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Einleitung: Idealisierte Heimaten

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»Heimat« ist längst nicht mehr nur der Stoff, aus dem eine schier unüberschaubare Menge an Literatur und bildender Kunst geformt wurde – Begriff und Thema entwickelten sich in den vergangenen Jahren zunehmend zum Untersuchungsgegenstand für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Im Mittelpunkt steht dabei in der Regel die besondere Beziehung zwischen Individuum beziehungsweise Kollektiv und Raum. Eine »idealisierte Heimat« steht folgerichtig für eine idealtypische Form dieses Verhältnisses, wie es vor allem in migrantisch geprägten Dispositiven zu finden ist. Die Beiträge des wissenschaftlichen Schwerpunktthemas der vorliegenden Ausgabe der Spiegelungen begeben sich auf die Suche nach den verschiedenen Ausprägungen dieses Beschreibungskonzepts. Die von diversen Migrationsformen geprägte Geschichte des östlichen und südöstlichen Europa im 20. und 21. Jahrhundert bietet sich dabei in besonderer Weise an, dieses emotionsbehaftete und facettenreiche Konzept zu untersuchen.[1] Bewusst wurde für den Titel der Plural gewählt, um die oftmals gewählte Option für mehrere »Heimaten« zu markieren. Diesen hier untersuchten Konzepten von Heimat steht in der Regel eine Diaspora- oder eine Exilsituation in der ersten oder zweiten Generation gegenüber.

Für die exemplarische und interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dieser Thematik, von der wir uns Impulse für die Geschichte des Donau-Karpaten-Raums erhoffen, haben wir uns entschlossen, den engeren Arbeitsbereich der Spiegelungen zu erweitern, und widmen uns diesmal neben der ungarndeutschen Lyrik auch den Russlanddeutschen, den Mennoniten, Exilanten in Neuseeland und deutschsprachigen Juden in Israel.

Der Historiker Jannis Panagiotidis (Osnabrück) eröffnet mit seinem den russlanddeutschen Heimatdiskursen nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmeten Beitrag das Spannungsfeld zwischen »alter« und »neuer« Heimat, »Wahlheimat« und »Urheimat «, »Vaterland« und »Mutterland«. Der einschlägige Diskurs der im Westen angekommenen Russlanddeutschen mit ihrer »diasporischen Herkunft« ließe sich als ein »Kontinuum von Heimaten« beschreiben und unterscheide sich somit erheblich vom essentialistischen, »Heimkehr-fixierten« Diskurs der großen Vertriebenenverbände.

Einer speziellen Gruppe von Deutschen (beziehungsweise nach anderer Argumentation: Holländern) im östlichen Europa widmet sich der Germanist und Plautdietsch- Forscher Heinrich Siemens, wenn er die Mennoniten als eine Gruppe beschreibt, die sich von einer Religions- zu einer Kulturgemeinschaft entwickelt hat. An die Stelle einer geografischen Heimat sei die soziale Gemeinschaft getreten. Heimat habe auf diese Weise radikal an Mobilität gewonnen: Man könne sie, samt Sprache, Glaube, Tradition, Kultur bis hin zu den Siedlungsbezeichnungen von Kontinent zu Kontinent, freilich um den Preis der kollektiven Abschottung, mitnehmen. Migration steht hier nicht für Veränderung, sondern für Erhalt eines Status quo, der einer idealisierten Gemeinschaft im mennonitischen Sinne ähnelt.

Einen annährend gegenteiligen Prozess beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Monica Tempian (Wellington), wie ihn die 1904 in Berlin geborene, aus einer jüdischen Familie stammende Schauspielerin Maria Dronke nach ihrer Flucht ins neuseeländische Exil erlebt und gestaltet: »Ins Paradies verjagt« sein bedeutete für sie, mit ihrem neuen Umfeld in einen intensiven künstlerischen Dialog zu treten und so der Erschütterung ihrer Identität einen Sinn zu geben. Im humanistischen, weltbürgerlichen Wirken habe Dronke ihre ideale neue Heimat gefunden.

Die Literaturwissenschaftlerin Eszter Propszt (Szeged) widmet sich in ihrer Studie Heimatkonzepten in der ungarndeutschen Literatur in Ungarn seit den 1970er-Jahren. Auf Erkenntnissen der kognitiven Linguistik und der kognitiven Literaturwissenschaft aufbauend, fragt sie nach dem »Enthaltensein-Konzept« (Zugehörigkeit, Geborgensein, Partizipation) in der Lyrik und identifiziert es als ein »führendes Heimat-Konzept der ungarndeutschen Literatur« in den 1970er- und den 1980er-Jahren und darüber hinaus. Wesentlich dabei erscheint die Feststellung, dass der »Außenraum« verloren gegangen sei – eine gleichsam ‚erkaltende‘ Heimat, die sich zunehmend als feindlich erweist. Was bleibt, ist ein vergeistigtes, auf die Essenz reduziertes, idealisiertes, in die Vergangenheit gerichtetes »Ungarndeutschtum« als Identifikationsangebot.

Die Publizistin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Dachs (Jerusalem) fragt in ihrem Aufsatz nach der Qualität von »virtueller Heimat«, wie sie eventuell beim Konsum deutschsprachiger Medien in Israel entstehen kann und auch Jahrzehnte nach der Auswanderung einen inneren Zwiespalt zwischen »sprachlicher Heimat« einerseits und »Nicht-mehr-dazugehören« andererseits eröffnet. Wie wir es beispielsweise auch von nach Deutschland ausgesiedelten Rumäniendeutschen kennen, brachte die Ausreise nach Israel einen identitätsbezogenen plot twist mit sich: In Deutschland vornehmlich als Jude wahrgenommen, würde man in Israel nun vor allem im Kontext des Herkunftslands gesehen. Die »Diasporisierung« lebe somit fort, an die Stelle eines Entweder- oder trete die Option des Sowohl-als-auch. Der Konsum transnationaler (deutschsprachiger) Medien führt jedoch keineswegs immer zu stärkerer Identifikation, sondern vergrößert in vielen Fällen die Distanz, sodass eine Idealisierung der »alten Heimat« kaum infrage kommt. Die Angebote einer zumindest punktuell praktizierten, emotionalen »place polygamy«, die Verbundenheit mit mehreren Orten in verschiedenen Kulturen, findet ihre Limitierung in handfesten Krisensituationen: »Geografie bestimmt die Identität, wenn Gefahr in Verzug ist.«

Florian Kührer-Wielach

Erfahren Sie hier mehr über dieses Heft.

 

[1] Vgl. beispielsweise Cornelia Eisler: Verwaltete Erinnerung – symbolische Politik. Die Heimatsammlungen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler. München 2015 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 57); Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2017), Jg. 12 (66), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 9–10.

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