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Einleitung: Konzepte des Kollektiven

Benennungen deutscher Gruppen in Südosteuropa, deren Genese, Funktion und Bedeutung

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Wer sich mit deutscher Kultur und Geschichte in Südosteuropa befasst, stößt unweigerlich auf Kollektivbegriffe, mit denen eine lokalisierbare Gruppenzuschreibung sprachlich mitkonstituiert worden ist. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass – abgesehen von den bereits ins Mittelalter zurückreichenden Begriffsbildungen um Zipser und Siebenbürger Sachsen – viele Gruppenbenennungen, die etwa auch in den Namen von Landsmannschaften, Kultureinrichtungen, Presseorganen und anderen Institutionen und Medien auftauchen, Produkte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts sind, ja zum Teil sogar erst im Laufe des 20. Jahrhunderts etabliert worden sind. Mit der ethnischen Zuschreibung »Deutsche« wurden die Namen von Regionen beziehungsweise Verwaltungsgliederungen verbunden – etwa im Falle der »Bukowinadeutschen«, »Galiziendeutschen«, »Bessarabiendeutschen« oder »Dobrudschadeutschen«. In anderen Fällen wählte man für das Kompositum geografische Komponenten wie Gebirgszüge – man denke etwa an die »Alpendeutschen«, die »Sudetendeutschen« oder die »Karpatendeutschen«. Das Verständnis moderner Nationalstaaten und die Idee des Minderheitenschutzes führte zu Meta-Kollektiven wie »Ungarndeutsche«, »Rumäniendeutsche«, »Slowakeideutsche« oder »Jugoslawiendeutsche«, die zum Teil historisch, konfessionell und sozial sehr heterogene Teilgruppen subsumierten. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts versuchte man sogar, durch den Sammelbegriff »Südostdeutsche« noch eine weitere Metaebene einzuführen. Wieder andere Bezeichnungen gehen auf Außenperspektiven und Raffungen zurück – so wird von »Donauschwaben« gesprochen, obwohl deren Vorfahren nicht ausschließlich aus dem schwäbischen Sprachgebiet nach Südosteuropa ausgewandert sind.

Konzepte des Kollektiven haben ihre Geschichte, und sie erfüllen unterschiedliche Funktionen: Als deskriptive Begriffe können sie dem Bedürfnis entspringen, Angehörige einer bestimmten Ethnie, die in einer Region lebten, unter einer Bezeichnung zusammenzufassen und damit eine allgemeine Verständigungsgrundlage zu liefern. Nicht selten entspringen sie dem seit dem 19. Jahrhundert im deutschen Diskurs verbreiteten Bestreben, die Deutschen als eine Gesamtheit unterschiedlicher Stammesgemeinschaften zu imaginieren. Konzepte des Kollektiven können aber auch einen normativen Anspruch verfolgen, indem sie terminologisch einen Vergemeinschaftungsprozess festschreiben und bestimmte Menschen als nicht der Gruppe zugehörig erklären. Das mussten im 18. Jahrhundert bereits die von den Habsburgern vor allem aus Kärnten und dem Salzkammergut nach Siebenbürgen verbannten Protestanten, die »Landler«, erfahren. Mit den seit Jahrhunderten in der Region lebenden Siebenbürger Sachsen bildeten sie als Lutheraner zwar eine Konfessionsgemeinschaft, doch wurden sie nicht in deren nach ständischen Prinzipien verfasstes Kollektiv aufgenommen. Mit der zunehmenden Bedeutung des »Rassegedankens« im Zuge nationalistischer und alldeutscher Bestrebungen in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erhielten Konzepte des Kollektiven ebenfalls einen distinguierenden, ausgrenzenden Charakter. Ausgeschlossen wurden häufig zwei- oder mehrsprachige Gemeinschaften ohne eindeutiges Identitätsbekenntnis, vor allem aber die Juden, auch dann, wenn sie sich selbst als Träger deutscher Kultur und Geschichte empfanden. Kollektivbegriffe, die um 1900 in Gebrauch kamen, beschränkten sich demnach auf christliche Deutsche. Die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts verstärkten oftmals die kollektiven Kohäsionsprozesse und den zugehörigen Sprachgebrauch, indem sie emotional fundierte »Schicksalsgemeinschaften« hervorbrachten.

Die Aufsätze des Themenschwerpunkts befassen sich exemplarisch mit Konzepten des Kollektiven in Bezug auf die Deutschen in Südosteuropa und spüren deren Genese, Funktion und Bedeutung in unterschiedlichen Zusammenhängen nach. Mit einem innovativen Ansatz geht Cornelia Eisler (Oldenburg) der Frage nach, wie digitale Sprachdaten für die Ermittlung von Begriffsgeschichten der »Deutschen im Ausland« nutzbar gemacht werden können, und zeigt dabei Möglichkeiten, aber auch Grenzen dieses Vorgehens auf. Gerhard Seewann (München) präsentiert in der Perspektive einer »longue durée« die gewandelten Bezeichnungen für die deutschen Siedler in Ungarn. Mit dem Terminus »Bukowinadeutsche« befasst sich Maren Röger (Augsburg), während Hans-Christian Petersen (Oldenburg) der Begrifichkeit »Bessarabiendeutsche« nachspürt. Die Bezeichnung »Galiziendeutsche« untersucht Isabel Röskau-Rydel (Krakau/Kraków); Tobias Weger (München) behandelt die kollektive Benennung »Karpatendeutsche«, die im Laufe des 20. Jahrhunderts eine räumliche Verengung erfahren hat.

Mit dieser Zusammenstellung strebt das IKGS keine enzyklopädische Vollständigkeit aller Begrifichkeiten an, sondern möchte anhand ausgewählter Beispiele das Bewusstsein für die Zeitgebundenheit und die Konstruktion solcher Konzepte schärfen.

Tobias Weger

Erfahren Sie hier mehr über dieses Heft.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 9–10.

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