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Editorial 2/2022

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Archive fungieren als kulturelle Depots, in denen Schriftgut, Artefakte und inzwischen auch digitale Medien nach einer eingehenden Sichtung und Auswahl aufbewahrt werden, um sie der Nachwelt zu erhalten. Bei Bedarf können diese abgelegten Dokumente wieder hervorgeholt werden, wenn sie entweder für administrative oder juristische Belange erneut relevant werden oder für die Rekonstruktion historischer Sachverhalte oder Zusammenhänge ausgewertet werden. Archive verkörpern damit jene Kategorie der Erinnerung, die Aleida Assmann in mehreren theoretischen Abhandlungen als »Speichergedächtnis« bezeichnet hat – eine Art Container, aus dem jederzeit bestimmte Elemente in die zweite Erinnerungsebene, das sozial virulente »Funktionsgedächtnis« übertragen werden können. Für die Erforschung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa sind Archive in jenen Regionen ganz besonders bedeutsam, wo infolge der Migrationsprozesse im 20. Jahrhundert keine Deutschen mehr physisch präsent sind.

Der Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe der Spiegelungen ist Archiven in der Republik Kroatien gewidmet. Kroatien – seit 2013 Mitglied der Europäischen Union – weist zahlreiche deutsche Bezüge kultureller und sprachlicher Art auf, deren Überlieferungen heute vor allem in Archiven und Bibliotheken konserviert werden. Diesen Hinterlassenschaften, ihrer Geschichte und ihrer Aufbereitung gehen die einzelnen Beiträge exemplarisch nach. Es geht um einschlägige Schriftgutbestände in diversen Archiven und historische Zeitungsausgaben, die zum Teil bereits in digitalisierter Form online für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Unsere Kollegin Angela Ilić hat diesen Schwerpunkt, der einen bisher fehlenden Überblick bietet, betreut und führt selbst in diese Rubrik ein. Wir hoffen, künftig auch weitere Bestandsübersichten veröffentlichen und damit auf bisher vernachlässigte, oder nur wenigen Fachleuten bekannte Forschungsmöglichkeiten zu Fragen deutscher Kultur und Geschichte in Südosteuropa aufmerksam machen zu können.

Den wissenschaftlichen Schwerpunktbereich dieser Ausgabe ergänzen eine Quellenvorstellung, zwei umfangreiche Aufsätze und eine Projektskizze. Ein Exkurs führt in Kroatiens Nachbarland Serbien, bleibt aber beim Thema deutschsprachiger Quellen: Mit deutschsprachigen jüdischen Zeitungen, die in der aktuellen Europäischen Kulturhauptstadt Neusatz (sr. Novi Sad, ung. Újvidék) zwischen 1921 und 1941 erschienen sind, macht uns der Südosteuropa-Historiker Carl Bethke vertraut. Diese Presseerzeugnisse reflektieren ein unwiederbringlich verloren gegangenes kulturelles Milieu in der multiethnischen Stadt an der Donau. Mit dem nächsten Beitrag verlassen wir den postjugoslawischen Raum und begeben uns nach Siebenbürgen und auf eine Art Zeitreise, in das Spannungsfeld lange zurückliegender Jahrhunderte und ihrer Aneignung in der Neuzeit. Adinel C. Dincă hebt auf eine multiperspektivische Betrachtung der ganzen Bandbreite zur Verfügung stehender Quellen ab. Der Autor regt dazu an, historische Mythen und eingefahrene Stereotypen in Bezug auf die frühe Siedlungsgeschichte der Siebenbürger Sachsen auf den Prüfstand zu stellen. Mit einem Kapitel kulturpolitischer Verflechtungen im 20. Jahrhundert setzt sich Daniela Laube auseinander, und auch ihr Aufsatz führt uns die Relevanz von Archivstudien vor Augen: Anhand bisher noch nicht ausgewerteter Quellen präsentiert sie einerseits die Rezeption, andererseits die Deutschland-Aktivitäten des rumänischen Schriftstellers Liviu Rebreanu in der Zeit des Dritten Reichs. Die Nachwuchs-Ethnologin Bianca Hepp schließlich stellt ihr aktuelles Forschungsprojekt zu Zugehörigkeitskonzepten bei Nachkommen von (Spät-)Aussiedlern aus dem sathmarschwäbischen Ort Hamroth (rum. Homorodu de Jos, ung. Homoród) vor. In ihrem Text klingt bereits der Schwerpunkt der Spiegelungen-Ausgabe 1.23 zum Thema »Kind und Gesellschaft« an.

Im literarischen Teil kommen neue und der Leserschaft bereits vertraute Stimmen zu Wort: Zu den ersteren gehören die kroatische Publizistin, Autorin beziehungsweise Filmemacherin Kornelija Čilić, die auch als politische Aktivistin bekannt ist, und die im Kosovo geborene, in Deutschland aufgewachsene und in England lebende Publizistin sowie Literaturwissenschaftlerin Kaltërina Latifi. Der Gewinner des Rolf-Bossert-Gedächtnispreises 2022, Bastian Kienitz, ist ebenso zum ersten Mal in den Spiegelungen vertreten. Seine Gedichte sind intermediale Dialoge, auf die er in seiner Dankesrede bei der Preisverleihung einging. Die unserer Leserschaft bereits gut bekannte ungarische Schriftstellerin Noémi Kiss ist mit zwei Erzählungen aus ihrem gerade auf Ungarisch erschienen Donau-Band vertreten. Der bei dem diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnete Alexandru Bulucz knüpft lyrisch an Paul Celans alchimistische Formel solve et coagula an, während Franz Hodjak einen Einblick in seinen für 2023 geplanten neuen Band Im Ballsaal des Universums gewährt. Im diesmal etwas ausführlicheren lyrischen Teil finden Sie ferner Gedichte von Edith Ottschofski und Traian Pop. Rolf Bossert wäre dieses Jahr siebzig geworden, an ihn erinnern wir nicht nur mit den Texten von Bastian Kienitz, sondern auch mit den Notizen der Schriftstellerin Karin Gündisch aus dem Jahr 1984, in denen sie Gespräche mit Rolf Bossert über die Frage der Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland festgehalten hat. Der ebenso von ihr zur Verfügung gestellte Brief Bosserts vom Februar 1985 ergänzt die persönlichen Erinnerungen.

Im Feuilleton sucht Renata SakoHoess das prachtvolle gotische Grabmal der 1323 verstorbenen Königin Maria von Ungarn in Neapel auf und thematisiert dabei die mittelalterlichen Beziehungen zwischen den Dynastien Anjou und Árpád. Zoran Janjetović widmet sich hingegen einem tragischen Kapitel europäischer Zeitgeschichte im zweiten Beitrag zur Europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2022: Er erinnert an die Razzien in Novi Sad und in der südöstlichen Batschka in der Zeit der ungarischen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Vor achtzig Jahren, 1942, fielen diesen Gewaltmaßnahmen zahlreiche Juden und Serben zum Opfer.

Die Zusammenstellung »Aus dem IKGS« gibt Ihnen einen Überblick über die Vorträge, Projekte, Lehrtätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter im abgelaufenen halben Jahr.

Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) hat in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt (AA) das »Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine« auf den Weg gebracht. Baudenkmäler, Kunststätten, Archive und Bibliotheken, die akut von Kriegszerstörungen bedroht sind, sollen damit geschützt werden. Hier lässt sich erneut ein Bezug zu unserem Schwerpunktthema herstellen, zeigt doch der aktuelle Krieg, wie fragil Kulturgut in Krisenzeiten ist. Hinweise in einigen der Beiträge auf Zerstörungen während der zahlreichen Kriege des 20. Jahrhunderts, aber auch infolge von Naturkatastrophen wie Erdbeben, verdeutlichen diese Gefährdungssituation. Konkret engagiert sich das IKGS in diesem Bereich mit der Durchführung eines Drittmittelprojektes, in dessen Rahmen der Hauptgebäudekomplex der Nationale Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz (ukr. Чернівці, rum. Cernăuți), die ehemalige Residenz des orthodoxen Metropoliten für die Bukowina und Dalmatien und seit 2011 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, professionell digital erfasst und dokumentiert wird. Darüber hinaus können ihm Rahmen des Projektes drei Museen in der Region mit Material zur Sicherung der Ausstellungsobjekte ausgestattet werden.

In der Ukraine herrscht weiter Krieg, just auch in dem Augenblick, in dem Sie dieses Editorial lesen. Ein Ende der zerstörerischen Auseinandersetzung scheint noch immer in weiter Ferne zu liegen. Die anhaltenden Angriffe der russischen Streitkräfte auf die zivile Infrastruktur des Nachbarlandes, durch welche die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, Strom und Energie beeinträchtigt wird, verschlimmert die allgemeine Situation, gerade in der kalten Jahreszeit. Das IKGS unterstützt im Rahmen seiner Spendenaktion »Bukowinahilfe« (nähere Informationen dazu unter: www.ikgs.de/bukowinahilfe) nach wie vor seine ukrainische Partnerorganisation, das Zentrum Gedankendach an der Nationalen Jurij-Fedkowitsch-Universität in Czernowitz. Dort wird besonders Binnenflüchtlingen geholfen, die aus der heftig umkämpften Ostukraine kommen und in der frontfernen Bukowina, unweit der Grenze zu Rumänien, Zuflucht gesucht haben. Das IKGS bedankt sich bei allen Spenderinnen und Spendern, die bis jetzt zum Gelingen der Hilfsaktion beigetragen haben. In Anbetracht der anhaltend prekären Situation vor Ort sind wir und unsere Kolleginnen und Kollegen vom Zentrum Gedankendach nach wie vor für jede kleine und große Spende dankbar.

Eine anregende und zugleich unterhaltsame Lektüre wünscht Ihnen Ihre Spiegelungen-Redaktion

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 7–9.