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Einleitung: Kind und Gesellschaft

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Von Enikő Dácz und Tobias Weger

Das rege Interesse, auf das unser Call for Papers für den aktuellen Themenschwerpunkt gestoßen ist, zeigt einerseits, dass die Fragen der außerschulischen Sozialisierung, Bildung und Erziehung von Kindern der deutschen Bewohner im südöstlichen Europa im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart ein nur teilweise erschlossenes Forschungsfeld mit zahlreichen neuen Ansätzen ergeben. Andererseits haben die ausgewählten Aspekte des Themas den Rahmen eines Heftes gesprengt, sodass wir uns ihnen auch in der Ausgabe 2.23 widmen werden. Ziel ist es dabei, neue Fragestellungen anzuregen, wie dies Dagmar Seck (Nürnberg) in ihrer Studie tut, aber auch „Nebenprodukte“ langjähriger umfassender Projekte in den Mittelpunkt zu rücken wie im Falle der Beiträge von Bence Ament-Kovács und Ágnes Tóth (Budapest) oder Bianca Hepp (Tübingen).

Wir erweiterten im Lichte der eingereichten Vorschläge nicht nur den ursprünglich geplanten Umfang, sondern auch den zeitlichen Rahmen: Nóra Tar (Klausenburg/Cluj-Napoca) führt in die Welt der Kinderschauspieler, Schauspielerkinder oder junger Schauspieler ins 19. Jahrhundert und analysiert ein Lustspiel von Johann Baptist Hirschfeld, das in Temeswar/Timișoara/Temesvár und Ofen/Buda aufgeführt wurde und Traditionen der sächsischen Typenkomödie der Aufklärung, der aufklärerischen Kinderschauspiele und des Berufstheaters mit Kindern im 19. Jahrhundert miteinander verflicht. Dagmar Seck (Nürnberg) vergleicht zwei Bücher mit Kindergedichten von Helene Platz und Doris Hutter in siebenbürgisch-sächsischer Mundart, zwischen dessen Erscheinen 76 Jahre liegen. Der Beitrag geht der Frage nach, warum das ältere der beiden auch heute noch so viel bekannter ist, und lässt sich als ein kleines Mosaikstück zur Geschichte der rumäniendeutschen Kinder- und Jugendliteratur betrachten,[1] während die Mundart in Zitaten in den Vordergrund rückt.

Nach diesen literarischen Aspekten widmen sich Bence Ament-Kovács und Ágnes Tóth (Budapest) den Ereignissen der Zwangsmigration in der kindlichen Erinnerung. Sie untersuchen, wie sich Zugehörige der deutschen Minderheit in Ungarn an die Ereignisse der Zwangsmigration erinnern, die sie als Kind erlebt haben. Vor der historischen Kontextualisierung, die diese Studie bietet, ist auch der Aufsatz von Adelheid Manz (Frankenstadt/Baja) zur Sprachsituation der Ungarndeutschen heute zu lesen. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem vorschulischen Bereich, auf dem Angebot und dem Bedarf an deutschsprachiger Sozialisierung in Kinderkrippen. Ausgehend von zwei Umfragen thematisiert die Autorin die neu geregelten sprachlichen Bildungsmöglichkeiten für Kleinkinder.

Bianca Hepp (Tübingen) untersucht am Beispiel von Kindern von „(Spät-)Aussiedler:innen” vergemeinschaftende Praktiken in Hamroth (rum. Homorodu de Jos, ung. Alsóhomoród) in Rumänien und fragt nach der Verhandlung von Zugehörigkeit. Der Verwandtenbesuch erweist sich den von Seck untersuchten Kinderreimen ähnlich als ein Ritual, dessen Bedeutung durch die Erfahrung der Wiederholung eingeübt wird.

Die wissenschaftlich untersuchten Verflechtungen der Vergangenheit und Gegenwart (etwa erinnerte Zwangsmigration oder Heimfahrten) in der außerschulischen kindlichen Sozialisation erlangen im Literaturteil dieses Heftes neue Dimensionen. Die Texte von Eginald Schlattner, Karin Gündisch, Ágnes Relle, Jan Cornelius, Panni Puskás und Ákos Kormányos bieten die divergierendsten Perspektiven auf zentraleuropäische Kindheiten der Vergangenheit und Gegenwart. Bei allen Unterschieden ist ihnen die kindliche Schonungslosigkeit gemein, die über Sprach- und geografischen Grenzen hinweg zwischen Witz, Ironie und Tragik oszilliert.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 11–12.

[1] Siehe Annemarie Weber, Petra Josting, Norbert Hopster (Hgg.): Rumäniendeutsche Kinder- und Jugendliteratur 1944–1989. Eine Bibliographie. Köln 2004.