Tipp – so langsam könntest du wieder dein in die Wiege gelegtes Talent auspacken und mit deinem Alterswerk beginnen, damit sich der Stapel erhöht […]«

Gerhards Antwort kam postwendend und war entwaffnend: »Neulich bin ich mit dem Fahrrad gestürzt und auf den Kopf gefallen – seither kann ich wieder schlafen (das ist die Kurzvariante, die lange ist ein bisschen länger) […], wer weiß, wo das noch hinführt […] Und damit beende ich den heiteren Abschnitt dieser Mail, aber nicht ohne gefragt zu haben: Wofür ein Alterswerk? Für die Alten?«

Nun, warum nicht, lieber Gerhard? Für die Alten!

Horst Samson

Horst Samson ist Schriftsteller, Journalist und ehemaliger Generalsekretär des internationalen Exil-P.E.N. Seine Gedichte wurden ins Englische, Französische, Russische, Rumänische, Serbokroatische und Ungarische übersetzt.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 245–248.