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Mircea Cărtărescu: Melancolia. Erzählungen | Besprechung

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Metaphern jagen, Bilder überschlagen sich

Mircea Cărtărescu: Melancolia. Erzählungen. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2022. 272 S.

 

Der Kreis schließt sich für den Autor Mircea Cărtărescu: In seinem jüngsten Prosaband Melancolia [Die Melancholie] knüpft er an seinen Debütband von 1989 Visul [Der Traum] an, der jedoch erst 1993 in unzensierter Fassung unter dem Titel Nostalgia [Die Nostalgie] veröffentlicht werden konnte. Damit hatte sich Cărtărescu endgültig der Prosa verschrieben, in seiner Poetik sollte er aber bis heute sehr lyrisch bleiben. Diese Hinwendung zum Epischen markiert auch einen Meilenstein in der rumänischen Literatur, denn hier formuliert ein Protagonist der Schriftstellergeneration der Optzeciști [Achtziger] seine programmatische Traumpoetik, die mehr über die einengende Realität der Diktatur zu erzählen wusste als realistische Literatur. Den Onirismus als theoretisch-literarisches Programm hatten bereits in der 1960er-Jahren der Dichter Leonid Dimov und der Prosaautor Dumitru Țepeneag ins Leben gerufen. Er gilt auch als Vorform des Textualismus, wie er von den Optzeciști praktiziert wurde. Aus dem Kreis dieser mehr als 50 Autoren zählenden Generation (unter ihnen Mircea Nedelciu, der früh verstorbene Anführer der literarischen Strömung, Gheorghe Crăciun, George Cușnarencu, Ioan Groșan, Bedros Horasangian, Cristian Teodorescu, Daniel Vighi, Viorel Mărineasa und andere) tritt Cărtărescu heute als Erfolgreichster hervor. Onirisches und parabolisches Schreiben sind zu dieser Zeit ästhetische Schreibmethoden, um literarische (und implizit gesellschaftskritische) Aussagen vorbei am politisch-ideologischen mitlesenden Auge zu formulieren.

In der Anlage ähnlich symmetrisch aufgebaut, als ein von Prolog und Epilog eingerahmtes Triptychon, erzählt auch dieser, 30 Jahre nach Nostalgia veröffentlichte Erzählband Melancolia die onirisch-allegorische Geschichte einer Kindheit und Jugend in einer grauen und von obskuren Mächten beherrschten Zeit. Die melancholische Traurigkeit, das Gefühl des Verlustes und der Sehnsucht, die im Titel suggeriert werden, beherrscht den Ton. Wie im Gefühl der Nostalgie ist auch hier der Hinweis auf etwas, was fehlt, auf das Abwesende, oder vielleicht nur auf die dunkle, versteckte Seite unserer menschlichen Existenz gegeben. Räumliche und zeitliche Bezüge werden ausgespart. Waren in Visul bzw. Nostalgia die Traumbilder und die allegorischen Bilder so chiffriert, dass sie als Gegendiskurs zur gesellschaftlichen Realität und Ausdruck des inneren Exils in einer Kultur fungieren, die während der Diktatur überleben möchte, so sind sie hier als universell gültige Diskurse wiederzufinden, die das melancholische Heranwachsen eines einsamen und intellektuellen Jungen umschreiben. Den drei Kernerzählungen entsprechen drei Altersstufen: Fünf, acht und fünfzehn Jahre alte Jungen sind Protagonisten. Zwei weitere Erzählungen rahmen als Prolog und Epilog ein.

Byzantinisch-orientalische Atmosphäre eröffnet den Band mit der Erzählung Der Tanz: Dolche, Wasserpfeifen, Fesen, Bauchgurte, Paläste, Perlmutt, Kristallkugeln, Siesta. Ein Ich-Erzähler befindet sich auf Reisen, in einem Archipel von Inseln, umgeben von smaragdgrünem Wasser. In diesem Wasser scheint sich die eigene Erzählung zu spiegeln, »eine mit der Nadel in den Augenwinkel geschriebene Geschichte. Im innersten Kern des Palastes befand sich der Ausgang, und dieser wurde von einem wutschnaubenden Hüter bewacht, an dem niemand vorbeikam.« (S. 7) Der erfahrene Leser weiß, an diesem Autor kommt man – wie an dem Wärter – nicht vorbei. Der Prolog ist auf der Metaebene der Fiktion programmatisch: Verschachtelungen finden sich in Makro- und Mikrostrukturen wieder: »Es folgten weitere und immer weitere Säle, aber bald schon verzichtete ich darauf, die geschlossenen Türen zu untersuchen …« (S. 9) Schließlich läuft der »Tanz ohne Anfang und Ende, und ohne Rand […]« (S. 16f.) auf ein Ziel hinaus, auf den »großen Ausgang [zu], dem einzigen aus unserer Welt«. (S. 16f.) Dieser Tanz ist keine freundliche, unterhaltende Betätigung, sondern ein Kampf, ein Kampf gegen sich selbst. Der kosmogonische Tanz kann als Identitätssuche des Menschen verstanden werden: eine Suche nach dem »Schicksal des Menschen auf Erden« (S. 19). Im Prolog wird die Selbstreferenzialität dieser Prosa deutlich: »Nun tanzte ich auf der einen wie auf der anderen Seite des Ausgangs, ich war das Portal, war der Wächter, war das Engelsrund, war der Palast, war das Meer. Hirn, Herz und Geschlecht […].« (S. 18) Das Ende der ersten Erzählung ist auf das kosmologische Dasein des Menschen gerichtet, das Mysterium der Existenz.

In der ersten Erzählung Die Stege spielt diese Brücke eine besondere Rolle – sie ist ein häufiges Motiv bei Cărtărescu –, als Transitort markiert sie einen immateriellen, räumlichen Übergang zwischen der grauen Realität des Fünfjährigen und seiner Phantasiewelt. Eine regenbogenartige Brücke erscheint eines Tages direkt vor dem Balkon des Plattenbaus, in dem der scheinbar verwaiste kleine Junge, umgeben von groteskem Spielzeug (Katze mit Menschengesicht) im kleinbürgerlichen Mief des Wohnzimmers (es »war kalt und verschwiegen«, S. 23), unter Ängsten um den Verlust der Mutter sein Dasein in Einsamkeit fristet. Der Bogen ist auch eine existentielle Metapher für das Leben, das sich zwischen Geburt und Tod aufspannt. Der Junge gleitet übergangslos in Fantasieräume, zunächst in eine Maschinenhalle, dann in ein Kaufhaus namens Concordia (der einzige Hinweis auf einen realen Ort). Er findet seine Eltern wieder, den Kautschukvater als Ausdruck der größtmöglichen Indifferenz und seelischen Kälte, die Schokoladenmutter dagegen stellvertretend für eine erstickend nahe Mutterliebe. Die Themen Cărtărescus tauchen immer wieder in neuen Wort- und Bildkombinationen auf. Die Atmosphäre der Erzählungen ist stets düster (»der schwarze Luftzug«, S. 23).

In Die Füchse leiden Marcel und seine Schwester Isabell unter Ängsten vor »einem unaufhörlichen Zerfall der Welt« (S. 85). Sie leben auch in einer Fantasiewelt, in der schließlich die Schwester einer geheimnisvollen Krankheit zum Opfer fällt. Das Motiv des Verlustes eines Zwillings, rekurrent beim Autor, ist Thema der Erzählung und reiht diese in den Diskurs um die Identitätssuche und in den Genderdiskurs ein.

In der dritten Geschichte Die Häute treten die kafkaesken Motive am deutlichsten zum Vorschein: Gleitende Geschlechteridentitäten und die Metamorphosen des Erwachsenwerdens werden in der Geschichte um die Häutungen des Fünfzehnjährigen thematisiert. Die Metaphorik ist drastisch: Die Jungen und Männer häuten sich in regelmäßigen Abständen. Die Häutungen stehen für die verborgenen Phasen des Coming of Age und sind eine Metapher für die Metamorphosen des Menschen auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Schließlich findet sich der Junge in diesem identitären Zwischenraum wieder: »herausgelöst aus der Knechtschaft der beiden Geschlechter« (S. 155). Die Frauen dagegen haben ihr eigenes Geheimnis, von dem der Protagonist schamerfüllt erfährt.

Die großen Metaphern können innerhalb der Cărtărescu-Poetik entschlüsselt werden: Häutungen für Metamorphosen, Tanz und Kampf für eine Identitätssuche, Fuchsbau für Angstgefühle. Wie so oft spielt das Zirkuläre, die formalen Symmetrien und Symbole wie Schmetterling, Zwilling, hybride Figuren, fantastische Szenerien eine wichtige Rolle. Formell und stilistisch gestaltet der Autor seine fiktionalen Texte sehr kontrolliert und konstruiert, überbordend in Symbolik und Bildern. Die Sprache Cărtărescus ist aus naturwissenschaftlichen Kompendien inspiriert, seine literarischen Vorbilder finden sich bei Kafka und Borges, bei Malern wie Breughel und Bosch.

Die parabelhaften Allegorien sind im Erzählfluss sehr dicht aneinandergereiht, was die Lektüre mühsam macht. Eine Metapher jagt die andere, die Bilder überschlagen sich und die Leser sehen sich mit einem dichten poetischen, zuweilen mystischen Prosastück konfrontiert, das vielen Interpretationen offen steht. Ein offenes Kunstwerk, wie es Umberto Eco formulierte, eine Postmoderne auf dem Reißbrett. Das vorliegende Buch soll sein bislang persönlichstes sein, in der onirischen Autofiktion sind die eigene Kindheit und Jugend erkennbar, so der Autor in einem Interview.

Das Buch schließt mit einem Gefängnis im Epilog. Das Gefängnis ist die ultimative Metapher der Unausweichlichkeit. Hier schließt sich der kosmogonische Kreis zu einem Gefängnis, dem Gefängnis des Lebens vielleicht? Was genau damit gemeint ist, bleibt offen. Jeder Leser mag seine eigene Interpretation auf diesen Text anwenden. In der parabelhaften Anlage, aber auch in der Polyvalenz der Bildhaftigkeit bleibt dieses Buch am offensten. Es ist allerdings auch das Problem der Ermüdung an Metaphern, der Richtungslosigkeit in der Sinngebung.

Melancolia setzt tatsächlich bei der Parabelstruktur des Frühwerks an, jedoch entbehrt es die einschränkende Wirklichkeit des vorhergehenden Werkes, in dem man nicht alles sagen darf, was man sagen will. Cărtărescu versucht sich in diesem Buch an philosophischen Konzepten abzuarbeiten. Die Existenz des Menschen in diesem geheimnisvollen Universum ist bei Cărtărescu ein postmodernes Märchen: »hoffe ich mir versöhnt sagen zu können: So hat es sein sollen« (S. 19).

Die akrobatisch und dicht geschriebene Prosa ist von Ernest Wichner übersetzt, der abermals ein sprachlich sperriges Werk in ein elegantes, flüssiges Deutsch zu übertragen weiß.

Ingrid Baltag

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 252–255.