Alexandru Dragomir: Chronos. Notizbücher über Zeit. (Orbis Phaenomenologicus Quellen, Neue Folge, Bd. 4.) Herausgegeben von Bogdan Mincă und Cătălin Partenie. Aus dem Rumänischen von Eveline Ciofec. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017. 342 S.
Von Mădălina Diaconu
Alexandru Dragomir (1916–2002) wurde zu einem Mythos der rumänischen Philosophie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Als frische Absolventin der Universität Bukarest hatte ich das Privileg, zu seinen Privatseminaren eingeladen zu werden, die eine komplett andere Art des Philosophierens versprachen. Die Treffen fanden in Dragomirs Wohnung statt, einer bescheidenen Garçonnière, in der Mitte ein großes Bett, die Wände mit alten Büchern tapeziert. In der Einladung – typisch für die Zeit unmittelbar nach der Wende – rangierte Dragomirs Biografie vor seinem Denken: Er wurde als ehemaliger Student Heideggers in Freiburg präsentiert; Heidegger habe ihn sogar am meisten unter den rumänischen Studenten geschätzt. Im Unterschied zu anderen ist er aber nach dem Ausbruch des Krieges nach Rumänien zurückgekehrt. Sein Vater – der namhafte siebenbürgische Historiker Silviu Dragomir – starb in den kommunistischen Gefängnissen, und auch gute Freunde, darunter Constantin Noica – eine weitere legendäre, wirkmächtige Gestalt in der rumänischen Kultur –, mussten wegen fadenscheiniger Anklagen mehrere Jahre ins Gefängnis. Alexandru Dragomir überlebte. Dafür aber zahlte er seinen Preis: Er hatte das traditionell von Ideologien instrumentalisierte Fach der Philosophie aufgegeben und fristete bis zu seiner Pensionierung ein Dasein ganz bewusst fern von aller Öffentlichkeit als anonymer Buchhalter. Nichtsdestoweniger hat er aber weiterhin privat Philosophie gelesen und darüber reflektiert; über hundert Hefte und Notizbücher mit seinen Aufzeichnungen legen davon ein beeindruckendes Zeugnis ab.
Auch nach der Wende schlug Alexandru Dragomir die Einladungen aus, öffentlich aufzutreten, und wollte auch nicht veröffentlichen. Seine Texte wurden gelegentlich von anderen vorgelesen und konnten erst posthum herausgegeben werden. Er war eine sokratische Gestalt par excellence, die einen scharfen Sinn für logische Unzulänglichkeiten hatte; seine gefürchtete Ironie (einschließlich Selbstironie) war wohl eher Selbstschutz. Die junge Generation von Philosophen in Rumänien nach 1989 suchte seine Kompromisslosigkeit im Versuch, nicht hinter anderen ostmitteleuropäischen Ländern zurückzufallen, deren Intellektuelle sich am antikommunistischen bzw. antisowjetischen Widerstand beteiligt hatten. Im Grunde genommen haben wir Alexandru Dragomir mehr gebraucht als er uns. Nach seinem Tod widmete ihm die Bukarester Zeitschrift Studia Phaenomenologica 2004 eine eigene Nummer, im Verlag Humanitas wurden seine Caiete [Hefte] in fünf Bänden herausgebracht, und 2009 hat sich ein privates philosophisches Forschungsinstitut in Bukarest nach ihm benannt. Inzwischen wurden ausgewählte Schriften Dragomirs ins Englische und Französische übersetzt und stießen auf reges Interesse in internationalen philosophischen Kreisen.
Chronos. Notizbücher über Zeit ist das erste Buch Alexandru Dragomirs, das dank der Initiative der Rumänischen Gesellschaft für Phänomenologie, deren erster Präsident Walter Biemel war, ein Jugendfreund Dragomirs, in der gelungenen Übertragung von Eveline Ciofec der deutschsprachigen Leserschaft das Denken Dragomirs skizziert. Die »Anmerkungen zur rumänischen Ausgabe« der Herausgeber Bogdan Mincă und Cătălin Partenie verorten den vorliegenden Band innerhalb der rumänischen Dragomir-Edition und bringen die für die deutschsprachige Ausgabe interessante Erklärung, dass ein erheblicher Teil des Bandes ursprünglich auf Deutsch verfasst worden war. Unter dem Titel Chronos haben die Herausgeber, beide Philosophieprofessoren an der Universität Bukarest, Aufzeichnungen des Autors zwischen 1948 und 2000 gesammelt, wobei das umfangsreichste Heft zwischen 1979 und 1990 verfasst wurde.
Aufgrund ihres unsystematischen und hoch spekulativen Charakters fällt es nicht leicht, ihren Inhalt geordnet zusammenzufassen. Dabei gibt die Synopsis Bogdan Mincăs (S. 17–23) eine hilfreiche Orientierung zur Lektüre. Wie schon der Buchtitel besagt, kreisen Dragomirs Reflektionen um das Wesen der Zeit und ihre Erfahrung, um die sich andere grundlegende Themen der Philosophie wie das Sein und das Nichts, das Ich und die Individualität, die Wahrheit und die Transzendenz ordnen. Die Begrifflichkeit und der Denkstil, vor allem in den ersten zwei Jahrzehnten, sind unverkennbar Heidegger verpflichtet, aber auch später nimmt der Verfasser Stellung zu Heidegger. Darüber hinaus erhält Dragomir Denkimpulse durch die gründliche Lektüre und Auseinandersetzung mit Heraklit und Parmenides, Platon und Aristoteles, Augustinus, Leibniz, Kant, Hegel, Husserl oder auch Bergson. Die geläufige Assoziation von Gegenwart und Sein stellte Dragomir vor die Frage nach dem Sein der Vergangenheit, die »nicht mehr« ist, und der Zukunft als »noch nichts«. In seiner eigenen Lebensgeschichte im bekannten politischen Kontext mit dem Gespenst der Vergangenheit und einer so genannten ungesunden Herkunft konfrontiert, sublimierte Dragomir das Dilemma seiner Existenz – wie lässt sich überleben, ohne Kompromisse zu machen – in der Frage nach der Art und Weise, wie die Vergangenheit zwar nicht mehr da ist, aber dennoch in der Gegenwart unauslöschliche Spuren hinterlässt. Zu den Grundschwierigkeiten, welche die Zeitfrage den Philosophen immer schon bereitet hat, gehört ebenso jene der gleichzeitigen Kontinuität und Diskontinuität, die Zeit als fließender, homogener Übergang und als gegliederte Struktur mit drei distinkten Zeiten: Vergangenheit, Präsens und Zukunft.
Dragomirs Reflektionen über die Zeit bilden ein »Denklaboratorium«, wie der Verfasser selbst eines seiner Notizbücher untertitelt hat, oder ein Thema mit Variationen, das jahrzehntelang geradezu obsessiv verfolgt wurde. Immer wieder merkte Dragomir kritisch an, wie die ursprüngliche Zeit »verdeckt« wird: durch die Erkenntnis, durch Projektionen, durch (vermeintliches) Wissen und Inhalte, mit denen die Zeit ausgefüllt wird. Eine Möglichkeit, die verschüttete Zeit freizulegen und sich zum Beispiel an das (Nicht-)Sein der Vergangenheit heranzutasten, wäre zu fragen, was alles ohne Vergangenheit noch übrigbliebe. Letztlich nicht viel, meint Dragomir: »Es gäbe keine Gräber, Friedhöfe […], Denkmäler, Gedenkfeiern, Jubiläen. Aber es gäbe auch keine ›Tradition‹, welcher Art auch immer, da auch die Tradition lebendige Vergangenheit ist. Es gäbe auch die Geschichte nicht«, ebenso wenig wie Sitten und Gewohnheiten (S. 126). Ohne Gedächtnis würde nicht einmal die Wissenschaft bestehen bleiben, »weil jedes Gewusste aus etwas Seiendem besteht, das ich fange und behalte gerade so, wie es ist« (ebd.), und letztlich würde sich die Wahrheit aufheben. Das beschäftigte zum Beispiel Dragomir am 28. April 1984. Viereinhalb Jahre später, im Alter von 72 Jahren, nahm er eine eigene Anmerkung aus seiner Jugend wieder auf und reflektierte darüber, was das Leben sei und wie es zu leben sei. Das Leben erschien ihm damals sowohl als eine gleichsam fremde Tatsache wie auch als eine höchst persönliche Angelegenheit, denn das Leben »geht [einerseits] von alleine weiter« (S. 181) und andererseits muss es gelebt werden, indem man sich zu seinem eigenen biologischen Leben verhält. Die Antwort Dragomirs auf die Frage, wie er selbst sein Leben gelebt hat und wie ernst er diese Frage genommen hat, findet sich allein in diesen philosophischen Tagebüchern, hoch verschlüsselt, aber durchaus lohnend für jene, die sich die Mühe machen, Dragomir auf seinem Weg durch die Zeit der Philosophie und der Geschichte zu begleiten.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 125–127.