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Hanna Zehschnetzler: Dimensionen der Heimat | Rezension

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Hanna Zehschnetzler: Dimensionen der Heimat bei Herta Müller. Berlin, Boston: Walter de Gruyter GmbH 2021. 280 S.

Von Georg Aescht

Eine Buchbesprechung über eine Besprechung von Büchern, das ist nicht einmal Sekundär-, das ist nachgerade Tertiärliteratur. So geraten denn Literaten (der Reim trifft sich gut) und Literaturbemühte abseits der Wirklichkeit in einen Teufelskreis des Selbstbezugs, aber auch dieser Teufel hat sein Gutes. Gut ist, dass – wenngleich oft durcheinander und übereinander – auch miteinander geredet und so die manchmal entrückte Sagweise der Literatur auf gemeines Verständnis heruntergebrochen wird. Hier hat sich eine Literatin der Beschwernisse im Denken und Sprechen angenommen, die eine große andere sich auferlegt, und man darf sich als Dritter darüber freuen, dass selbst Herta Müller dabei auch über sich noch manches lernen kann, ganz zu schweigen von – hoffentlich vielen – Dritten.

Wer von wem lernt oder lernen mag, ist nicht ausgemacht, dennoch kann man an der Bibliografie dieser germanistischen Dissertation leicht ersehen, dass es eine Wahlverwandtschaft gibt zwischen der nunmehr berühmten Schriftstellerin Herta Müller und (jungen) Germanistinnen. Ihnen darf man nicht unterstellen, dass sie an irgendeiner Berühmtheit teilhaben wollen, vielmehr kann man ihnen schlicht glauben, dass es ihnen um die Teilhabe an der Intelligenz, Sensibilität und Gestaltungskraft der Autorin zu tun ist. Dieses Buch ist der gedruckte Beweis, dass das zu leisten ist, und die Leistung macht Freude und gebietet Bewunderung. Von Hanna Zehschnetzler kann man lesen lernen, nicht nur Texte von Herta Müller.

Nun ist der Betrieb Literatur heutzutage so beschaffen, dass man von Literaturbetrieb platterdings kaum mehr reden kann, zumindest nicht von einem „normalen“. Es ist nicht mehr nur ein Schreiben und Schreibenlassen, Lesen und Gelesenwerden, sondern ein Treiben und Getriebenwerden, und eine deutsche Nobelpreisträgerin aus Rumänien kann – wiewohl sie es wahrscheinlich nicht möchte – ein Lied davon singen. Deshalb ist auch diese fundierte Arbeit eine Melange aus Textdeutung und Dokumentation der zahlreichen außerliterarischen Selbstaussagen einer öffentlichen Person, zu der eine Schriftstellerin heutzutage gemacht wird.

Eine Herta Müller bringt man beileibe nicht mit dem – im Verhältnis zu ihrer stilistischen Selbstdisziplin – urtümlich anmutenden Wort im Titel dieser Arbeit in Verbindung. „Ich mag das Wort ‚Heimat‘ nicht“, dieser schlichte Satz der Schriftstellerin flattert dem Buch denn auch als Motto voran. Doch es ist ein bewährter Trick bewährter Schriftsteller, nicht zu benennen, worüber sie schreiben, also kann Hanna Zehschnetzler mit Fug und Recht in der Gesamtschau über das Müllersche Werk feststellen: „[…] aufgrund ihrer sprachkritischen Haltung ist die ‚Heimat‘ zwar begrifflich selten zu finden, aber dennoch motivisch und strukturell präsent“ (S. 73f.). Um dann den Motiven und Strukturen so trittsicher nachzugehen, dass man ihr vertrauensvoll folgt.

Es ist ein Gang über ein „weites Feld“, denn Herta Müllers Sicht der Dinge und die Eigentümlichkeit ihrer Darstellung ist stets eine Herausforderung, die anzunehmen bedeutet: Man kann nicht alles nachvollziehen, aber verstehen, begreifen, ja greifen kann man umso mehr. Zuvörderst begreift man, dass jeder Satz dieser Erzählerin eine Absage ist – an jegliche Beliebigkeit. Ihr ist es, unliterarisch gesprochen, stets bitterernst, und an den stärksten Stellen ist ihre Literatur in der Tat unliterarisch im besten Sinn. Hier schreibt eine nicht, um zu leben, sondern um nicht zu sterben.

Derlei enthusiasmierten Befindlichkeiten mag man sich besinnungslos hingeben, aber Sache germanistischer Urteilskraft ist das gerade nicht, und in diesem Buch wird systematisch vorexerziert, dass wohlfeile Begeisterung einer solchen Schriftstellerin nicht im Entferntesten gerecht wird. Schließlich macht sie vor, dass man es sich nicht einfach machen soll, denn nie sind die Hintergründe zur Genüge bedacht: „Auch wenn sie der ‚Heimat‘ unter den Voraussetzungen von Vertrauen und Identifikation, Sicherheit und Frieden eine gewisse (individuelle) Berechtigung einräumt, steht der Begriff bei Müller in enger Nähe zu dem ihr Werk ‚beherrschenden‘ Themenfeld der Diktatur.“ (S. 3). Und Diktatur schließt jegliche Illusion von Zugehörigkeit oder Geborgenheit, vulgo „Heimat“, ein für allemal aus.

Doch gerade Unzugehörigkeit hat Herta Müller immer erlebt und gelebt, schon von Kindheit an im Dorf, jenem kulturellen „Residualraum, in dem die provinzielle, archaische Lebensform trotz geschichtlicher Veränderungen der Lebensbedingungen über einen langen Zeitraum konstant aufrechterhalten wird und stets von anderen Kulturen differenziert und abgegrenzt wird […]“. (S. 118) So etwas wie Heimatqualität bietet ein solcher Raum nicht, und so wurde ihre Schreibkunst zwingend zum Zeugnis der Fremdheit und zu deren scharfsinniger Reflexion. „Besonders im Hinblick auf den isolierten Minderheitenstatus innerhalb der rumänischen Kultur werden die Veränderungen der Lebensbedingungen als bedrohlich wahrgenommen und durch die Hinwendung zur ‚Heimat‘ vermeintlich kompensiert, was Müller […] als Trugschluss entlarvt und stattdessen den kulturellen und moralischen Verfall des Dorfes sowie die Engstirnigkeit, die Rückständigkeit und den Provinzialismus der banatschwäbischen Gemeinschaft in den Vordergrund rückt.“ (S. 129).

Mitnichten jedoch findet nun diese beengende „Dorfheimat“ eine Entgrenzung in der weitläufigeren „Staatsheimat“, am allerwenigsten in der sozialistischen Diktatur Rumäniens, aber auch nicht nach der fluchtartigen Ausreise, deren Umstände und widersprüchliche Folgen Herta Müller in ihrer lakonisch drastischen Art umreißt: „‚Heimweh‘ war mir verhaßt, ich weigerte mich, den Schmerz so zu benennen. Ich konnte das Wort immer von mir fernhalten. Den Zustand nicht. Zurückdenken, es kam mir oft wehleidig vor. Wußte ich doch, daß ich auf eigenen Wunsch gegangen war. Aber was heißt das schon, wenn der Grund für den eigenen Wunsch fremde Bedrohung war. In die Enge getrieben von der Securitate, hab ich zuletzt das Weite gesucht. Nichts war beendet, nur zu Ende, weil abgebrochen.“ (S. 256).

Die Welt ist ein Ort, wo der Mensch seinen Ort nicht zu finden vermag: „Die kollektive Identität der ‚Dorf-‘ sowie der ‚Staatsheimat‘ wird […] weniger gestiftet als vielmehr verordnet und durch Kontrolle, Überwachung und Repression durchgesetzt, wobei der Druck zur Anpassung und Unterordnung keinen Freiraum für Individualität jenseits gesellschaftlicher Normen lässt.“ (S. 57) In der Diktatur wird selbst Heimat zum Diktat. So bleibt dem Individuum nur, sich den Ort selbst zu erschaffen, und das tut Herta Müller dezidiert dichtend. Dabei verbietet sie sich jedes Schielen nach allfälligen Sympathien eines allfälligen Lesepublikums, ebenso gibt sie der klaren, ja harten Aussage den Vorrang gegenüber subtilen Ausdifferenzierungen.

So geraten ihre Bilder bisweilen holzschnittartig und ihre mediale Präsenz nicht selten provozierend. Es gab und gibt deshalb naturgemäß Reaktionen des Unverständnisses und der Missbilligung zumal von Seiten der Landsleute oder Kollegen, die nicht samt und sonders unbegründet oder deplatziert sind. Hanna Zehschnetzler genießt den Vorzug, sich nicht mit historischen, biografischen Hintergründen, ja gar in Feuilletons, Leserbriefen oder Anekdoten kolportierter zweifelhafter Nachrede abgeben zu müssen. Gegenstand ihrer Forschung ist das von Herta Müller geschriebene Wort, da mag es noch so viele Einwände geben, die gegen ihre geradezu monolithischen Vorstellungen vom Dorf, vom Staat, vom sozialistischen Rumänien und den besagten „Landsleuten“ dort wie hier vorgebracht werden können und worden sind. Umso erfrischender und erhellender ist ihre freie Sicht, ihre „unverwandte“ Einsicht in das Werk einer Autorin, deren Anspruch zumindest dahin geht, das Leben klarer zu verstehen und zu erzählen, als es ist. Jene gesteht dieser zu Recht das Recht auf äußerste Subjektivität zu, im berechtigten Vertrauen auf deren Lauterkeit: Man kann und muss gegen etwas sein und reden, wenn es einem bedrängend nahe ist, wenn man es nicht nur kennengelernt, sondern empfunden hat – wie es im Buche steht.

Dass die Person und die Schriftstellerin Herta Müller allgemein als gleichsam deckungsgleich erlebt und „erlesen“ werden, ist für ihre Exegetin ein Beweis für die Eindringlichkeit ihrer Prosa, und sie folgt ihr – nicht ergriffen, sondern begreifend: „Die Rekonstruktion des Erlebten im Erinnern ist […] intensiver, offensiver und aggressiver als das Erleben der Tatsachen selbst. Durch das Aufschreiben der zwanghaft erinnerten vergangenen Tatsachen wird das Erlebte darüber hinaus schließlich doppelt rekonstruiert: im Erinnern und im Schreiben.“ (S. 81). Und so findet statt, was sich dem arglos Lesenden nicht ohne weiteres erschließt – was aber diese Arbeit aufschließt: „Wahrheit und empirische Realität rücken in den Hintergrund, stattdessen steht der Prozess der autonomen ‚erfundenen Wahrnehmung‘ im Vordergrund. Zugleich dekonstruiert sie dadurch eben auch die Vorstellung von (narrativer) Objektivität.“ (S. 86).

„Dichtung und Wahrheit“ hat ein ferner Vorfahr der Herta Müller einst in einem Titel zusammengespannt – und dann seine Wahrheit gedichtet. Die Nachfahrin eifert ihm nach, nicht ohne Zorn und Eifer: „Sowohl die erinnerte als auch die wahrgenommene Lebenswelt sind bei Müller schließlich stets nur ein individueller Entwurf der Welt, ohne jeglichen Wahrheits- oder Authentizitätsanspruch.“ (S. 88).

Noch weiter greift Hanna Zehschnetzler aus auf Begrifflichkeiten, mit denen weder Vorfahr noch Nachfahrin je Umgang gepflegt haben dürften, die aber ahnen lassen, dass Authentizität und Wahrheit in der Literatur genauso wenig gewährleistet sind wie in der Wirklichkeit, die wir so bedenkenlos wie gedankenlos als „das richtige Leben“ apostrophieren: „Müllers Werk kann darüber hinaus nicht nur als autofiktional verstanden werden, sondern weist auch eine Nähe zur Surfiction im Sinne des amerikanischen Autors und Literaturkritikers Raymond Federman auf, die Paula Bozzi dargelegt hat. Der Begriff Surfiction […] bezieht sich dabei auf eine Art von Literatur, die eben nicht nur die Fiktionalität des Geschriebenen, sondern zugleich auch die Fiktionalität des Lebens an sich thematisiert. […] Auslassen und Detailgenauigkeit schließen sich bei Müller […] nicht aus: Gerade durch die Kombination sprachlicher Verknappung und metaphorischer Verdichtung entsteht in ihren Texten eine größtmögliche Nähe zu dem Unsagbaren, was ihre individuelle Wortwahl wiederum so schonungslos macht.“ (S. 99).

Dabei bleibt die Wissenschaftlerin stets auf dem Boden auch der historischen, zumal zeitgeschichtlichen Tatsachen, das „Unsagbare“ ist nicht ihr erster und letzter Schluss. Vielmehr begibt sie sich auf die Suche nach den etymologischen Ursprüngen des Begriffs Heimat, kundschaftet seine Spuren aus in der deutschen Literaturgeschichte bei Schiller oder Eichendorff und folgt ihnen in der Zeitgeschichte, ein Lächeln ist da nicht unstatthaft, bis zu – terribile dictu – Horst Seehofer. Spezifische und speziell rumänische Mythen und Mythologien rund um die „vatră“, den „heimischen Herd“, zu beschwören, die Herta Müller nicht fremd sein dürften, das muss Hanna Zehschnetzler natürlich einschlägig Vorbelasteten überlassen, denen dazu manches aufgehen dürfte. Sie kann nur im Vollbesitz einer umsichtigen Recherche Herta Müllers „Dimensionen der Heimat“ im Koordinatensystem des 20. Jahrhunderts vermessen: „Trotz unterschiedlicher ideologischer Grundpositionen erfüllten schließlich sowohl der nationalsozialistische als auch der sozialistische ‚Heimat‘-Begriff gesellschaftspolitisch eine übereinstimmende Funktion, nämlich die Übertragung der emotionalen Verbundenheit mit der ‚Heimat‘ auf den gesamten Staat sowie die Instrumentalisierung der staatlich heraufbeschworenen Loyalität für politische Zwecke.“ (S. 37).

Mit drei Büchern der Erzählerin bringt sie drei Beispiele für Müllers epische Auseinandersetzung mit „Dorfheimat“, „Staatsheimat“ und der Welt, in der sie mittlerweile lebt und schreibt, um ihr in „Schlussbetrachtung und Ausblick“ noch einmal die gebotene Reverenz zu erweisen: „[…] durch ihre unkonventionelle, hybride Schreibweise sprengt die Autorin die Idee einer kohärenten Nationalliteratur“ (S. 264). Hanna Zehschnetzlers Buch sprengt zumindest die Idee, dass man sich eine solche überhaupt wünschen sollte. Wünschenswert ist vielmehr, dass sich auch in der Literatur, ob primär oder sekundär, weiterhin solch eigenwillig kluge Köpfe begegnen.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2021), Jg. 16, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 134–137.

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