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Editorial 2/2016

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Das Thema »Brüche und Aufbrüche – Kirchengemeinden nach 1989« ist von solch hoher Aktualität, dass wir uns entschlossen haben, verschiedene Zugänge zu dieser Fragestellung zu öffnen: In Aufsätzen, Zeitzeugenberichten, Interviews, einer Reportage und mit Malerei und Fotografien versuchen wir, die manchmal traurige, oft aber optimistisch stimmende, zukunftsträchtige Dynamik exemplarisch abzubilden, die auch und insbesondere die konfessionellen Gemeinschaften, zumal in Minderheitensituationen, spätestens seit der Wende vor einem Vierteljahrhundert erfasst hat.

Die wissenschaftlichen Aufsätze zum Themenschwerpunkt sind allesamt »hauseigene « Produkte. Sie bilden also auch die große räumliche Vielfalt ab, der sich das Ikgs und die Spiegelungen widmen, und richten ihren Fokus bewusst auf bislang weniger beachtete und somit umso interessantere Orte und Phänomene. Helene Dorfner, seit Februar 2016 wissenschaftliche Bibliothekarin und Archivarin am Ikgs, widmet sich der deutschen evangelischen Gemeinde in Athen, Dr. Angela Ilić, ebenso seit einigen Monaten als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ikgs tätig und für den Themenschwerpunkt dieses Heftes verantwortlich, berichtet über die Entwicklung zweier evangelischer Gemeindekirchen in Belgrad, während Dr. Enikő Dácz die katholische Gemeinde rund um die Kalvarienkirche in Sathmar (rum. Satu Mare, ung. Szatmárnémeti) untersucht. Die drei Analysen werden von Zeitzeugnissen über die (auch) deutschsprachigen evangelischen Gemeinden in Budapest und Ödenburg (ung. Sopron) sowie die kirchliche Situation in Siebenbürgen und in Bessarabien bzw. der heutigen Republik Moldau ergänzt. Es handelt sich dabei um Bestandsaufnahmen und (Zwischen)resümees, die erahnen lassen, wie groß und oft übermächtig sich die Herausforderungen für diese »doppelten Minderheiten« – konfessionell und sprachlich – im 20. und im begonnenen 21. Jahrhundert darstellen. Gemein ist all diesen Texten, dass sie deutlich zeigen, wie Gedeihen oder Niedergang religiöser Gemeinschaften vom »großen« staatlichen, nationalen und globalen Umfeld – heiße und kalte Kriege, Flucht, Vertreibung und Aussiedlung, aber auch »kalter Frieden« (Kursbuch 188) und das abgesagte »Ende der Geschichte« nach 1989 – nicht zu trennen sind, vieles jedoch letztlich am Engagement einzelner Akteure liegt.

Und noch ein Aspekt stellt sich als Konstante heraus: Der »deutsche Nucleus«, der den Gemeinden meist aus historischen Gründen zu eigen war, weicht allmählich einer sprachlichen und ethnischen Diversität, die neue Herausforderungen schafft, die jedoch Gemeinschaften, wo sie fortbestehen, eher stärkt als schwächt. Der in Laibach (sl. Ljubljana) tätige Maler Matej Metlikovič hat diese Entwicklungen auf unsere Anregung hin mit seinen künstlerischen Mitteln reflektiert. So ist der Bilderzyklus »Erinnerung–Traum–Hoffnung« entstanden, aus dem wir einige Werke in dieser Ausgabe abbilden.

Wenn unser ehemaliger Praktikant Oleg Friesen in der Ukraine zwischen den einst mennonitischen Häusern seiner Vorfahren wandelt, aber auch besonders im Beitrag Arnulf Baumanns zur evangelischen Kirche in Bessarabien und in der Betrachtung der siebenbürgischen Situation, widerspiegelt sich damit nicht zuletzt die gesamteuropäische Frage nach dem Schicksal des materiellen Kulturerbes: Was verfällt, was wird erhalten, was wird – wohl unter anderen Vorzeichen – weitergenutzt? Und wie kann ethno-konfessionell kategorisierte Kultur, materiell und immateriell, zum gemeinsamen Erbe, zum Shared Heritage, wie man es sich (nicht nur) für das Europäische Kulturerbejahre 2018 wünscht, werden? Nicht nur vor dem Hintergrund dieser Fragestellung regen die Fotografien des schwedischen Denkmalpflegers, Fotografen und Siebenbürgen-Aficionado Robin Gullbrandsson zum Nachdenken an.

Diese wichtigen Themen versuchen wir in den Spiegelungen möglichst multiperspektivisch zu diskutieren. Darum spielen Mehrsprachigkeit, Sprachwechsel, Deutsch als Minderheiten-, Fremd- bzw. Zweitsprache (siehe die Gedichte der »Stafette«, die »Klassiker« Hans Bergel, Carmen Elisabeth Puchianu und Horst Samson im Literaturteil sowie die Reflexionen über ein Rundtischgespräch zur ungarndeutschen Literatur und das ausführliche Interview mit dem aus Rumänien stammenden Schweizer Schriftsteller Catalin Dorian Florescu) wie immer eine wichtige Rolle. Ebenso von Bedeutung ist es, transnationale und transregionale Brückenschläge in Vergangenheit und Gegenwart abzubilden, wovon die Berichte im Kulturteil über die Arbeit der Friedrich- Ebert-Stiftung im sozialistischen Rumänien und die Ergebnisse der aktuellen Veranstaltungsserie »FutureLab Bukowina« zeugen.

Dankbar sind wir über die teils neue, teils bereits seit Jahren laufende und nun weiter ausgebaute Unterstützung durch das Goethe-Institut, das Haus des Deutschen Ostens in München und das Haus der Heimat in Stuttgart. Mit Hilfe dieser Einrichtungen erreichen die beiden Ausgaben des Jahres 2016 eine Vielzahl von universitären und außeruniversitären Forschungs- und Vermittlungseinrichtungen in Ostmittel- und Südosteuropa, die bislang nicht die Möglichkeit hatten, die Spiegelungen als Informations-, Unterrichts- und Unterhaltungsmedium anzubieten.

Wir hoffen, mit dieser Ausgabe der Spiegelungen wieder ein anregendes Lese- und Nachdenkprogramm für Sie zusammengestellt zu haben. Falls dem so ist – sagen Sie es doch weiter! Erfahren Sie hier mehr über dieses Heft.

Ihre Spiegelungen-Redaktion

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2016), Jg. 11 (65), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 7–8.

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