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„… denn alles ist Dichtung“. Prof. Dr. Anton Sterbling zum Siebzigsten

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Von Hellmut Seiler

Es gibt Zeitgenossen, für die die Zeit stillzustehen scheint. Nicht etwa, weil sie ihre Zeichen nicht erkannt hätten oder sie spurlos an ihnen vorbeigegangen wäre, sondern weil sie uhrwerkgleich ihre vielfältigen Aufgaben erfüllen: scheinbar unermüdlich und mühelos. Als ein solcher Zeitgenosse will mir Anton Sterbling erscheinen, dem keine von den eher wachsenden Selbstverpflichtungen zu viel ist – sonst ginge er sie ja nicht ein.

Persönlich kennengelernt habe ich ihn spät, im Oktober 2018, im Literaten-Café Hermann Kesten in Nürnberg, mich dort vorzustellen, hatte ich ihn gebeten, weil er seit Kurzem in der Nähe wohnte und ich neugierig war auf ihn und seine Worte. Er hatte, ohne zu zögern, zugesagt. Dabei wusste ich nur etwas von Soziologieprofessor und Polizeihochschule, was ihn betraf; außer – natürlich – Fetzen seiner Vergangenheit: Widerständler vormals, in jungen Jahren, Literat, mir bekannt aus der Neuen Literatur, Stichwort Aktionsgruppe Banat. Seine ehemalige Deutschlehrerin in Großsanktnikolaus (rum. Sânnicolau Mare, ung. Nagyszentmiklós), Dorothea Götz, war an die Germanistik-Fakultät in Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben) berufen worden – leider kurz bevor ich 1976 von dort abging, ich hätte sie als Lehrkraft gern erlebt.

Mittlerweile weiß ich, was Anton Sterbling betrifft, es zwar nicht besser, aber genauer, und weiß zudem ein paar Einzelheiten mehr (siehe auch das Interview, das Stefan Sienerth mit ihm geführt hat, nachzulesen im Band „Immer die Angst im Nacken, meine Erinnerung könnte versagen“, Regensburg 2015): 1975 in die Bundesrepublik ausgesiedelt, verlief seine akademische Laufbahn an der Universität in Hamburg (ab 1982), ja sein Leben seit Ende der 1980er-Jahre „weitgehend fremdbestimmt“, wie er selber sagt, „im Takt der Forschungs‑,Vortrags- und Publikationsaufträge“, die ihn ständig in großer Zahl erreichten. Was sicherlich wesentlich damit zu tun hatte, dass er so gut wie nichts abgelehnt hat. Herausgekommen sind dabei über 40 eigene beziehungsweise von ihm herausgegebene Bücher, weit mehr als 300 wissenschaftliche Veröffentlichungen, über 225 Vorträge und um die 20 Forschungsberichte.

Wer nun aber glaubt, die Soziologie hätte ihn von der Beschäftigung mit Literatur abgebracht, er wäre ihr untreu geworden, als Abtrünniger sozusagen – weit gefehlt!

Ich finde, dass er sie 1. als persönliches Hauptaugenmerk nie aus dem Blickfeld verloren hat und 2. gerade Sachlichkeit und ein wissenschaftlicher Ansatz, zumindest zeitweilig, vonnöten, ja unverzichtbar sind, um sich und den Betroffenen einen klaren Überblick zu verschaffen – über eine Landschaft, die oft genug bestimmt wird von Idiosynkrasien und Animositäten. Auffallend ist bei all seinen Ergebnissen von erstaunlicher gattungstypologischer Vielfalt das hohe Maß an Reflektiertheit, die bei ihm Sprachreflexion einschließt.

Zeitsprung zum Oktober 2018: Im Nürnberger Zeitungs-Café Hermann Kesten stellte er mich vor, in einem Essay von geradezu epischer Ausführlichkeit unter Bezugnahme auf die Umstände des Zustandekommens meiner literarischen Anfänge; wobei es ihm auch darum ging herauszustreichen, dass sowohl der Erfahrungshintergrund als auch der zweiflerische Ansatz für unsere kritische Schriftstellergeneration ein kollektiver war, woraus sich unwillkürlich Gemeinsamkeiten ergaben; gemeinsame Leseerfahrungen und persönliche Freundschaften unter uns taten ein Übriges dafür (nachlesbar sind diese Ausführungen übrigens in seinen Autorenporträts Über deutsche Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle aus Rumänien, die 2019 im Pop-Verlag erschienen sind).

Als verlässlich unsteter und streitbarer Geist hat er auch, nachdem seine Lehr- und Forschungstätigkeit zu Ende ging, weiterhin seine Antworten gesucht in einer Antwortlosen Gesellschaft oder Am Rande Mitteleuropas (beide Bände veröffentlicht im Shaker- Verlag). Es sind darin Standpunkte vertreten, die – weitab von modischem mainstream und denkfauler political correctness – sich der Verteidigung tatsächlicher Meinungsfreiheit als Grundpfeiler gesellschaftlicher Freiheit verschrieben haben. Und richtiggehend „losgelegt“ hat der von Aufträgen weitgehend Befreite belletristisch, in schöner Regelmäßigkeit (mindestens ein Band pro Jahr: Prosa, die urkomisch und ironisch angelegt ist, stimmungsvolle Kurzgeschichten, ein Gedichtband, der die Wirklichkeit lyrisch per Kopfstand wieder auf die Beine stellt). Hervorheben möchte ich Die serbische Katze, die auf vergnügliche Weise eine augenzwinkernde Satire auf die sich ach! so wichtig nehmenden Literaten darstellt. Eine besonders bittere Bilanz ergibt sich aus den Securitateakten – oder das wahre Leben in den falschen Berichten, so der Titel eines seiner Prosastücke. Und aufzählen ließen sich hier so manche weitere Galgenstücke, die allesamt eine unerwartet lockere, ja polternde Artikulationsform dieses so um Ausgleich und Sachlichkeit Ringenden zum Ausdruck bringen.

Anton Sterblings und meine Tätigkeitsbereiche – ob im Zusammenhang mit dem Exil-PEN, in dem er vor anderthalb Jahren Mitglied geworden ist, oder, noch vorher, mit dem Rolf-Bossert-Gedächtnispreis, dessen Jury er 2021 vorstand und dabei eine beispielhafte Regsamkeit entfaltete – haben sich etliche Male überschnitten. Jedes einzelne Mal konnte ich mich dabei auf seine nüchterne, doch nicht leidenschaftslose Gründlichkeit und fast beängstigende Pünktlichkeit und Akribie verlassen. Zwischenzeitlich hat er – nebst den familiären Verpflichtungen, die er, wie denn anders als verlässlich, erfüllt – hauptsächlich das getan, was er am besten kann: schreiben. Zeitfragen harrten einer Antwort, der seinen; wenn auch die Aussicht auf Die versunkene Republik einem den Elan zu rauben drohte; aus dem Ende einer Pandemie ergibt sich trotzdem nicht unabwendbar ein Klimadelirium; und was als Lösung allemal übrigbleibt, ist die Entrückung in den Kopfstand.

Und während Anton weiterhin seinen Strauß gegen die Vergeblichkeit flicht, flechte ich ihm meinen, farbenfrohen, aus lauter frommen Wünschen: für Unverzagtheit und Freude am täglichen Ärger!

 

Hellmut Seiler veröffentlichte erste Gedichte 1972 in Neue Literatur. 1984 erhielt er den Adam-Müller-Guttenbrunn-Preis. Von 1985 bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland 1988 hatte er Berufs- und Publikationsverbot. Seither hat er 16 Bände Lyrik, Aphorismen (bei ihm heißen sie „Gnomen“), Aufsätze, Kurzprosa, Satiren, Übersetzungen veröffentlicht.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 221–222.