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Marie-Madeleine de Cevins: Démystifier l’Europe centrale | Rezension

Marie-Madeleine de Cevins (Hg.): Démystifier l’Europe centrale. Bohème, Hongrie, Pologne du VIIe au XVIe siècle. Paris: Passés composés 2021. 994 S.

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Von Tobias Weger

 

Rückläufige Französisch-Kenntnisse unter deutschen Akademikern haben leider dazu geführt, dass französischsprachige Publikationen hierzulande nur noch eingeschränkt rezipiert werden. Gerade die französische Wissenschaft besitzt jedoch eine lange Tradition der Befassung mit Zentral- und Südosteuropa, die sich teils aus historisch-geopolitischen Interessen Frankreichs in diesem Raum herleiten lässt. Teils rührt sie aber auch sicherlich von jenem historiografischen Faszinosum her, dass viele geschichtliche Entwicklungen Zentraleuropas sich von denen Frankreichs grundlegend unterscheiden. Zugleich hat die französische Historiografie bereits sehr frühzeitig durch die sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Annales-Schule neue Zugänge und eine Methodenreflexion hinsichtlich der Befassung mit dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit entwickelt, die auf zahlreiche andere Nationalhistoriografien inspirierend gewirkt hat.

Die an der Universität Rennes lehrende Historikerin Marie-Madeleine de Cevins hat sich international einen Namen als Expertin für die mittelalterliche Geschichte Ungarns und seiner Nachbarländer gemacht. Ihre Forschungsfelder umfassen die Kirchen- und die Gesellschaftsgeschichte des pannonischen Raums ebenso wie Aspekte der Bildungs- und der Herrschaftsgeschichte. In einer Kooperation mit Fachkolleginnen und -kollegen aus ganz Europa hat sie ein groß angelegtes Kompendium für die Geschichte Zentraleuropas vom 7. bis 16. Jahrhundert realisiert. Sie tritt mit dem aufklärerischen Anspruch an, den „Versuchen einer Instrumentalisierung der Geschichte“ entgegenzutreten (S. 15) und bei der Betrachtung ihrer historischen Gegenstände die durch ausgesuchte Prismen bestimmten Sichtweisen späterer Jahrhunderte zu reflektieren.

Das Werk gliedert sich in zwei Hauptbereiche: Das erste Viertel umfasst neun originelle und gut lesbar geschriebene Überblicksdarstellungen. Nora Berend (Cambridge) widmet sich der komplexen Begriffsgeschichte „Zentraleuropas“ und seiner nomenklatorischen Variationen in unterschiedlichen Sprachen und den damit implizierten Raumvorstellungen (S. 17–38). Die Herausgeberin selbst vertieft sodann 15 historische Schlaglichter (S. 39–66) – vom Bruch des slawischen Herrschers Samo mit dem Merowingerkönig Dagobert (631) über die Anerkennung der mährischen Kirchenorganisation durch Papst Johannes VIII. (880), die Reisen des arabisch-jüdischen Gelehrten Ibrahim Ibn-Ya’qub (um 965), den Akt von Gnesen (1000), den Aufbruch der Kreuzfahrer (1096), die Niederlassung der Zisterzienser in Zentraleuropa (1142), die Verlobung des späteren Königs Béla III. mit der byzantinischen Prinzessin Maria (1163), die Gründung der Stadt Danzig (pl. Gdańsk) (1227), die Einfälle der Mongolen (1241–1242), die Positionierung des Olmützer Bischofs Bruno von Schauenburg (1273), die Zusammenfassung der drei zentraleuropäischen Königreiche durch Wenzel III. von Böhmen (1305), die Institutionalisierung der Prager Karlsuniversität (1366), die Hussitenschlacht bei Taus (tsch. Domažlice) (1431) und die Schaffung des Krakauer Marienaltars durch Veit Stoss (1489) bis zur Einnahme von Ofen (ung. Buda) durch Sultan Süleyman den Prächtigen (1541). Das Autorentrio David Kalhous (Brünn/Brno), István Tringli (Budapest) und Przemysław Wiszewski (Breslau/Wrocław) führt durch das Dickicht und die Fallstricke zentraleuropäischer Historiografien (S. 40–94). Die Entstehung einer zentraleuropäischen Staatenordnung im Mittelalter wird durch Robert Antonín (Mährisch-Ostrau/Ostrava) und Przemysław Wiszewski skizziert (S. 95–124). Wie legitimierten sich königliche Herrschaft und später die der Stände? Auf welchen Symbolen und Praktiken beruhte Herrschaft im Mittelalter in Zentraleuropa? Robert Antonín, Enikő Csukovits (Budapest) und Przemysław Wiszewski führen in diese grundlegenden Fragen ein (S. 125–153). Adel, Stadtbürger und Bauern, aber auch die Auswirkungen der deutschen Siedlung im östlichen Europa thematisiert Piotr Górecki (University of California, S. 154–182). Mit dem religiösen und konfessionellen Pluralismus macht Beatrix Fülöpp-Romhanyi (Budapest) vertraut und behandelt die unterschiedlichen Tendenzen innerhalb des Christentums ebenso wie im Judentum und im Islam (S. 183–204). Anna Adamska (Utrecht) steuert eine kulturhistorische Betrachtung zu Interferenzen bei, von den zivilisatorischen Auswirkungen der Christianisierung über die der „deutschen Ostsiedlung“, vom Kulturtransfer und von kulturellen Netzwerken bis hin zur Bedeutung von Schrift- und Sprachkultur(en) (S. 205–227). Pierre Monnet (Paris) schließlich verordnet das mittelalterliche und frühneuzeitliche Zentraleuropa in globalen diplomatischen, machtpolitischen und kulturellen Entwicklungen (S. 229–251).

Der noch umfangreichere zweite Abschnitt des Bandes besteht aus einem alphabetisch gegliederten „Dictionnaire historique“. Von A wie „Académie istropolitaine“ – der von König Matthias Corvinus 1467 in Pressburg (sk. Bratislava, ung. Pozsony) gegründeten Academia Istropolitana – bis Z wie „Znjomo“ (Znaim) ist hier von einem internationalen Team umfassendes enzyklopädisches Wissen nach dem neuesten Forschungsstand zusammengetragen worden. Die hier zu findenden Lemmata umfassen Orte, Völker, Institutionen, Bewegungen, herausragende Persönlichkeiten, Strukturen und Konzepte. Sie geben in Kurzform Hinweise auf weiterführende Literatur, die in einer umfangreichen mehrsprachigen Bibliografie am Ende des Buches zusammengefasst worden ist. Zahlreiche Lemmata besitzen einen unmittelbaren Bezug zur deutschen Kultur und Geschichte in den Königreichen Böhmen, Ungarn und Polen. Das hier besprochene Buch bildet ein Grundlagenwerk, das in keiner einschlägigen Fachbibliothek fehlen sollte. Mit Eduard Mühle und Thomas Wünsch sind übrigens auch zwei wichtige deutsche Mittelalterforscher mit ostmitteleuropäischem Fokus unter den Autoren vertreten. Gute Farbabbildungen, historische Landkarten und genealogische Übersichten der wichtigsten Dynastien veranschaulichen die vermittelten Informationen. Eine mehrsprachige Ortsnamenkonkordanz erleichtert die Orientierung in der komplexen Toponymie des östlichen Europa.

Selbstverständlich kann die beste Überblicksdarstellung und umfassende lexikalische Erfassung keine fundierten Studien zu Einzelaspekten ersetzen. Wer aber einen raschen Zugriff auf wissenschaftsbasierte Informationen zum Mittelalter und zur beginnenden Frühen Neuzeit in der Mitte Europas sucht, findet mit dem von Marie-Madeleine de Cevins herausgegebenen Werk eine verlässliche Ausgangsbasis.

Eines verdeutlicht die Lektüre der einzelnen Artikel und Einträge: Die heute im Zeitalter der Europäisierung politischer Prozesse und Entscheidungen so gerne beschworene Einheit Europas ist in dem geografischen Bereich, den dieses Werk abdeckt, nicht erst ein Produkt der neueren und neuesten Geschichte. Nicht erst die gemeinsame Erfahrung der Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder die imperiale Herrschaft der Habsburgermonarchie ab 1525/26 haben kulturelle Übereinstimmungen in diesem Teil Europas geschaffen. Seine strukturellen Grundlagen sind das Resultat politischer, kultureller und sozialer Prozesse und Wechselwirkungen im Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit. Lange vor den Habsburgern haben bereits Přemysliden, Piasten, Arpaden, Luxemburger, Angevinen, Hunyaden und Jagiellonen in ihren Machtbereichen prägend gewirkt. Gesellschaftliche Experimente wie der mittelalterliche Landesausbau, der Hussitismus im 15. und die diversen Ausprägungen der Reformation im 16. Jahrhundert haben Zentraleuropa zu einem Experimentierfeld und Ausgangspunkt kultureller und sozialer Erneuerungen gemacht. Das hier besprochene Werk ruft diese Umstände einmal mehr ins Bewusstsein. In seiner Multiperspektivität regt es zur Reflexion an und löst damit das im Titel gegebene Versprechen, die zentraleuropäische Geschichte vom 7. bis zum 16. Jahrhundert zu „entmystifizieren“, durchaus ein.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 101–103.