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Editorial 1/2022

Diese Ausgabe der Spiegelungen wird in der Passionszeit 2022 redaktionell finalisiert. In der gegenwärtig unsicheren Weltlage ist kein Mensch imstande vorherzusagen, wie es beim Erscheinen der Zeitschrift in ein paar Wochen um Europa bestellt sein wird. Der brutale Angriffskrieg des Kreml-Regimes um Vladimir Putin gegen die Ukraine wird sich künftigen Generationen, soviel kann heute bereits gesagt werden, als Zäsur in der europäischen Geschichte einprägen. Von den erschütternden Ereignissen in der Ukraine ist auch das IKGS nicht unberührt geblieben. Seit vielen Jahren verbindet uns eine fruchtbare und freundschaftliche Partnerschaft mit Kolleginnen und Kollegen der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität und des Zentrums Gedankendach in Czernowitz (ukr. Чернівці, rum. Cernăuți), der Metropole der Bukowina. Eine Reihe gemeinsamer Initiativen sind aus dieser Verbindung erwachsen: Tagungen, Publikationen, Kunstprojekte wie der gemeinsam ausgeschriebene Spiegelungen-Literaturpreis 2020 oder das Online-Portal anabasis.space, bei dem  Videokünstlerinnen und Videokünstler aus Deutschland und der Ukraine ihre Kreativität ein Jahr nach dem 100. Geburtstag von Paul Celan und in Kombination mit posthumanistischen Ansätzen unter Beweis gestellt haben. Mit dem Überfall russischer Einheiten auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist Czernowitz zu einem Fluchtpunkt für Menschen aus den umkämpften Regionen des Landes geworden; viele suchen in der frontfernen Bukowina Schutz, andere ziehen nach einem Zwischenstopp weiter zum nahen ukrainisch-rumänischen Grenzübergang Siret, um ihr Leben in einem EU-Land in Sicherheit zu bringen.

Auf diese humanitäre Katastrophe hat das IKGS in ständiger Koordination mit den Kolleginnen und Kollegen vom Zentrum Gedankendach und auch mit Unterstützung des großen Netzwerks, über das diese Kultur- und Wissenschaftseinrichtung im deutschsprachigen Raum verfügt, eine große Spendenaktion in die Wege geleitet, dank derer bereits mehrere Sach- und Geldtransporte aus verschiedenen Teilen Deutschlands, Österreichs und Rumäniens in die Bukowina gebracht werden konnten. Wir sind dankbar für das überwältigende Echo, das die Hilfsaktion gefunden hat – es ist eine Hilfe, die direkt bei den betroffenen Menschen ankommt. Wir hoffen inständig, dass dieser sinnlose und unerträgliche Krieg mit all seinen Auswüchsen bald ein Ende nimmt.

Der Krieg und seine Folgen hat in den vergangenen Wochen unsere Arbeit und unsere Gedanken stark in Beschlag genommen. Und dennoch ging auch hier die gewohnte Arbeit weiter, musste eine neue Ausgabe der Spiegelungen für den Druck vorbereitet werden. Der Themenschwerpunkt des Hefts 1.22 setzt sich mit der Gründungsgeschichte unseres Instituts auseinander. Vor über 70 Jahren, im März 1951, ist in München das Südostdeutsche Kulturwerk (SOKW) als ein Zusammenschluss von Politikern, Landsmannschaftsfunktionären, Publizisten, Wissenschaftlern und Schriftstellern mit südosteuropäischen Bezügen gegründet worden. Vor 20 Jahren ist aus dieser Einrichtung das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) hervorgegangen. Zwei Beiträge in diesem Heft befassen sich mit der organisatorischen Frühgeschichte des SOKW und mit zeittypischen Diskursen in seinem damaligen Periodikum, den Südostdeutschen Vierteljahresblättern. Eine Edition ausgewählter Briefe aus der umfangreichen Korrespondenz von Heinrich Zillich und Karl Kurt Klein vermittelt nicht nur Atmosphärisches, sondern wirft auch Schlaglichter auf den zeithistorischen Kontext, in dem das Institut gegründet worden ist. Ergänzt wird die wissenschaftliche Rubrik mit Aufsätzen zu Bildbänden über das Donaudelta (Anton Holzer), über deutsche Sprachphänomene im westlichen Ungarn (Márta Müller) und über protestantische Matrikelbücher aus der Stadt Rijeka (it. Fiume) von Angela Ilić.

Neben dem eigenen Jahrestag des IKGS erinnern wir in dieser Spiegelungen-Ausgabe an ein weiteres Jubiläum aus unserem wissenschaftlichen Zuständigkeitsbereich: 50 Jahre Aktionsgruppe Banat. Diese einzigartige Initiative von damals jungen rumäniendeutschen Schriftstellern scheint gleich in mehreren Beiträgen auf. Wir freuen uns, ihnen in den Spiegelungen ganz unterschiedliche Sichtweisen auf die Aktionsgruppe Banat und ihre Mitglieder präsentieren zu dürfen. Georg Aescht hat seine Wahrnehmungen der Gruppe aus der Sicht einer dem Banat benachbarten Region verschriftlicht, während Nora Iuga, die Grande Dame der rumänischen Literatur, in einer für Temeswar geplanten Rede ihre persönlichen Beziehungen und Bezüge zu einem ihrer Mitglieder -, Rolf Bossert – und seinen Dichtungen reflektiert. In Josef Sallanzʼ Gratulation zu Richard Wagners und Michaela Nowotnicks Glückwunsch zu Ernest Wichners 70. Geburtstag werden uns weitere wichtige Protagonisten nahegebracht, während in Gedichten von Johann Lippet einer der damaligen Protagonisten selbst zu Wort kommt. In ihrer Summe ergeben diese Beiträge ein multiperspektivisches Bild und können (hoffentlich) zu eigenen Lektüren und Vertiefungen anregen.

Im Literaturteil dieses Heftes finden Sie ferner Prosatexte von Balthasar Waitz und Robert Balogh sowie Poetisches von Hellmut Seiler und Ani Bradea. Mit der Übertragung des Echnaton Zyklus von Ágnes Nemes Nagy, die das Ergebnis eines Berliner Übersetzerworkshops (im Oktober 2021) unter der Leitung von Orsolya Kalász ist, erinnern wir an die vor 100 Jahren geborene maßgebende Stimme der ungarischen Lyrik.

Im Feuilleton begibt sich der emeritierte Osteuropa-Historiker Rudolf Jaworski, der während des Zweiten Weltkriegs als Kind deutscher „Umsiedler“ aus der Bukowina zur Welt gekommen ist, auf die sprachlichen Spuren seiner eigenen Familiengeschichte. Das von ihm aus der Erinnerung zusammengestellte Glossar regionaltypischer Ausdrücke spiegelt die vielen kulturellen Einflüsse in dieser Region.

Im laufenden Jahr 2022 ist die serbische Stadt Neusatz (sr. Novi Sad, ung. Újvidék, sk. Nový Sad) eine der drei Kulturhauptstädte Europas. Angela Ilić präsentiert die Stadt an der Donau, unter deren vielfältiger Bevölkerung früher auch zahlreiche Deutsche gelebt haben. Europäische Kulturhauptstädte: Rijeka 2021, Neusatz 2022, Temeswar 2023… Angela Ilić hat sich die Frage gestellt, was diese drei südosteuropäischen Städte miteinander verbindet. Einer ihrer Befunde ist ein bedeutendes architektonisches Erbe – alle drei Städte besaßen oder besitzen Synagogenbauten des ungarischen Architekten Leopold/Lipót Baumhorn, in deren Entstehungsgeschichte im Zusammenhang mit der jeweiligen jüdischen Gemeinde eingeführt wird. Mit dem Dichter Hellmut Seiler hat unser Kollege Klaus Hübner ein Interview geführt, in dem auch dessen jüngste Buchveröffentlichungen vorgestellt werden.

Wie üblich enthält auch diese Ausgabe der Spiegelungen Rezensionen einschlägiger wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Besprechungen literarischer Neuerscheinungen aus dem geografischen Raum des IKGS. Abgerundet wird sie durch Personalia und Mitteilungen aus dem Institutsleben.

Wir hoffen, dass Sie angesichts dieses vielfältigen Angebots auch dieses Mal auf Ihre Kosten kommen. Gute Lektüre wünscht Ihnen Ihre Spiegelungen-Redaktion!

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 7–9.

 

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