Essen und Trinken – das sind zwei physiologische Grundbedürfnisse der Menschen. Nach medizinischen Erkenntnissen stellen sich bei ausbleibender Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit bereits nach wenigen Tagen Mangelerscheinungen ein, die mit fortschreitender Zeit lebensbedrohlich werden können. Im Laufe der Jahrhunderte bedrohten entsprechende Erfahrungen auch die Bewohner Südosteuropas – in Zeiten der Dürre, der Viehseuchen, der Missernten oder fehlenden sauberen Trinkwassers. Während Kriegen kam es vor, dass Trinkwasserbrunnen bewusst vergiftet wurden, um die Zivilbevölkerung zu schwächen und ihren Widerstand zu brechen. Aktuell wirken sich ausbleibende oder reduzierte Getreidelieferungen aus der vom Krieg
erschütterten Ukraine massiv auf die Ernährungslage in vielen Ländern der Erde aus. Hier verknüpfen sich biologische und kulturhistorische Interessen an der Geschichte
des Essens und Trinkens.
Neben diesen primären Aspekten fragen die Kultur- und Geschichtswissenschaften nach der Signifikanz von Essen und Trinken in der Alltagskultur. Entsprechende Motive in der Literatur oder der bildenden Kunst gehören ebenso dazu wie Lebensmittelwerbungen, heutige Kochsendungen oder Internet-Tutorials und kulinarische Kolumnen in der Presse, Kochbücher, politische Debatten über den Zugang zu »gesunder Ernährung« und die Inszenierung des persönlichen Tellerinhalts in den sozialen Medien. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Wie und was gegessen und getrunken wird sagt etwas über die Akteure, ihre Lebenseinstellung, aber auch über ihre sozialen Möglichkeiten aus. Essen und Trinken können Menschen zusammenbringen, aber auch sichtbare oder unsichtbare
Grenzen zwischen ihnen ziehen und Unterschiede aufzeigen: Nahrung markiert kollektive Identität. Allgemeingültige Regeln und Vorschriften können in bestimmten kulturellen Kontexten den Verzehr bestimmter Speisen und Getränke prinzipiell
oder temporär einschränken. Dies betrifft etwa das religiös motivierte Verbot von Schweinefleisch im Judentum und im Islam oder die Fastenzeiten der christlichen Konfessionen und den Fastenmonat Ramadan der Muslime.
Das Thema »Essen und Trinken« oszilliert zwischen Regionalität, nationalem und globalem Waren- und Kulturtransfer. Wer denkt heute noch daran, dass der Mais und die Kartoffel erst seit der Frühen Neuzeit durch Importe aus Süd- und Mittelamerika auf dem südosteuropäischen Speiseplan stehen? Oder daran, dass viele traditionell »deutsche« Gerichte in Südosteuropa eigentlich von den ungarischen, rumänischen, russischen, türkischen oder bulgarischen Nachbarn entlehnt worden
sind? Andererseits haben in diesem Raum etwa vielerorts deutsche und österreichische Braumeister die Tradition der Bierproduktion begründet und den Weinbau gefördert.
Zugänglichkeit, Haltbarkeit (einschließlich der Kulturtechniken der Haltbarmachung) und Erschwinglichkeit der Ausgangsprodukte sowie unterschiedliche Methoden ihrer Zubereitung sind als Faktoren in den Blick zu nehmen. Essen und Trinken bilden heute integrale Bestandteile der Diskurse über Nachhaltigkeit, Gesundheitsvorsorge und Fairness, aber auch der Wertigkeit der täglichen Ernährung zwischen Fast Food, Street Food, Lieferservice und gepflegter Tischkultur sowie Slow Food.
Diese Ausgabe der Spiegelungen nähert sich südosteuropäischen Bezügen des Essens und Trinkens mit ausgewählten Fallstudien. Tabea Stegmiller spürt in ihrem Beitrag den Veränderungen der Ernährung in der Zeit der habsburgischen Landnahme
und Erschließung des Banats im 18. Jahrhundert nach. Ging die Ansiedlung deutscher (und weiterer) Siedler im Banat vor allem auf monarchische Initiativen zurück, fand gleichzeitig im Komitat Sathmar eine aristokratisch motivierte Siedlungspolitik mit Kolonisten aus Oberschwaben statt. Deren traditionelle Nahrungspraktiken präsentiert Răzvan Roșu auf der Basis ethnologischer Explorationen. Im frühen 18. Jahrhundert begann auch das Brauen von Bier in Pančevo und Belgrad,
die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das Wirken der Brauerdynastie Weifert dominierte. Mit diesem Beispiel der kulturellen Vermittlung befassen sich Saša Ilić und Sonja Jerković. Wie sich private Rezeptsammlungen nahrungsethnologisch auswerten lassen, demonstrieren Anamarija Lukić und Ivana Jurčević am Beispiel eines umfangreichen Quellenfundus aus Osijek aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Eva Márkus lädt uns ein an den gedeckten Tisch der Ungarndeutschen in Deutschpilsen und erläutert anhand der lokalen kulinarischen Terminologie linguistisch-historische Interferenzen.
Den Wissenschaftsteil dieses Heftes ergänzen eine Studie von Vesna Ivkov zum musikalischen Lebensweg von Adam Guld aus Apatin sowie zwei Projektvorstellungen: Beide Projekte verbindet ihr Fokus auf räumliche Fragestellungen – in Danica
Trifunjagićs Arbeit zu Slobodan Šnajders Blick auf die Donau und in Alexandra Pătrăus Analyse von Viktor Wittners Werk.
Im Literaturteil dieser Ausgabe hat der erste Text einen kulinarischen Beigeschmack: Karin Gündischs Romanfragment Krautköpfe für den Winter gibt Einblicke in die Selbstversorgung im kommunistischen Rumänien. Carmen Elisabeth Puchianus
Prosastück reflektiert eine Rückkehr nach langer Abwesenheit, während Barbi Marković auf eine Urlaubssituation eingeht, kulinarische Aspekte tragen in diesen Fällen zum Atmosphärischen der Erzählungen bei. Anila Wilms lässt uns an einem dialogischen Selbstgespräch teilhaben. Lyrische Genüsse servieren Franz Hodjak, Nora Iuga (in der Übersetzung von Edith Ottschofski), Gerlinde Roth, Gábor Schein (in der Übersetzung von Orsolya Kalász) und Tom Schulz.
Im Feuilleton greift Reinhard Reimann das kulinarische Thema in einem Essay zur Triester Caffettiere-Dynastie Illy und ihren mehrsprachigen Wurzeln im Banat noch einmal auf. Sein Text fügt sich nicht nur in den Themenschwerpunkt ein,
sondern ist auch ein Nachklang zum Temeswarer Kulturhauptstadtjahr 2023. Ein ergänzendes Angebot mit Blogbeiträgen und Podcasts stellen wir Ihnen auch auf www.spiegelungen.net zur Verfügung. Außerdem befasst sich Gábor Schein mit der aktuellen kulturpolitischen Situation in Ungarn mit Schwerpunkt auf dem Literaturmarkt. Der Literat, Wissenschaftler und Übersetzer war von Oktober 2023 bis Juni 2024 Fellow im IKGS und hat diese Zeit genutzt, um seine komparatistische
Studie zur Literaturgeschichtsschreibung in den Nationalliteraturen Zentral- und Südosteuropas voranzubringen.
Wir hoffen, dass wir Ihren Appetit auf die Lektüre dieses Hefts anregen konnten.
Wohl bekomme sie!
Ihre Spiegelungen-Redaktion
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2024), Jg. 19, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 7–9.