Das Erdbeben findet erst morgen statt
Kristiane Kondrat: Wer tanzt im Niemandsland (edition textfluss, Bd. 8). Ulm: danube books Verlag 2023. 211 S.
2017 wurde der 1938 in Reschitza im Banater Bergland (rum. Reşiţa) geborenen, seit 1973 in Deutschland lebenden Kristiane Kondrat der Spiegelungen-Publikumspreis für Lyrik zuerkannt. 2019 hat sie den Roman Abstufungen dreier Nuancen von Grau und 2021 den Erzählband Bild mit Sprung veröffentlicht. Wiederum zwei Jahre später legt die Augsburger Autorin einen hochwertig ausgestatteten Band vor, der ihre in den Jahren 2015 bis 2021 entstandenen Gedichte versammelt: Wer tanzt im Niemandsland. Ohne Fragezeichen.
Die Erläuterung des Buchtitels im Vorwort ist für das Verständnis der Gedichte äußerst hilfreich. »Niemandsland« kann bekanntlich vieles bedeuten, hier jedoch bezieht sich das Wort eindeutig auf das, was man irgendwann einmal »Migrationshintergrund« genannt hat – ein viel zu oft gebrauchtes Kompositum, das man eigentlich nicht mehr hören will. Für die Autorin und ihre Leserschaft ist die Feststellung wichtig, dass man diesen »Hintergrund« ein Leben lang nicht mehr loswird: »Wer weggeht, einen Ort verlässt, unterwegs ist, um an einem anderen Ort anzukommen, geht durch dieses Niemandsland, er muss es durchqueren, um anzukommen […] Wer durch ein Niemandsland gegangen ist, wird mit Vorsicht und mit Neugier den neuen Ort betreten, aus einer anderen Perspektive wird der Ankömmling seine neue Umwelt sehen: Das Niemandsland hat seine Sinne geschärft. Auch später ist das Niemandsland immer präsent, auch wenn der Reisende glaubt, es schon lange verlassen zu haben« (S. 8) Ob es um Aufbruch und Unterwegs-Sein geht, um Abschied und Ankommen, um Erinnerungen an und Rückblicke auf die Jahre davor, um lakonische, oft satirische Blicke auf die Gegenwart oder um andere Themen – alle Gedichte sind aus der Perspektive einer immer wieder neu Ankommenden geschrieben, aus dem Blickwinkel eines lyrischen Ichs, das ein Niemandsland durchquert hat. Dabei findet Kristiane Kondrat einen stets ganz eigenen Ton, der bisweilen das Surreale und Magische streift und sie von anderen »Niemandsland-Dichterinnen« wie Ilma Rakusa oder Ursula Haas prägnant unterscheidet.
Realismus, in welchem Verständnis auch immer, ist Kristiane Kondrats Sache eher nicht – verlässliche Kategorien wie Raum oder Zeit gibt es kaum: »Der Schaffner pfeift meinen Zug zurück / ich behalte aber die Schienen im Auge / es könnte sein, es war der Zug von gestern / Heute bin ich angekommen / aber woanders.« (S. 50) Die Unzuverlässigkeit, das Unsichere und Prekäre prägen ihre lyrische Welt viel mehr und intensiver als jede am Ende doch hohle Pseudo-Gewissheit: »SEHEN: Zwei parallele Linien / treffen sich am Horizont / WISSEN: Das ist unmöglich / EINSEHEN: Das Sehen allein ist noch nicht alles / NICHT WISSEN: / Ob es den / Horizont / tatsächlich / gibt.« (S. 130) Bei Kristiane Kondrat scheint das Normale darin zu bestehen, dass nichts (mehr) normal ist – das Gedicht Zeitweilige Störung, das durchaus zur zeitweiligen Verstörung der Lesenden führen kann, hält diese existenzielle Unsicherheit bündig fest (S. 172). Ob es da hilfreich ist, an den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu erinnern? »Dächte er an etwas / könnte man es ihm / nicht verdenken / Doch er hat einen / Zettel in der Hand / an dem er sich festhält / Da steht alles / was er zu sagen hat / und das / was er vergessen soll.« (S. 181) Selber denken? Kristiane Kondrats Gedichte mögen dazu ermutigen – Illusionen aber macht sie sich nicht. Viel eher würde sie wohl dem großen Göttinger Gelehrten Georg Christoph Lichtenberg zustimmen, der einmal über das Selber-Denken geschrieben hat: »Man spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?«.
Die verblüffende, insgesamt äußerst anregende Vielfalt der Themen lässt pauschale Charakterisierungen kaum zu. Da gibt es »Schweizer Impressionen« wie Das Matterhorn – »[…] blendend weiß so / richtig schönkalt / dass es mich wärmt / vor Übermut.« (S. 40) – und »Griechische Impressionen« wie Sparta, ein Gedicht, das seines lakonischen, für diese Poetin nicht untypischen Tons wegen vollständig zitiert sei: »Wanderer kommst du nach Sparta / du wirst nichts mehr finden / außer einigen Steinen / die auch keine Gewissheit geben / ob da oder einige Steinwürfe weiter / Nur die Erinnerung, dass da jene waren / die damals nicht wissen konnten / dass wir danach suchen werden.« (S. 43) Äußerst vielfältig sind auch die lyrischen Formen, was zu erhöhter Aufmerksamkeit der Lesenden beiträgt und Monotonie gar nicht erst aufkommen lässt. Wer würde hier zum Beispiel einen mit auffälligen Merkmalen der »Konkreten Poesie« spielenden Text wie Im alten Kino knisterte Abenteuer vermuten, der einen Filmriss zum Thema hat und sein Thema, ähnlich wie bei Eugen Gomringer oder Ernst Jandl, zugleich auch grafisch abbildet (S. 165)? Oder ein beeindruckendes Sonett wie Schlägt Uhrzeit zwölf, das so endet: »Schlag sieben kommt der Abend vom Himmel herunter, / und aus dem Keller kommen immer wieder Flaschen, / der Tag ist futsch, die Flaschengeister munter.« (S. 30) Die wohl eher erwartbaren, in der so genannten »Migrationsliteratur« nicht seltenen Themen finden sich in diesem Band nur vereinzelt, zum Beispiel das Gedicht Temeswar vor längerer Zeit, das so endet: »Sie küssen sich so k. u. k. barock / unter barocken Bögen / Der Polizist in der Innenstadt / zählt seine stiefelnen Schritte.« (S. 144) Erinnerungen an frühere Zeiten, »wenn der Zirkus / in unsere Stadt kam«, sind immer verbunden mit einer gewissen Wehmut und einem fast altersweisen Wissen um das Unwiederbringliche: »Den Clown gibt es nicht mehr / Auch Komiker sterben / Sie nehmen es / nicht so ernst.« (S. 159) Ja, womöglich findet das Erdbeben wirklich »erst morgen statt« (S. 13). – Hoffnung aber, durch irgendetwas begründete Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die sieht wohl anders aus und findet sich bei Kristiane Kondrat nicht.
Dass das letzte Kapitel »satirische Texte zu aktuellen Themen der Gesellschaft« enthält, wie die Autorin im Vorwort schreibt (S. 9), stimmt nicht ganz – da ist nicht nur Satire, da ist auch Entsetzen angesichts des jüngsten Zeitgeschehens, etwa in Krieg I: »Krallen wuchern aus dem Bauch / der Erde, aus vormenschlicher Zeit / aus dem Schlamm aus dem / Rachen aus irrer Tiefe / das Nimmermehr ist wieder da / zwei Häuser / weiter / ist Krieg.« (S. 183) Krieg II endet so: »Wer sagt, dass es / keinen Krieg mehr / gibt auf / friedlichen / Straßen.« (S. 185) Das wurde, wie alle Verse in diesem Buch, vor dem 24. Februar 2022 geschrieben – die Sorgen und Ängste vieler Menschen aber, die in den letzten Monaten nicht weniger geworden sind, finden, reflektiert und historisch unterfüttert, schon hier ihren lyrischen Niederschlag: »BIST DU / angeschnallt / kalt zieht es aus / dem Fenster schlag / das Visier herunter / zieh die Zugbrücke ein / es kommt jemand oder / es könnte noch jemand / kommen könnten alle / Gespenster kommen / die durch Europa / gegangen sind.« (S. 187) Satirisch wird man auch das letzte Gedicht dieses Buches, das den Titel Spätnachrichten trägt, nicht nennen wollen: »Das Wetter von morgen ist schon festgelegt / einige Diplomaten schütteln noch Hände / Der Krieg auf dem Bildschirm kann / mein Wohnzimmer nicht erschüttern / Die Grenzen aber verschieben sich / und ziehen langsam / durch meine Eingeweide.« (S. 208)
Wer sich überhaupt noch Zeit für Gedichte nimmt und keine Scheu vor thematischer wie stilistischer Vielfalt hat, wird in Wer tanzt im Niemandsland aufregende Entdeckungen machen. Nur selten wurde die Brüchigkeit des dünnen Eises unserer Gegenwart derart sprachschön gestaltet wie in diesem lyrischen Florilegium, das für unterschiedlichste Leserinnen und Leser ein zu ihnen passendes Gedicht bereithält. Oder, wahrscheinlicher, gleich mehrere. Kann sein, dass der Verlag, der im Klappentext von Kristiane Kondrats »opus magnum« spricht, nicht zu hoch gegriffen hat.
Klaus Hübner
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 255–257.