Andrei Corbea-Hoișie, Steffen Höhne, Oxana Matiychuk, Markus Winkler (Hgg.): Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina. Stuttgart: J. B. Metzler 2023. 655 S.
Zurecht verwies Stefan Neuhaus auf die zentrale Rolle der Literaturgeschichten bei der Kanonisierung der AutorInnen.[1] Den Handbüchern kommt in diesem Prozess eine ähnliche und doch besondere Funktion zu, denn sie behandeln den Stoff nicht nur in systematischer, lexikalischer Form, sondern über das Fachpublikum hinaus auch für einen breiteren Kreis der Rezipienten.
Mit dem Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina legt das Herausgeberteam ein lang erwartetes Nachschlagewerk vor, das eine der geschichtsträchtigsten multikulturellen Grenzregionen Europas anhand seiner Literaturen präsentiert. Die Schwierigkeit dieser Darstellung ergibt sich aus einer besonderen multilingualen Prägung der Region und dem historisch gewachsenen „asymmetrischen Verhältnis zwischen Zugehörigkeit zu einem nationalen Kanon bzw. literarischen Feld und jener eigenartigen regionalen Konstellation“. (S. V) Angesichts der vielseitigen Verschränkungen im Leben und Werk der Autorinnen in der Bukowina trägt das Handbuch zum zweifachen Kanonisierungsprozess bei: Einerseits legt es einen ‚materialen Kanon‘ fest, in den Autoren und Texte aufgenommen werden, andererseits übernimmt es die Arbeit am ‚Deutungskanon‘, die als „Neuvermessung“ (S. VI) der Literaturen der Bukowina verstanden wird. Dabei setzt sich das Herausgeberteam das ambitionierte Ziel, die konventionelle komparatistische Perspektive, die den Unterschied fokussiert, zu überwinden und stattdessen die vielfältigen Formen der Transferprozesse zu akzentuieren.
Das 600 Seiten starke Handbuch besteht aus sechs Teilen, die ihrerseits in Kapitel unterteilt sind, in denen unterschiedliche Aspekte beleuchtet werden. Der erste Teil widmet sich der Literatur- und Forschungsgeschichte der Bukowina von dem späten Josephinismus über die rumänische und sowjetische Zeit bis in die Gegenwart. Darin wird deutlich, wie der politische Machtwechsel durch institutionelle Umstrukturierung an der Universität Czernowitz die Bildungsprogramme beeinflusste, um eigene Deutungshoheit im Bildungs- und Kulturbereich durchzusetzen. Besonders eindrücklich veranschaulicht dies Oxana Matiychuk für die sowjetische Zeit, in der die Abweichung von der offiziellen ideologisch geprägten Deutung nicht nur die Karriere, sondern auch das Leben kostete. Der kleinste zweite Teil mit drei Beiträgen widmet sich der Theorie und behandelt die Konzepte der Interkulturalität und des Raumes. Auch wenn Aspekte der Transkulturalität, Hybridität und Identität in verschiedenen Beiträgen immer wieder aufgegriffen werden, vermisst man in diesem Teil die konzeptionelle Berücksichtigung der Transnationalität, Identität sowie die dezidierte postkoloniale Perspektive.
Allgemeiner Kontext, so der Titel des dritten Teils, liefert in fünfzehn Kapiteln einen Überblick über die kulturhistorischen Entwicklungslinien und Zäsuren, Mehrsprachigkeit, die jüdische Kulturgeschichte, die Jiddische Sprachkonferenz von 1908, das Ethische Seminar, das Verlagswesen, die Kulturinstitutionen und Vereine sowie das Pressewesen. Gerade an den von den einzelnen Volksgruppen herausgegebenen Zeitungen und Zeitschriften lassen sich Separierungstendenzen nach nationalen Kriterien beobachten. Ähnliches konstatiert auch Mariana Hausleitner in Bezug auf Vereine, die auf der einen Seite das kulturelle und gesellschaftliche Leben der jeweiligen Ethnie gestalteten, auf der anderen aber zur Destabilisierung und Desintegration der Bukowina beitrugen. (vgl. S. 179) Die sehr differenzierte Behandlung der regionalen Presse veranschaulicht nicht nur ihre Diversifizierung, sondern beleuchtet, auf welchen durchaus kreativen Wegen Zeitungen und Zeitschriften versuchten, sich gegen die Konkurrenz zu behaupten und die Leserbindung zu erreichen.
Für die Darstellung der literaturgeschichtlichen Entwicklung (der vierte Teil) wird das Jahr 1918, das heißt die Annexion der Bukowina durch das Königreich Rumänien fokussiert. Die deutschsprachige, rumänische und ukrainische Literatur werden jeweils in zwei Beiträgen vorgestellt. Die Analyse der jiddischen Literatur übernahm Efrat Gal-Ed und der polnischen Renata Makarska. Den Beiträgen sind einleitende Überlegungen von Steffen Höhne vorangestellt, in denen die nationalliterarische Perspektive in der Darstellung der Literaturen mit „arbeitspraktischen Gründen“ (S. 217) und der Bindung der Literatur an die national-sprachlichen Kategorien erklärt, ja gerechtfertigt wird. Auch wenn die vielfältigen sprachlichen und literarischen Verflechtungen sowie wechselseitige Beeinflussungen und Inspiration in der Bukowina nicht von der Hand zu weisen sind, scheint die in diesem Band gewählte nationalliterarische Perspektive dem Gegenstand angemessen zu sein, denn es müssen drei Momente berücksichtigt werden. Erstens: In mehrsprachigen Regionen wird den einzelnen Sprachen ein unterschiedlicher gesellschaftlicher Stellenwert zugeschrieben. Wie Elmar Eggert und Benjamin Peter in ihrem Band Kultur(en) der regionalen Mehrsprachigkeit (2022) ausführen, hängt dieser Stellenwert vom gesellschaftlichen Druck beziehungsweise dem unterschiedlichen ökonomischen, symbolischen und kulturellen Kapital und der sozialen Ungleichheit der Sprachträger ab, wobei zumindest einer Sprache eine Vorrangstellung zukommt. Zweitens: Die Bukowina war eine umkämpfte Region, territoriale Teilungen und Grenzverschiebungen sowie die von den jeweiligen Machthabern durchgeführten Reformen verstärkten das Bewusstsein der Bewohner für ihre nationale und ethnische Zugehörigkeit, aber auch für den provinziellen Status. Als Vorbilder galten den Autoren nicht ihre Nachbarn, sondern die großen Namen der Literatur, in deren Sprache man selbst schrieb. Daher dominierte der Wunsch, an die jeweilige – österreichische, deutsche, rumänische, ukrainische – Nationalliteratur anzuschließen. Drittens: Unsere heutige (nicht selten) romantisierte Vorstellung von Transkulturalität und Transnationalität kann nur begrenzt auf die Literaturen in der Bukowina übertragen werden, denn ihre konsequente Anwendung würde den asymmetrischen beziehungsweise stark hierarchischen Charakter dieser Transferprozesse offenbaren. Die von Pascale Casanova analysierten Strukturen und Gesetze des monde littéraire zeigen insbesondere am Beispiel der Übersetzung als einer der Strategien der littérarisation auf, dass Transferprozesse das Zentrum und seine Produkte in der Peripherie popularisieren und dadurch den kleinen, vernachlässigten Sprachen ermöglichen, literarische Ressourcen zu sammeln, universelle Texte zu erwerben und die „unterentwickelte“ Literatur zu bereichern: „a way of diverting literary assets“[2]. Vermutlich hätten sich diese und andere Thesen Casanovas besonders eindrucksvoll bestätigen lassen, hätte man das Handbuch um einen Beitrag zu Übersetzungen und zur Übersetzungstätigkeit der Autorinnen der Bukowina ergänzt.
Der fünfte Teil enthält 32 Porträts repräsentativer Autorinnen und Autoren, wobei die deutschsprachige Literatur mit 14 AutorInnen die umfangreichste Vertretung erfährt, gefolgt von sieben ukrainischen und fünf rumänischen Autoren. Hinzu kommen noch vier auf Jiddisch und zwei auf Hebräisch schreibende Autoren. Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der auf Deutsch schreibenden AutorInnen jüdischer Herkunft war, wird deutlich, welche unterschiedliche Sprachidentität die Juden in der Bukowina aufwiesen. Sechs der 32 vorgestellten AutorInnen sind weiblich: Drei schrieben auf Deutsch – Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger und Ilana Shmueli – und drei auf Ukrainisch: Ol’ha Kobyljans’ka, Jevhenija Jarošyns’ka und Maria Matios. Den auf Russisch schreibenden Igor Pomerantsev, der seit 1978 im Ausland lebt, stellt Alexander Wöll in seinem Beitrag über die ukrainische Literatur der Bukowina nach 1918 kurz vor, aber insgesamt scheint die Thematisierung der sowjetischen Periode sehr allgemein gehalten zu sein. Dabei ließe sich an den ukrainischen AutorInnen, die Stalins Säuberungen entkommen sind, aufzeigen, wie Sowjets das geistige Leben selbst in der Provinz kontrollierten. Wer sich nicht rechtzeitig ins Exil rettete – wie Kornylo Lastivka und Orest Masykevyč –, wurde im Gulag umerzogen und dem sowjetischen System hörig gemacht (zum Beispiel Mykola Marfijevyč) oder sympathisierte von Anfang an mit dem Kommunismus wie etwa Paraska Ambrosij und Domka Botushanska.
Zentrale Themen und Motive in den Literaturen der Bukowina werden im sechsten, abschließenden Teil herausgearbeitet. Die ersten fünf Aufsätze dieser Sektion – von insgesamt zwölf – widmen sich den Eigen- und Fremdbildern, denn dadurch lassen sich sowohl die kulturelle Symbiose als auch Separierungsprozesse im Zuge zunehmender Nationalismen aufzeigen. Für die deutschsprachige Literatur der Bukowina konstatiert Hans-Joachim Hahn beispielsweise, dass „sowohl Apotheosen multikultureller Vielstimmigkeit“ als auch „sezierende Analysen nationalistischer, ressentimentgeladener Eigenbilder“ (S. 514) evoziert werden. Iulia Dondorici betont als eine Besonderheit die literarischen Konstruktionen des Bukowiner Juden als Hirte in der rumänischen Literatur, während Kati Brunner die habsburgische Bukowina als positives Gegenmodell zur sowjetischen Gewaltherrschaft und die Schrecken des Ersten Weltkriegs als Trauma im ukrainischen Nationaldiskurs (vgl. S. 533) analysiert. Die Naturbilder und Landschaftsdarstellungen scheinen der gemeinsame Nenner in den Werken aller Literaturen der Bukowina zu sein, ebenfalls Czernowitz als Kulturmetropole der Bukowina. Besonders aufschlussreich in diesem Teil ist der Beitrag von Petro Rychlo, der verschiedenen Formen der Rezeption der deutschen Klassiker – Goethe, Schiller, Heine, Hölderlin, Rilke, Kafka – im Werk deutschsprachiger AutorInnen analysiert.
Eine Liste mit Lebensdaten ausgewählter Autorinnen und Autoren der Bukowina sowie ein Personen- und Ortsregister am Ende des Bandes ermöglichen eine schnelle Orientierung. Für die Beiträge des Handbuchs ist es dem Herausgeberteam gelungen, international ausgewiesene Forscherinnen und Forscher zu gewinnen. Auch wenn Rumänisten und Ukrainisten sich die Berücksichtigung weiterer AutorInnen ihrer Sprache wünschten, darf nicht vergessen werden, dass dieses Handbuch den deutschsprachigen Rezipientenkreis als Zielgruppe adressiert. Nichtsdestotrotz weckt die Vielzahl der Namen rumänischer, ukrainischer und jiddischer AutorInnen Interesse und so lässt sich aus möglichst vielen Puzzleteilen das Bild von den Literaturen der Bukowina zusammensetzen. Das Handbuch ist ein Meilenstein in der Erforschung dieser Literaturen und wird sicherlich dazu beitragen, dass die Bukowina zum Gegenstand weiterer literatur-, kultur- und geschichtswissenschaftlicher Studien wird.
Natalia Blum-Barth
[1]Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons. Göttingen 2002, S. 16.
[2] Pascale Casanova: The World Republic of Letters. Cambridge 2004, S. 134.