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István Örkény. Rebellion in der Nussschale. Ein Lesebuch | Besprechung

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Minutennovellen, Grotesken und Gespräche – ungarische Erzählkunst

István Örkény. Rebellion in der Nussschale. Ein Lesebuch. Herausgegeben und aus dem Ungarischen übersetzt von Tünde Malomvölgyi. Ulm: danube books Verlag 2023. 199 S.

 

Das vielfältige Werk des ungarischen Romanciers und Essayisten István Örkény (1912–1979) so zu präsentieren, dass die spezifischen Formen seiner Prosa (Minutennovellen), Briefe und Reiseberichte wie auch stilbildende Prosaarbeiten (Groteske) deutlich markiert sind, ist der Herausgeberin und Übersetzerin Tünde Malomvölgyi in ihrem Lesebuch auf besondere Weise gelungen. Ihr ausführliches Vorwort widmet sich den sozialpolitischen Umständen und psychomentalen Belastungen, unter denen der Schriftsteller vor allem seit Beginn des Zweiten Weltkriegs zu leiden hatte. Es waren Örkénys bittere Erfahrungen als Soldat der ungarischen Armee im Zweiten Weltkrieg, die existentiell bedrohlichen Bedingungen in sowjetischer Gefangenschaft und sein Schreibverbot nach dem ungarischen Aufstand 1956. Es sind Faktoren, die Tünde Malomvölgyi in ihrer einfühlsamen Präsentation zu einer prägenden Bewertung des schriftstellerischen Erbes zusammenfasst. Örkénys gesamtes Werk sei »auf eine besondere Weise von den Erfahrungen der Widersprüchlichkeiten und Extreme menschlicher Existenzen durchdrungen« (vgl. S. 9), eine Erkenntnis, die sich in seinem besonderen Blick auf die von Absurditäten gezeichnete Welt niederschlage. Es war, wie Imre Kertész, Nobelpreisträger für Literatur, in dem Nachwort zu Örkénys Roman Das Lagervolk bestätigte, die in der Sowjetunion gesammelte Erfahrung, die »ihn für den Rest seines Lebens mit dem besonderen Gespür für die Absurdität des menschlichen Daseins« (S. 9) ausstattete. Eine dieser Einsichten in die Mechanismen von Machtausübung bestand darin, wie er in dem Interview Krieg und Kriegsgefangenschaft (vgl. S. 75–83) bekannte, dass der sowjetische Geheimdienst seine Entlassung aus der Gefangenschaft 1946 von der Verpflichtung abhängig machte, Mitglied der ungarischen Kommunistischen Partei zu werden. Der auf diese Weise zu einer erpressten Mitgliedschaft gezwungene Schriftsteller ergab sich in sein Schicksal, indem er auf eine subtile, künstlerisch wirksame Art und Weise zu einem Meister der grotesken Deutung seiner psychosozialen und politischen Wirklichkeit wurde. Ein Merkmal, das ihm die mit der ungarischen sozialen Realität seit Beginn des 21. Jahrhunderts bestens vertraute Herausgeberin a posteriori bestätigte: »Wenn man die aktuellen Entwicklungen und Geschehnisse in Ungarn verfolgt, drängt sich einem zuweilen eine groteske Perspektive auf.« (S. 10) Der somit auf die grotesk eingestimmte Atmosphäre in den Minutennovellen vorbereitete Leser könnte deshalb enttäuscht sein, wenn er nicht sogleich in den Texten aus den Jahren nach 1945 mit grotesken Einsichten vertraut gemacht wird. Die Rebellion in der Nussschale, eine aus dem Jahr 1937 stammende Groteske (vgl. S. 16), stellt deshalb gleichsam nur einen »Anlauf« auf die groteske »Verformung« der Realität nach 1945 dar. Wie ein weiterer Text, die aus dem Jahr 1968 stammenden Variationen der Selbstverwirklichung, in denen der Protagonist seinem Leser gesteht, dass er das Angebot erhält, in einen Damenschlüpfer verwandelt zu werden. (vgl. S. 59)

Wer nun die »Seriosität« des Grotesken im schriftstellerischen Werk von Örkény prinzipiell in Frage stellen könnte, dem seien sogleich die Gespräche über das Leben, über das Groteske und über das Groteske im Leben (vgl. S. 70–109) empfohlen. Dort erfahren Leser und Leserinnen etwas über das Schreiben und die Darlegung des sozialen Lebens an sich. Seine Wahrnehmung im Alltag hänge davon ab, in welcher Situation »das Gute oder das Böse in uns zum Vorschein kommt« (S. 9). Und die literarische Umsetzung des Grotesken? Das Groteske sei weder ein Stilmittel noch eine künstlerische Form, sondern lediglich eine Betrachtungsweise. Und das Groteske im Leben? Diese Antwort bleibt aus, weil die Herausgeberin es vorzieht, Örkénys Aussagen über das Schreiben an sich und das Urteil des Schriftstellers über das Ungarische als eine präzise, wunderbare Sprache abzudrucken.

Einen ganz anderen Eindruck hinterlässt die Lektüre der Briefe und Reiseberichte (vgl. S. 110–153), die István Örkény an seine engsten Familienmitglieder und ungarischen Schriftstellerkollegen geschrieben hat. Auffällig ist ihr kameradschaftlicher Ton, ihre freundschaftliche Verbundenheit mit jenen, die vor allem unter der Kádár-Diktatur Publikationsverbot hatten (wie Tibor Déry, Gyula Illyés). Auch die Reiseberichte erweisen sich aufgrund ihres transparenten Inhalts als empfehlenswert, zumal die beigefügten Informationen über biografische und geografische Daten einen umfassenden Eindruck hinterlassen und die Angaben im Anhang immer wieder das Überprüfen von Namen und Ereignissen lohnenswert machen. Dazu gehören auch die bibliografischen Angaben der Werke von István Örkény, die in deutscher Sprache veröffentlicht wurden.

»Für mich verwirklicht sich das Schöne in der grotesken Betrachtung der Welt« – Mit dieser aus dem Jahr 1977 stammenden Aussage des Autors erhält die vorliegende Ausgabe eine besondere Note. In ihr verbündet sich eine ästhetische Komponente mit dem gleichsam schicksalhaften Wesen menschlicher Existenzweise. Eine besonders gelungene Anziehungskraft verleiht ihr deshalb auch die halb geöffnete Walnuss auf dem Umschlag des Buches. Sie offenbart sich in der Aufdeckung eines wunderbar eigensinnigen Werkes, dessen Lektüre immer neue Rätsel ohne eindeutige Lösungen offenbart. Grotesk und eigensinnig öffnen sich die Türen während und auch nach der Lektüre des vorliegenden Bandes, der das uneingeschränkte Lob für die herausgebende Übersetzerin und den danube books-Verlag verdient.

Wolfgang Schlott

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 257–259.