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Von Angela Ilić

Der Themenschwerpunkt des vorliegenden Heftes widmet sich der Vorstellung ausgewählter Archivbestände, Sammlungen und Digitalisierungs- sowie Forschungsprojekte in Kroatien mit deutschem Bezug. Damit möchte die Redaktion der Spiegelungen Aufmerksamkeit auf die Rolle der Archive für die Aufbewahrung des schriftlichen Kulturerbes in Kroatien lenken, besonders in jenen Regionen und Städten, die historisch multikulturell und mehrsprachig geprägt waren. In diesem Sinne dient das aktuelle Heft als Fortsetzung der Ausgaben 1/2018 und 2/2018 zu „Archiven in Rumänien I und II“, die sich der Darstellung von Archivmaterial mit deutschem Bezug in Archiven und Sammlungen sowie im Rahmen von laufenden Erschließungs-, Konservierungs- und Forschungsprojekten in Rumänien gewidmet haben.

Auch auf der vom IKGS gemeinsam mit dem Staatsarchiv Pazin und der Juraj-Dobrila-Universität in Pola (kr. Pula, sl. Pulj) im Oktober 2019 im istrischen Mitterburg (kr. Pazin, it. Pisino) veranstalteten internationalen Tagung „Writing History in Multicultural Regions of Southeastern Europe. The Role of Special Libraries and Archives“ stand das Thema der Aufbewahrung von schriftlichem und materiellem Archivgut in sprachlich-kulturell gemischten Gegenden im Mittelpunkt. Ausgewählte Beiträge der Konferenz, die sich unter anderem auf Istrien, Rijeka (dt. hist. St. Veit am Pflaum, it. Fiume) und Südtirol (it. Alto Adige) beziehen, wurden im Jahrbuch Vjesnik istarskog arhiva [Bote des Istrischen Archivs] veröffentlicht und sind auch online verfügbar.[1]

Zahlreiche Regionen, die heute die Republik Kroatien bilden, kamen durch ihre bewegte und oft turbulente Geschichte in Berührung mit der deutschen Sprache und Kultur. Die vielfältigen deutschsprachigen schriftlichen Spuren in den Archiven und Bibliotheken Kroatiens reichen vom habsburgischen Erbe in Dalmatien, Istrien und im (ehemals österreichischen) Küstenland über die deutsche Besatzung verschiedener Gebiete während des Zweiten Weltkriegs bis zu den Donauschwaben, die überwiegend in Slawonien (kr. Slavonija, ung. Szlavónia), (Süd-)Baranja (ung. Baranya) und Syrmien (kr. Srijem, ung. Szerémség) lebten.

Deutsche Kultur und Sprache beeinflussten zahlreiche Bereiche des Lebens in Kroatien, darunter das Schulsystem und Bildung, Musik und Theater, Wissenschaft und Architektur. Auch in den Archivbeständen von Religionsgemeinschaften befinden sich zahlreiche Dokumente in deutscher Sprache.[2] Im Rahmen einer großangelegten Maßnahme wurden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Matrikelbücher in Kroatien fotografiert und digital zugänglich gemacht.[3]

In der Zwischenkriegszeit lebten ungefähr 500.000 Deutsche im Königreich Jugoslawien, knapp 100.000 von ihnen auf dem Boden der heutigen Republik Kroatien. Durch Flucht, Internierung, Ermordungen und Zwangsassimilation sank ihre Zahl bis zum Jahr 1948 (laut den Ergebnissen der Volkszählung) auf 10.000. Im sozialistischen jugoslawischen Staat war bekannterweise alles, was die (ehemaligen) deutschsprachigen Einwohner des Landes betraf, jahrzehntelang ein öffentliches Tabuthema. Es überrascht nicht, dass ihre Geschichte stark untererforscht und unbekannt geblieben ist.

Einen großen Verdienst bei der kritischen Aufarbeitung dieses früheren Tabuthemas hatten in den letzten Jahrzehnten vor allem Schriftsteller. Slobodan Šnajder und Miljenko Jergović gehören zu den Autoren, die das Schicksal der deutschen oder deutschsprachigen Einwohner Kroatiens beziehungsweise Jugoslawiens in ihren Werken – vor allem aus autobiografischer Perspektive – thematisiert haben, und deren Namen auch der deutschsprachigen Leserschaft bekannt sind.[4]

Auch in der Wissenschaft gibt es in jüngster Zeit vermehrt Projekte, Veröffentlichungsreihen und Einzelveröffentlichungen,[5] die sich unter anderem der deutschsprachigen Kulturproduktion und dem Zeitungswesen oder den kroatisch-deutschen Verbindungen widmen.[6] Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle die Werke Vladimir Geigers, der sich seit den 1990er-Jahren der Erforschung der Geschichte der deutschen Minderheit in Kroatien widmet.

In den vergangenen Jahren wurden auch vereinzelt Beiträge veröffentlicht, die sich Archiv- beziehungsweise Bibliothekssammlungen deutschsprachiger Quellen widmen: Von diesen sind vor allem die Werke von Bruno Dobrić, des langjährigen Leiters der Universitätsbibliothek in Pola,[7], zu der auch die k. u. k. Marinebibliothek gehört,[8] hervorzuheben. Auch in der Rubrik „Europäische Kulturhauptstädte“ im Heft 1/2022 der Spiegelungen erschien ein einschlägiger Aufsatz zu den im Staatsarchiv Rijeka aufbewahrten und zum Teil auf Deutsch geführten Matrikelbüchern.[9] Trotzdem mangelt es weiterhin an überblickartigen und transregionalen Studien.

Eine allumfassende Darstellung der in Kroatien aufbewahrten einschlägigen Archivbestände ist im vorliegenden Heft aus zahlreichen Gründen nicht möglich. Neben den Einschränkungen des Mediums muss auch auf die Tatsache hingewiesen werden, dass – anders als in Rumänien –, die überwiegende Mehrheit der deutschsprachigen Bürger das Land bereits im Zuge des Zweiten Weltkriegs oder unmittelbar danach verlassen hat. Ihre Nachkommen leben in der Regel nicht in Kroatien, und sie haben in den meisten Fällen keine Anbindung an die einstige Heimat ihrer Vorfahren. Dadurch werden das materielle und immaterielle Erbe der Deutschen und Deutschsprachigen in der kroatischen Öffentlichkeit vergleichsweise weniger sichtbar.[10]

Wertvolle Archivbestände – vor allem in Slawonien – sind in den vergangenen Jahrzehnten kriegerischen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen: Archiv- und Bibliotheksbestände wurden im Zweiten Weltkrieg ebenso wie im Kroatienkrieg 1991–1995 beschädigt, geplündert oder zerstört. Auch vor Naturkatastrophen blieben die Archivbestände nicht verschont: Das Staatsarchiv in Zagreb ist bei den Erdbeben am 22. März 2020 (mit Epizentrum bei Zagreb) und am 29. Dezember 2020 (mit Epizentrum bei Petrinia in Zentralkroatien) stark beschädigt worden; ein Teil der Bestände musste vorübergehend verlagert werden. Das Erdbeben vom 29. Dezember 2020 brachte verheerende Schäden mit sich und beschädigte unter anderem auch die Gebäude des Staatsarchivs in Sissek (kr. Sisak) und des Sammlungsarchivzentrum in Petrinia (kr. Petrinja). Die betroffenen Archive mussten ihre Ressourcen dementsprechend deutlich intensiver auf die Konservierung der Bestände und die Sanierung der Gebäude konzentrieren. Der in zahlreichen Institutionen bereits herrschende Personalmangel spitzte sich durch die Corona-Pandemie noch weiter zu.

Die verheerenden Schäden haben gleichzeitig die Notwendigkeit der Entwicklung einer umfassenden Digitalisierungsstrategie offenbart. Auch im vorliegenden Heft werden in mehreren Beiträgen ausgewählte Digitalisierungsprojekte und Online-Datenbanken erwähnt und vorgestellt. Dazu gehören das kroatische nationale Archivinformationssystem Arhinet[11] und die kroatischen Sammlungen auf dem in Österreich angesiedelten europaweiten interaktiven Online-Archivportal Topothek.[12]

Trotz aller Einschränkungen wird im Folgenden eine geografisch, zeitlich und thematisch vielfältige Palette von Beständen mit deutschem Bezug präsentiert. Nicht ohne Grund stammen jeweils mehrere Beiträge aus Zagreb und Osijek – die historischen Städte Agram und Esseg(g)/Essek bildeten – und bilden im demografischen Sinne auch noch heute – wichtige Zentren deutscher Kultur in Kroatien.

Im ersten Beitrag stellt Rajka Bućin die zum Teil deutschsprachigen Quellen im Kroatischen Staatsarchiv vor, die mit der Erforschung des Holocausts in Kroatien im Zusammenhang stehen und geht auch der Rolle verschiedener Institutionen des Dritten Reichs nach. Katarina Horvat führt die Leserschaft durch die zahlreichen und vielfältigen Quellen mit deutschem Bezug aus der Geschichte der kroatischen Hauptstadt im Staatsarchiv in Zagreb. Ebenfalls aus Zagreb berichtet Vlatka Lemić über das laufende Projekt der Errichtung und Erschließung eines institutionellen Archivs an der Universität Zagreb.

Tihomir Engler (Josip-Juraj-Strossmayer-Universität Osijek) und Thomas Möbius (Justus-Liebig-Universität Gießen) stellen ihr gemeinsames Digitalisierungsprojekt ausgewählter historischer deutschsprachiger Zeitschriften aus Esseg vor. Ljubica Kordić von der Josip-Juraj-Strossmayer-Universität in Osijek widmet sich seit Jahren der Erforschung der Rolle der deutschen Sprache im Esseger Schulwesen.[13] In ihrem Beitrag listet sie die wichtigsten Quellen zu diesem Thema im Staatsarchiv Osijek und im Museum Slawoniens auf.

Aus dem ehemals habsburgischen Teil Istriens kommt der Beitrag von Maja Milovan, die die im Staatsarchiv Pazin aufbewahrten deutschsprachigen Quellen vorstellt.

Auch die Region Dalmatien ist mit einem Beitrag vertreten: Den Aufsatz von Ankica Strmota und Dubravka Kolić zu den Beständen im Staatsarchiv Zadar, der 2017 im Sammelband Kroatiens Küste im Lichte der Habsburgermonarchie erschien, drucken wir mit freundlicher Erlaubnis der new academic press nach.[14]

An dieser Stelle möchte ich mich bei Dr. iur. Mirela Mrak Kliman, der Direktorin des Staatsarchivs Pazin und bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken, die mir bei der Vorbereitung dieses Themenschwerpunktes unterstützend zur Seite standen und auch das Titelbild des Heftes zur Verfügung stellten. Mein Dank gilt auch allen Autorinnen und Autoren, die sich Zeit genommen haben – häufig neben ihrer Vollzeitbeschäftigung –, meiner Anfrage nachzukommen und sich in ihren Beiträgen diesem Thema zu widmen.

Ich hoffe, die Texte werden als Impuls für eine weitere Entdeckung des reichen und vielfältigen Kulturerbes Kroatiens dienen.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 11–14.

 

[1] Vjesnik istarskog arhiva [Bote des Istrischen Archivs] 28 (2021), S. 139–228. Die – mehrheitlich kroatischsprachigen – Texte, mit jeweils auch englischer und italienischer Zusammenfassung, sind auf dem kroatischen wissenschaftlichen Portal hrčak verfügbar: <https://hrcak.srce.hr/broj/21079> (18.7.2022).

[2] Vgl. z. B. Dražen Kušen: Arhivi vjerskih zajednica u sjevernoj Hrvatskoj. Razvoj, tipologija, sadržajni značaj [Archive der Religionsgemeinschaften in Nordkroatien. Entwicklung, Typologie, inhaltliche Bedeutung]. Osijek 2018.

[3] Die Bestände sind auf der Webseite von Family Search zu finden, die von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage betrieben wird: <www.familysearch.org>, 28.9.2022. Auf dem Internetportal für Kirchenbücher, Matricula, gibt es zurzeit noch keine Beiträge aus Kroatien: <http://data.matricula-online.eu> 28.9.2022. Eine Liste von Kirchenbücher-Beständen in ausgewählten staatlichen Archiven in Kroatien befindet sich im Entstehen auf Arhinet, <www.arhinet.arhiv.hr>, (5.10.2022).

[4] Šnajders thematisch einschlägiger Roman Doba mjedi (Zagreb 2015) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die deutsche Übersetzung, Reparatur der Welt, erschien 2019 in Wien. Von Jergovićs Werken wurden bis dato elf ins Deutsche übersetzt; besonders relevant hier ist der Roman Rod (Zagreb 2013), der unter dem Titel Die unerhörte Geschichte meiner Familie 2017 in Frankfurt am Main in deutscher Sprache erschien.

[5] Vgl. z. B. Thomas Möbius, Tihomir Engler (Hgg.): Zwischen Assimilation und Autonomie. Neuere Forschungsaspekte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Minderheit in Kroatien. Berlin 2019; Ivana Jozić et al. (Hgg.): Aspekte kultureller Identität. Beiträge zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Minderheit in Kroatien. Berlin 2019; Carl Bethke: Deutsche und ungarische Minderheiten in Kroatien und der Vojvodina 1918–1941. Identitätsentwürfe und ethnopolitische Mobilisierung. Wiesbaden 2009; ders.: (K)Eine gemeinsame Sprache? Aspekte deutsch-jüdischer Beziehungsgeschichte in Kroatien. Vom Zusammenleben zum Holocaust, 1900–1950. Berlin 2013; Goran Beus Richembergh: Deutsche in Zagreb und Umgebung durch die Jahrhunderte. Essays und Notizen zu vergangenen Zeiten und vergessenen Menschen / Nijemci u Zagrebu i okolici kroz stoljeća. Eseji i bilješke o prošlim vremenima i zaboravljenim ljudima. Zagreb, Sarajevo 2021.

[6] Zu diesen Entwicklungen vgl. Zoran Janjetović: Jugoslawiendeutsche in den post-jugoslawischen Historiografien und der Öffentlichkeit. In: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas 16 (2021) H. 2, S. 215–218.

[7] Vgl. u. a. Bruno Dobrić: Novine i časopisi na njemačkom jeziku u Istri (1871.–1918.) [Zeitungen und Zeitschriften in deutscher Sprache in Istrien, 1871–1918]. Pula 2016; ders.: Die deutschsprachige Presse in Pola (Pula), Abbazia (Opatija) und auf den Brionischen Inseln bis 1918. In: Aneta Stojić, Anita Pavić Pintarić (Hgg.): Kroatiens Küste im Lichte der Habsburgermonarchie. Wien 2017, S. 265–288.

[8] Der historische Autorenkatalog der Marinebibliothek wurde digitalisiert und ist verfügbar unter <http://www.skpu.hr/katalog/katmarine-ABC.html>, 21.9.2022. Mehr über die Bestände in der Marinebibliothek erfahren Sie unter <https://skpu.unipu.hr/skpu/de>, 22.9.2022.

[9] Angela Ilić: Europäische Geschichte im Kleinen. Die Matrikelbücher der evangelischen Kirchengemeinde in Rijeka (1858–1957). In: Spiegelungen 17 (2022) H. 1, S. 63–78, online verfügbar unter <https://spiegelungen.net/rijeka-matrikel>, 27.7.2022.

[10] Zu den Ausnahmen gehören, unter anderen, die Gemeinschaftsorganisationen der Deutschen in Zagreb, Osijek, Vukovar und Sirač, die die Interessen der deutschen (und österreichischen) Minderheit in der kroatischen Politik und Gesellschaft vertreten, wie ein Abgeordneter, der – neben weiteren Minderheiten – auch die deutsche Minderheit im kroatischen Parlament vertritt.

[11] Arhinet, <http://arhinet.arhiv.hr>, 28.9.2022.

[12] Topothek <https://www.topothek.at/de/unsere-topotheken/>, 28.9.2022.

[13] Ljubica Kordić: Njemački jezik u školstvu i javnom životu grada Osijeka kroz povijest [Die deutsche Sprache im Bildungswesen und öffentlichen Leben der Stadt Osijek im Wandel der Geschichte]. Osijek 2021.

[14] Aneta Stojić, Anita Pavić Pintarić (Hgg.): Kroatiens Küste im Lichte der Habsburgermonarchie. Wien 2017.