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Editorial 1/2023

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Ueberzeugt von der dringenden Nothwendigkeit der Erziehung und des Unterrichtes der weiblichen Schuljugend im Sinne und Geiste der katholischen Kirche, berief Bischof Alexander Csajaghy von Csanád arme Schulschwestern aus Bayern, um an seiner Kathedrale zu Temeswar ein Mutterhaus für seine Diöcese zu gründen. Zu diesem Zwecke wurde an der Domkirche ein in unmittelbarer Verbindung mit der Mädchenschule stehendes Gebäude sammt Garten acquirirt und die Anstalt, welche Mädchen-Elementar und Industrie-Schule in sich schließt, am 10. October 1858 mit einer dem Zwecke angemessenen Feier eröffnet.[1]

 

Diese knappe Nachricht, die dem Schematismus der der Geistlichkeit des Erzbisthums München und Freising für das Jahr 1859 entnommen ist, markiert den Anfang einer einst renommierten Bildungseinrichtung in Temeswar (rum. Timișoara, ung. Temesvár). Die Rede ist von der Schule der Notre-Dame-Schwestern, wie im Banat – abweichend von ihrer Bezeichnung in Bayern – die Armen Schulschwestern genannt wurden. Zu den sechs Schwestern, die aus München entsandt worden waren, kamen bald auch einheimische hinzu. Der in den Jahren 1880–1889 errichtete Schulkomplex in der Temeswarer Josefstadt, zu dem ein Kindergarten, eine Volksschule, ein Mädchengymnasium, eine Fortbildungsschule und eine Lehrerinnenbildungsanstalt sowie ein Internat für auswärtige Schülerinnen zählten, war im Leben der Stadt eine zentrale kulturelle Institution. Bis zur gewaltsamen Auflösung des Ordens durch die kommunistischen Behörden im Jahr 1948 unterrichteten die Klosterfrauen an dieser Schule und in Filialgründungen im gesamten Banat Generationen junger Mädchen mit unterschiedlichem ethnischem und religiösem Hintergrund. Auch Schülerinnen orthodoxer, protestantischer oder jüdischer Religionszugehörigkeit frequentierten diese Institution, die damit zu einem Laboratorium für Mehrsprachigkeit und jenen für Temeswar bezeichnenden Geist wechselseitigen Respekts wurde.

Diese historische Episode lässt für die späten 1850er-Jahre im Bereich des kirchlichen Schulwesens eine institutionelle Verbindung zwischen der königlich bayerischen Haupt- und Residenzstadt München und Temeswar, dem damaligen Zentrum des habsburgischen Kronlandes Woiwodschaft Serbien und Temescher Banat, aufscheinen. Temeswar, der Metropole des rumänischen Banats, und dem ungarischen Wesprim (ung. Veszprém), die sich in diesem Jahr mit dem griechischen Elefsina/Eleusis (gr. Ελευσίνα/Ἐλευσίς) den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ teilen, ist in diesem Spiegelungen-Heft eine spezielle Rubrik gewidmet, zu der Angela Ilić einen historischen Überblick mit Bezügen zum IKGS-Archiv verfasst hat (S. ##). Über den Beitrag des IKGS zur Kulturhauptstadt Temeswar 2023 können Sie sich jederzeit auch im Internet unter der Adresse ## informieren.

Der wissenschaftliche Schwerpunkt dieses und des nächsten Spiegelungen-Hefts betrifft das Thema Kind und Gesellschaft. Die Autorinnen und Autoren nehmen unterschiedliche außerschulische sozialisierende Faktoren in den Blick, die in unterschiedlichen Regionen und Ländern Südosteuropas im 20. Jahrhundert auf Kinder der dort beheimateten Deutschen eingewirkt haben. Ein bekanntes afrikanisches Sprichwort lautet: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Damit soll ausgedrückt werden, dass das Aufziehen eines Kindes nicht nur eine individuelle Aufgabe der Eltern ist, sondern einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft obliegt. Die Erziehung von Kindern aus Minderheiten erfolgt im Spannungsverhältnis von familiären Prägungen und Wertvorstellungen, den Paradigmen „nationaler Kultur“, den Erwartungen des jeweiligen Nationalstaats und möglichen religiös-kulturellen Bindungen. Die Geschichte der schulischen Bildung haben wir bewusst außen vor gelassen, da für diesen Bereich die Forschungslage sowohl in Überblicksdarstellungen als auch in Ortsmonografien als vergleichsweise gut angesehen werden kann. Die nachfolgende Einleitung (S. ##) kontextualisiert die Beiträge dieses Schwerpunkts, der im Heft 2.23 fortgesetzt wird.

Für jeden Menschen ist „Kindheit“ auch ein Thema der Erinnerung. Zu individuellen Erfahrungen und Prägungen gesellen sich kollektive Einflüsse, die etwa die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation oder Gruppe prädestinieren können, ohne dass sich daraus eine Art Automatismus ableiten ließe. In der Literatur war diese Vielfalt der Erlebnisse und Erfahrungen stets ein beliebtes Thema. Wir freuen uns, dass für diese Spiegelungen-Ausgabe gleich mehrere literarische Beiträge eingeworben werden konnten, die sich an das wissenschaftliche Schwerpunktthema anschließen und es durch persönliche Zugänge erweitern.

Gleichwohl enthält dieses Heft auch eine Reihe von Lyrik- und Prosatexten mit anderen inhaltlichen Akzentsetzungen. Eine literarische Preziose sind bisher nicht veröffentlichte Gedichte des aus der Bukowina stammenden Schriftstellers Manfred Winkler aus dessen Nachlass im Archiv des IKGS. Er wird gerahmt durch eine Würdigung von Monica Tempian und den Bericht von einer Manfred-Winkler-Tagung, die Ende November 2022 aus Anlass des 100. Geburtstags des Lyrikers unter Beteiligung des Instituts in Jerusalem stattgefunden hat.

Aus der Vielzahl der Beiträge sei noch die Präsentation des Archivs Korčula-Lastovo herausgegriffen, mit der das IKGS die Porträts historischer Quellenbestände zur deutschen Kultur und Geschichte in Kroatien (Themenschwerpunkt des Heftes 2.22) fortführt.

Eine neue Rubrik im Kulturteil stellt historische Bezüge Bayerns zu Südosteuropa vor – in dieser Ausgabe beginnen wir mit einem Beitrag über die erste ungarische Königin Gisela von Bayern und ihren Erinnerungsstätten in Scheyern und in Passau.

Seitens der Redaktion möchten wir Sie auch auf unser Online-Angebot unter der Adresse www.spiegelungen.net hinweisen. Dort können Sie nach Ablauf eines Jahres nicht nur die PDFs aller bisher im Druck erschienenen Hefte abrufen, sondern auch ergänzende Angebote, etwa aktuelle Beiträge, die nicht in der Printversion publiziert werden. Es lohnt sich also, gelegentlich auch das genannte Internetportal zu besuchen.

Wir wünschen Ihnen eine gute und angenehme Lektüre!

Ihre Spiegelungen-Redaktion

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 7–9.

 

[1] Schematismus der Geistlichkeit des Erzbisthums München und Freising für das Jahr 1859. München 1859, S. 193.