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Ivo Andrić: Das Fräulein. Roman | Besprechung

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Fremd, fern und unwirklich

Ivo Andrić: Das Fräulein. Roman. Deutsch von Edmund Schneeweis, bearbeitet von Katharina Wolf-Grießhaber. Mit einem Nachwort von Michael Martens. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2023. 272 Seiten.

 

»An einem der letzten Februartage des Jahres 1935 brachten alle Belgrader Zeitungen die Nachricht, dass man in der Stiška-Straße 16a die Hausbesitzerin tot aufgefunden habe. Sie hieß Rajka Radaković, stammte aus Sarajevo, lebte in diesem Haus schon an die fünfzehn Jahre ganz zurückgezogen das Leben einer einsamen alten Jungfer und galt als Geizkragen und Sonderling.« (S. 7) So hebt Ivo Andrićs Roman an, gewidmet einem unspektakulären Leben und einem schlagzeilenarmen Tod. Und trotzdem ist Rajka eine Ausnahmeerscheinung, deren eigenartigen Charakter zu ergründen und deren Geschichte nachzuerzählen sich für einen Schriftsteller lohnt. Das Ergebnis ist eine präzise Charakterstudie.

Wie mit einer Kamera leuchtet Andrić den Kosmos des »Fräuleins« Rajka aus – seine Kamerafahrt ist langsam und lässt nichts aus. In dem »freudlosen Zimmer« (S. 14), in dem Rajka stirbt, wird jeder Winkel aufgespürt: »Hier schläft sie, hier verbringt sie den Tag, hier arbeitet sie, hier kocht sie auch auf dem kleinen Ofen ihr karges Mittagsmahl, das gleichzeitig ihr Abendessen ist«. (S. 14) Der Lebensgrundsatz dieses Sonderlings lautet: »Stopfen und Dulden halten das Haus zusammen«. (S. 15) Und der »einzig wahren Gottheit« (S. 16) huldigt Rajka: der Sparsamkeit. Stopfen ist für sie »der stille, gerechte Dienst an dieser Gottheit« (S. 16). Diesen Dienst verrichtend, ereilt sie der Tod – und von diesem Augenblick entrollt Andrić ihre Geschichte: Ihr Leben zieht an uns vorüber, das Schicksal eines Menschen, dessen Einsamkeit in jedem Menschen Mitgefühl hervorruft. Rajka selbst jedoch empfindet nichts: weder für sich selbst noch für andere, was sie noch einsamer als einsam erscheinen lässt. Durch ihren Sparsamkeitswahn büßt sie ihre Menschlichkeit ein. Ihr Leben ist lange vor dem Augenblick ihres Todes erstorben. Doch ist es gerade dieser Augenblick, in dem der Schriftsteller wie ein Filmemacher die Kamera auf diese Frau richtet und sie zurück in ihr Leben begleitet, um zu verstehen, wie ein Mensch seelisch, geistig und körperlich so verarmen kann, dass er sich zu Lebzeiten auslöscht.

Von ihrem Vater, dem in Sarajevo angesehenen Kaufmann Gazda Obren, wird sie innig geliebt. Obwohl sie schon in die vierte Klasse geht, behandelt er sie, »als wäre sie noch immer sechs Jahre alt« (S. 21). Und Rajka siedelt ihren Vater im Olymp an. Auf dem Schulhof muss sie eines Tages erleben, wie ihr Idol zunichte gemacht wird. Eine »dicke und unbeholfene Klassenkameradin« (S. 22) stürzt. Rajka lacht sie aus, worauf Erstere ihr die Worte entgegenschleudert, ihr Vater sei viel ärger gestürzt, er sei bankrott, sie möge eher über ihn lachen. Das ist ein Schock für die »Kleine« (S. 21): »Bankrott! Ihr Vater war gefallen, und alle sprachen davon, nur sie wusste und ahnte nichts.« (S. 23) Kein Wunder, dass sie in der Todesstunde ihres Vaters »das ungewöhnliche Gelübde« (S. 23) ablegt, das sie in den seelischen Ruin treiben wird. Haben »Edelmut, Großzügigkeit und Empfindsamkeit« (S. 25) ihren Vater vernichtet, soll es für sein »kluges Kind« (S. 25), das den Auftrag erhält, künftig auch für seine schwache Mutter zu sorgen, anders werden: »Arbeite, so viel du kannst und willst, aber spare, spare immer, überall, an allem und kümmere dich um nichts und niemanden.« (S. 26) Diesen Rat ihres dahinscheidenden Vaters wird Rajka bis an ihr Lebensende beherzigen. Niemals wird sie wie ihr Vater Opfer der Gier anderer Menschen werden, niemals sich von anderen ausbeuten lassen. Welches »gefährliche Vermächtnis der Vater seiner Tochter« (S. 27) mit auf den Weg gibt, erfährt niemand. Mit ihren 15 Jahren und dem Lyzeumsabgangszeugnis der fünften Klasse in der Tasche wird Rajka erwachsen – und stürzt sich in ihr »neues Leben« (S. 27).

Umsonst bemühen sich ihre Verwandten, sie aufzuheitern, sie folgt fanatisch dem Rat ihres Vaters. Am meisten um sie besorgt und bemüht ist ihr Onkel Vlado, der jüngste Bruder ihrer Mutter, für den das Mädchen »mütterliche Zärtlichkeit« (S. 30) empfindet, obwohl er an »an Wahnsinn grenzender Verschwendungssucht« (S. 31) leidet: »Der liebste Mensch in ihrem Leben hatte in unnatürlichem Maße das Laster, das für sie schwerer als jede Sünde und schwärzer war als jeder Tod.« (S. 31) Als Vlado 23-jährig stirbt, bleibt sie umgeben von den väterlichen Geschäftspartnern ihres Vaters, die ihren Lebenskurs, äußerst sparsam zu leben, auch nicht zu ändern vermögen. Selbst das kurze Intermezzo mit dem gutaussehenden, jungen Mann Ratko, einem Hochstapler, der in ihr ähnliche Gefühle wie ihr verstorbener Onkel Vlado auslöst und durch den sie einen enormen finanziellen Verlust erleidet, rüttelt sie nicht wach. Am Grab ihres Vaters tut sie Buße: »Verzeih mir, dass ich nach so vielen Jahren und Anstrengungen derart verloren und hilflos bin, aber nicht ich bin meinem Gelöbnis untreu geworden, sondern die Welt hat mich verraten. […] In dieser Welt gibt es keinen Schutz und Schirm.« (S. 231) Ein »Knäuel Elend« (S. 232) ist sie – und wird just in diesem Augenblick von ihrer Mutter getröstet, einer Greisin, der Rajka nichts gegönnt und die seit 30 Jahren ohne jeden Anspruch und jede Forderung »neben ihr her gelebt« (S. 233) hat, eine Mutter, »voller Sehnsucht […] besonders nach einem warmen Wort und einem offenen Blick« (S. 233). Rajka überwindet die Krise und lebt ihr Leben nach ihrem Prinzip eisern weiter: »Ihr Leben verlief jetzt wieder ruhig, öde und grau für andere, für sie jedoch reich und erfüllt, ganz den kleinen Geschäften und der großen Sparsamkeit geweiht.« (S. 237) Die kurz aufgeflammte Nähe zwischen Mutter und Tochter bleibt folgenlos und führt zu keiner Läuterung. Im Gegenteil: Nach dem Tod der Mutter blüht die Tochter auf: »Nun erst begann Rajkas wahres Leben« (S. 241), sie beseitigt alles, was im Haus von Verschwendung zeugt – den Kater Gagan, ein »Vielfraß und Faulenzer.« (S. 241), die Bücher, Blumentöpfe, »diesen Luxus, den die alte Frau jahrelang zäh verteidigt hatte« (S. 241). Eine alte Uhr wird angehalten, um diese nicht mehr ölen zu müssen. Tischtücher, Samtdecken, alle »überflüssigen Kleinigkeiten« (S. 242) werden entfernt. »Frei und allein« (S. 242) ist Rajka endlich und richtet sich in ihrem »wahren Leben« (S. 241) ein: »Eigentlich war es kein Leben, sondern ein Sparen.« (S. 252)

»Andrićs Ehrgeiz war es, den großen Geizigen der Literatur eine mindestens ebenso unvergessliche Geizige zur Seite zu stellen. Das ist ihm eindrucksvoll gelungen« (S. 267), so Michael Martens, Südosteuropa-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Verfasser der 2019 erschienenen Andrić-Biografie Im Brand der Welten. In Andrićs »vieltausendseitigem Gesamtwerk« (S. 267) gebe es keine Figur, »die der Autor ausführlicher und gründlicher geschildert hat als Rajka Radaković, eine Sklavin der eigenen Raffgier« (S. 267).

Andrić leuchtet in diesem Roman mit seiner Hauptfigur das aus, was »tief unter der sichtbaren und lauten Oberfläche der Gesellschaft, die lebt, Geld ausgibt, genießt und verschwendet, existiert« (S. 63): das »unsichtbare, dünne, stählerne und feste Netz der Wucherei« (S. 63). In diesem Netz verfängt sich Rajka, gewährt Darlehen, nachdem die Kunden ihre »ganze Not und Pein« (S. 62) dargelegt haben, und kassiert Zinsen. Doch manchmal einem »unerklärlichen, aber sicheren Instinkt folgend« (S. 62), leiht sie den Bittstellern kein Geld – so geschehen mit einem sudentendeutschen Oberleutnant der Gendarmerie, in Sarajevos Nachtleben als »lustiger Geselle« (S. 66) bekannt, dem Rajka kein Geld leiht und der sich wegen seiner Schulden kurz darauf vergiftet. Einzelschicksale gehen am »Fräulein« vorbei, aber auch große historische Ereignisse wie der Erste Weltkrieg: »Die Welt hallte wider von mächtigen Massenbewegungen, von ersten kriegerischen Zusammenstößen, von Zeitungsnachrichten, die Schreien glichen, von unwahrscheinlichen Drohungen, die überraschend wahrgemacht wurden. Auch hier, mitten in Sarajevo, in ihrer Nähe, geschahen nie gesehene und erhörte Dinge.« (S. 111) Doch das Leben des »Fräuleins« dreht sich unerschütterlich ums Geld, »mit der schweren Zeit und der leidenden Stadt« (S. 120) hat sie nichts gemein: »Für das Fräulein war überhaupt alles, was hier und in der weiten Welt geschah, fremd, fern und unwirklich.« (S. 121)

Eine einsame Frau, für die in der Weltliteratur kaum ein Pendant zu finden ist, steht im Mittelpunkt des letzten Romans von Andrićs Bosnischer Trilogie, die er zwischen 1941 und 1944, während der deutschen Besatzung Belgrads, schrieb. Zwischen 1941 und 1942 war der Roman Wesire und Konsuln, zwischen 1942 und 1943 Die Brücke über die Drina entstanden und im Oktober 1944 schloss er Das Fräulein ab, das endlich durch die Übersetzung von Edmund Schneeweis und die Bearbeitung von Katharina Wolf-Grießhaber einem deutschen Publikum zugänglich ist. Mit diesen drei Romanen wurde Andrić nach 1945, unter der neuen kommunistischen Regierung, »auf einen Schlag zum bekanntesten Schriftsteller Jugoslawiens neben dem Kroaten Miroslav Krleža« (S. 258), so Michael Martens, der in seinem Nachwort eine Einordnung des Romans Das Fräulein vornimmt und gleichzeitig den autobiografischen Spuren desselbigen nachgeht – ein Beispiel: Wie die Romanfigur Rajka ist auch ihr Schöpfer nach dem Ersten Weltkrieg, 1919, von Sarajevo nach Belgrad umgezogen – allerdings aus einem anderen Grund: Andrić trat in den diplomatischen Dienst ein.

Mit seinem Fräulein ist Andrić im Geschehen seiner Zeit angekommen, nachdem er in seinen beiden anderen Romanen tief in die osmanisch-bosnische Vergangenheit seiner Heimatregion hineingestiegen war. In seiner Brücke hatte er Menschenschicksale über drei Jahrhunderte, beginnend mit dem 16. Jahrhundert in Višegrad, in den Wesiren das Menschentreiben im bosnischen Travnik in der napoleonischen Zeit verfolgt. Dass im Fräulein ein einziger Charakter fokussiert wird, wirft die Frage auf, ob der Autor sich in seiner Hauptfigur selbst charakterisiert haben könnte. Martens greift das Gerücht auf, »der Schöpfer der Rajka Radaković« (S. 260) sei möglicherweise selbst ein Geizkragen gewesen, und führt es ad absurdum. Martens deckt überzeugend auf, wie Andrić »seine Freigebigkeit nicht zu plakatieren« (S. 263) pflegte, und weist auf jene ausschlaggebende Geste hin, die in der Literatur kaum ihresgleichen hat: Als Andrić 1961 den Literaturnobelpreis bekam, hätte er sich in Jugoslawien »jeweils 330 Fernsehgeräte, 480 Waschmaschinen, 2.600 Rasierapparate, 13.800 Oberhemden, 706.000 Stück Seife oder mehr als eine halbe Million Eintrittskarten fürs Kino kaufen können« (S. 263) – doch er spendete die gesamte Nobelpreissumme für die Errichtung und den Ausbau von Bibliotheken in Bosnien-Herzegowina. Laut Martens spendete er auch spätere Preisgelder »für die Förderung des Bibliothekswesens der Heimat seiner Kindheit und Jugend«. (S. 264) Auch weitere »unbekannte Beispiele« (S. 264) für Andrićs Großzügigkeit liefert Martens: Nach dem Erdbeben im Juli 1963 in der mazedonischen Hauptstadt Skopje und zwei Jahre später, nach der Flutkatastrophe in der Vojvodina, spendete der Schriftsteller für den Wiederaufbau zerstörter Orte. Einem Jugendfreund ermöglichte Andrić einen von Ärzten empfohlenen Urlaub am Meer und seinen Schriftstellerkollegen Aleksandar Tišma sowie viele andere lud er in Novi Sad beziehungsweise Belgrad regelmäßig zum Essen ein.

Man kann schlussfolgern: Andrić vermochte seine Rajka und ihr Laster so authentisch darzustellen, weil er eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe und einen tiefen psychologischen Spürsinn hatte, doch vor allem, weil er ein genialer Erzähler und Sprachakrobat war – ein »Homer in Bosnien« (S. 267), wie der Literaturkritiker Werner Ross ihn nannte.

Ingeborg Szöllösi

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 249–252.