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Alexandra Bleyer: 1848. Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution | Rezension

Alexandra Bleyer: 1848. Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution. Ditzingen: Reclam 2022. 336 S.

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Von Wolfgang Schlott

Wenn im Ergebnis einer gescheiterten bürgerlichen Revolution ihr dennoch ein gewisser Erfolg bescheinigt wird, dann ist nach den Argumenten für eine These zu suchen, die vor allem in der Geschichtswissenschaft über Jahrzehnte hinweg angezweifelt worden ist. Alexandra Bleyer, die in zwei Publikationen zur mythenbezogenen Geschichte von Volkskriegen und zum System Metternich die Vorgeschichte der Revolution von 1848 grundlegend untersucht hat, bedient sich in der vorliegenden Publikation eines Revolutionsbegriffs, der aufgrund seines multiperspektivischen Deutungsansatzes eine Fülle von Ereignissen im west- und zentraleuropäischen Raum einer komparatistischen Betrachtung unterzieht. Ausgehend von der These des Historikers Adam Zamoyski (vgl. Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit 1789–1848), der das Etikett einer Revolution von deren wirkungsvollen revolutionären Abläufen abhängig macht, verweist sie auf die unterschiedlichen Intentionen und Ziele, die sich in den Kämpfen gegen ein näher zu definierendes verkrustetes adliges Herrschaftsgebilde herauskristallisiert haben. Aus diesem Grund ist die Frage nach den Formen der Revolution, ihren unterschiedlichen Schauplätzen, nach Gemeinsamkeiten, ungeachtet der vielen regionalen Unterschiede, wie auch den Auslösern revolutionärer Handlungen, wie die Autorin betont, im Kontext der allgemeinen Krisensituation zu beantworten. Im Hinblick auf die angeblich gescheiterte 1848er-Revolution aber bediene sich die Geschichts- und Politikwissenschaft seit Mitte des 20. Jahrhunderts eines erweiterten Zielbegriffs: „Heute wird die Revolution als Teil eines unumkehrbaren und anhaltenden Modernisierungsprozesses gewürdigt“. (S. 9) Auf diesem holprigen Weg seien verkrustete Strukturen aufgebrochen worden, die sich nicht nur in einer Geschichte darstellen lassen, sondern die Grundlage „viele[r] subjektiv geprägte[r] Erzählungen“ sind. Deshalb seien ein und dieselben Ereignisse unterschiedlichen Bewertungen zu unterziehen, eine Erkenntnis, die sich in der Darstellungsweise der vorliegenden Publikation abbildet. Die revolutionären Abläufe werden nicht „chronologisch und flächendeckend nachgezeichnet“, sondern es sollen „mit Mut zur Lücke“ bestimmte Entwicklungsstränge und Episoden aufgezeigt werden, „um der Multiperspektivität der historischen Realität einigermaßen gerecht zu werden“. (S. 9)

Dieses besondere erkenntnisgewinnende Verfahren bildet sich in einer Reihe von formalen und darstellungsrelevanten Elementen der vorliegenden Publikation heraus. Sie ist aufgeteilt in zehn umfangreiche Kapitel mit schlaglichtartigen Überschriften, Anmerkungen zu wesentlichen Abhandlungen, einem Literaturverzeichnis, aufgeteilt in Quellen- und Literaturverzeichnis, einem Abbildungsverzeichnis und einem Register mit bedeutsamen Akteuren der revolutionären Schauplätze. Angereichert durch die zwanzig Schwarz-Weiß-Abbildungen (Karikaturen, Lithographien, Photographien, Zeitungsausschnitte wie auch Dokumente), verleihen sie dem Geschichtswerk auch einen anschaulichen Charakter, der leider aufgrund der fehlenden Quellennachweise für die in den Darstellungstext eingefügten Situationsschilderungen und Überblicksdarlegungen (grau unterlegt und eingerahmt!) ein wenig getrübt ist.

In den einleitenden vier kürzeren Kapiteln (vgl. S. 10–88) stellt Bleyer auf komparatistische Weise den komplexen Prozess der Vorbereitung auf die Revolution von 1848 dar. Unter den Leitlinien Vor dem Sturm, Europa in der Krise, Vulkanausbrüche, Pariser Funkenflug bescheinigt sie Europa unter der Fragestellung Völkerfrühling? einen vorrevolutionären Aufschwung, der eine Vielzahl von widersprüchlichen Ideen und Konzeptionen hervorbrachte. Während eine Leitidee wie Nation bei Polen, Italienern und Deutschen eine tragende Rolle spielte, war sie in Frankreich aufgrund des dort bereits geschaffenen Nationalstaats kein diskursiver Gegenstand. Ungeachtet dieser Tatsache erwies sich die französische Februarrevolution 1848 als wesentlicher Impulsgeber für gesellschaftliche Umwälzungsprozesse in Südosteuropa (Moldau, Bukowina, Walachei), die von zaristischen russischen Truppen unterdrückt wurden. Wie unterschiedlich gesellschaftliche Unruhen im Vormärz abliefen, zeigen die Reformen und liberalen Zugeständnisse, die solche konstitutionellen Monarchien wie die Niederlande, Belgien, Spanien, Griechenland unternahmen, um revolutionäre Impulse bereits im Vorfeld abzuschwächen.

Umso heftiger entwickelten sich der revolutionäre Aufschwung und die verlustreichen Barrikadenkämpfe zwischen europäischen Revolutionären, die nach Bleyer „kein internationales Bündnis zustande brachten“ (S. 89), und den Kräften der Gegenrevolution, die weitaus effizienter zusammengearbeitet hätten. Auf Grundlage dieser These, entwickelt in dem umfangreichen Zwischenkapitel Herrschaftszeiten, schildert Bleyer dort detailliert die umfassende, von Machtinteressen geleitete Zusammenarbeit der mitteleuropäischen Monarchien bei der militärischen Niederschlagung sowohl während der Februarrevolution als auch bei den anschließenden Bemühungen der deutschen Parlamentarier in der Frankfurter Paulskirche um ein deutsches Reichsgrundgesetz. Auffällig ist, dass die argumentative Vorgehensweise der Verfasserin sich je nach Kapitel unterscheidet. Während sie in den Herrschaftszeiten (S. 89–122) die Barrikadenkämpfe und machtpolitischen Überlegungen der Herrschenden im Frühjahr 1848 oftmals sprunghaft schildert, bemüht sie sich in Die Stunde der Parlamentarier (S. 123–162), den langwierigen parlamentarischen Prozess der Schaffung einer gesamtdeutschen Nationalverfassung in Frankfurt unter der Abwägung von konstitutionellen Anstrengungen und revolutionären Aktionen zu dokumentieren. Ihre Charakterisierung der führenden Revolutionäre (Hecker, Struve, Blum, Herwegh, Ruge und andere) zeichnet sich durch differenzierte Beurteilungen aus, in denen sie auch den emanzipatorischen Anteil ihrer Ehefrauen und Mitkämpferinnen würdigt. Weniger überzeugend sind die in die Schilderungen der parlamentarischen Auseinandersetzungen eingeschobenen Berichte über die kämpferischen Auseinandersetzungen in Ungarn, Italien und Dänemark. In diesen Passagen wünschte man sich eine übersichtliche Darstellung der revolutionären Ereignisse in der Habsburgermonarchie, wie auch zum Beispiel bei der Schilderung der einsetzenden Gegenrevolution (vgl. Abbildung S. 155: Windisch-Grätz lässt Prag bombardieren).

Dass die Revolution 1848 viele weitere Schauplätze hatte, erfährt der Leser im Kapitel Mit vereinten Kräften (S. 165–212). Es steht unter der Fragestellung: Welche Motive trieben Frauen und Männer zur aktiven Teilnahme an der Revolution? Die folgenden argumentativen Beschreibungen der Richtungskämpfe und der Bandbreite der Motive und Organisationsformen unterschiedlicher Akteure aus verschiedenen sozialen Schichten gehören zu den überzeugenden Passagen in dieser alternativen Revolutionsdarstellung. Dazu gehört auch die Schilderung des grassierenden Antisemitismus in der Mehrheitsbevölkerung, der von den herrschenden Schichten zur Durchsetzung ihrer Machtpolitik benutzt wurde.

Ein besonders hervorzuhebendes Teilkapitel ist auch der Abschnitt Im Verein (vgl. S. 190ff.), der den Forderungen der Angestellten, Arbeiter und Handwerker gewidmet ist. Die dort aufgelisteten Ansprüche breiter Volksschichten gehören zu den Highlights einer Publikation, die ihren anspruchsvollen Gegenstand mit unterschiedlicher Überzeugungskraft umsetzt. Umso anschaulicher und überzeugender sind deshalb die abschließenden Kapitel Triumph und Niederlage, aufgeteilt in „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ und Die zweite Welle, wie auch Revolutionsschauplatz Medien und Was vom Aufstand übrig blieb. In ihnen trägt Bleyer die entscheidenden militärischen Operationen der herrschenden Mächte gegen die republikanischen Revolutionäre zusammen. Dabei verwendet sie auch einige aussagekräftige Zitate, die leider nur teilweise belegt sind. Besonders aufschlussreich für die Bewertung der Revolution ist auch die dokumentarische Sichtweise der Medien, unter denen die Frauen-Zeitung (Luise Otto) auch den bedeutenden emanzipatorischen Anteil des „anderen Geschlechts“ an der Revolution von 1848 belegt.

Und was blieb vom Aufstand übrig? Nur Niederlagen, Tote, ins Exil geflüchtete Revolutionäre, inhaftierte Regimegegner, Deportierte, Verbote von Vereinen? Oder ein Wiederaufbruch in den 1850er- und 1860er-Jahren und eine Bilanz, die mehr als 150 Jahre danach überrascht? Ein Lehrstück in moderner demokratischer Politik wie in Frankreich? Oder „eine wichtige Durchgangsstation auf dem Weg in die Moderne“, eine „entscheidende Weichenstelle für die deutsche Geschichte“, wie die neuere Geschichtswissenschaft bestätigt (vgl. S. 313)? Es sind Feststellungen, die Alexandra Bleyer mit dem Verweis auf einen bedeutenden Akteur der 1848er-Revolution untermauert: „Es hätte […] keine Staatsrevolution […] gegeben, wenn jeder stets gedacht hätte: Du änderst doch nichts!“. (S. 314)

Eine spannende, umfassende historische und medienorientierte Darlegung der 1848er-Revolution, deren vergleichende Betrachtung, unterstützt durch zahlreiche Abbildungen und Zeugenaussagen, das epochale Geschehen einer vielschichtigen Beleuchtung unterzieht und die manche Anregungen für die Bewertung des 21. Jahrhunderts bietet.