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Der Literaturvermittler Ernest Wichner wird 70 Jahre alt

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Blickt man auf das bisher erschienene Werk Ernest Wichners zurück, so fällt es schwer zu glauben, dass dies alles in ein einziges Leben passt. Wichner ist Autor, Übersetzer, Herausgeber und Literaturkritiker, hat zahlreiche Ausstellungen konzipiert und begleitet, Autorinnen und Autoren gefördert und ist ein begnadeter Literaturvermittler. Viele Brücken hat er vor allem in den Osten Europas geschlagen, jenen Sprach- und Literaturraum, in dem er tief verwurzelt ist.

Geboren wurde Ernest Wichner am 17. April 1952 im rumänischen Guttenbrunn (rum. Zăbrani, ung. Temeshidegkút) im Kreis Arad im Westen Rumäniens. Die Sprachen und Kulturen der Kindheit prägen seine Texte; die Verbundenheit mit dem Rumänischen wird seine späteren Übersetzungen überhaupt erst ermöglichen. In Temeswar (rum. Timișoara, ung. Temesvár) besuchte Wichner das Nikolaus-Lenau-Lyzeum, in dessen Absolventenliste viele rumäniendeutsche Autorinnen und Autoren stehen.

Schon als Schüler trat Wichner mit literarischen Texten an die Öffentlichkeit. Auch hierbei handelt es sich um ein Jubiläum, denn vor 50 Jahren, 1972, fand sich erstmals ein Kreis junger Autoren zusammen, zu dem neben Richard Wagner, Albert Bohn, Rolf Bossert, William Totok und Gerhard Ortinau eben auch Ernest Wichner zählte: Die Aktionsgruppe Banat, der vorwiegend Literaturinteressenten um die 20, Schüler und Studenten, angehörten, sollte Literaturgeschichte schreiben und prägte die rumäniendeutsche Literatur und deren Rezeption. „Wir mußten neu beginnen und mit uns mußte die ‚rumäniendeutsche Literatur‘ neu beginnen“, schreibt Wichner 20 Jahre nach dem erzwungenen Ende der Aktionsgruppe in dem von ihm herausgegebenen Band Ein Pronomen ist verhaftet worden. Texte der Aktionsgruppe Banat. Zeuge dieses Neubeginns, der auch und vor allem ein sprachlicher Aufbruch war, sind kürzere Prosatexte und Gedichte Wichners aus dieser Zeit. Experimentell entfernt er sich darin von der konformistischen Literatur der Eltern- und Großelterngeneration, hinterfragt die eigene Herkunft und seine unmittelbare Lebenswirklichkeit. Es ist der Versuch einer Befreiung aus einer doppelt einengenden Gesellschaft: der des sich nur mühselig öffnenden politischen Rumäniens der 1970er-Jahre und der der engen banat-schwäbischen Gemeinschaft, die Lebenswege vorzeichnete und Andersartigkeit keinen Platz bot. Ein Aufbegehren mit dem Blick nach Westen, mit westlicher Kleidung und übrigens auch langen Haaren, die Wichner auf Fotos aus dieser Zeit trägt. Der Wunsch nach Veränderung einerseits, andererseits werden in den Texten auch die Grenzen der Sprache und die Grenzen des Sagbaren im Rumänien unter Nicolae Ceaușescu ausgelotet. Zumindest bis 1975, dem Jahr, in dem die Aktionsgruppe aufgelöst wurde, öffnete sich dafür ein kleiner Freiraum.

1975 ist auch das Jahr, in dem Ernest Wichner in die Bundesrepublik auswanderte und kurz darauf in den Westteil Berlins zog. Dorthin, wo Oskar Pastior schon seit einiger Zeit lebte und Mitglieder der Aktionsgruppe wie Richard Wagner und William Totok in den 1980er-Jahren folgen sollten.

Wichner, der 1973/74 in Temeswar ein Studium der Germanistik und Rumänistik begonnen hatte, schreibt sich an der Freien Universität Berlin für Germanistik und Politikwissenschaft ein. Es folgen erste Schritte im Literaturbetrieb, wie die Leitung des Autorenvereins Neue Gesellschaft für Literatur von 1984 bis 1985, dem er – ebenso wie dem PEN-Zentrum – angehört.

1988 tritt er mit der Veröffentlichung Steinsuppe wieder als Lyriker hervor. Der in der edition suhrkamp erschienene Band spannt Fäden ins Banat und schließt sowohl inhaltlich als auch formal an frühe Texte an. Indes ist kein Kontinuum zu finden, der Lebensbruch bleibt überdeutlich sichtbar: Wichner schreibt über das Banater Dorf und über einen Abschied, der den Verlust in sich trägt. Bislang unbekannte Orte werden erstmalig vermessen, eine endlose Kette an Eindrücken. Viele der Gedichte sind Personen aus dem Umfeld Wichners gewidmet, wodurch gleichsam das ihn umgebende Feld ausgelotet wird. Zu finden sind einstige und neue Wegbegleiter wie die rumäniendeutschen Autoren Klaus Hensel und Dieter Schlesak, der DDR-Autor Sascha Anderson, die Autorin und Literaturkritikerin Nicole Henneberg, Wichners Ehefrau und der Freund und Mentor Oskar Pastior. „In den Rolläden die Eifersucht als gelozia quergestreift / und Jalousie, das ‚Monte Ma o Monte Zu‘“[1] antwortet Wichner beispielsweise im Jahrbuch der Lyrik 2022 auf Pastiors wohl bekannteste Gedichte Jalusien aufgemacht, Jalusien zugemacht und Testament und spannt hier den Bogen aus dem Rumänien Pastiors in das der eigenen Erinnerung, „[i]n meine Schattenzonen“. Auch in den in den 2000er- und 2010er-Jahren erschienenen Lyrikbänden, findet Wichner immer wieder zu frühen Prägungen zurück. „Am ersten tag lag ein solcher frost über der landschaft daß den bauern die sprache im halse festfror und sie würgte so daß sie in krämpfen schwiegen den ganzen winter lang schwiegen“, heißt es in dem Band Rückseite der Gesten. Der Verlust der Sprache, der hier zum Bild für die Entfremdung vom Lebensumfeld wird, weist zurück auf das Rumänien vor 1989, ohne dass dabei der Ort genau benannt werden muss.

Neben seiner Tätigkeit als Autor ist Ernest Wichner durch seine Bemühungen um die osteuropäische Literatur und hier vor allem jener aus Rumänien bekannt geworden. In Das Wohnen ist kein Ort. Texte & Zeichen aus Siebenbürgen, dem Banat – und den Gegenden versuchter Ankunft versammelt er 1987 erstmals Texte rumäniendeutscher Autorinnen und Autoren, von denen einige kurz zuvor nach Deutschland ausgereist waren. Die Literaturlandschaft Rumäniens sollte auch seine langjährige Tätigkeit am Literaturhaus Berlin prägen. Ab 1988 als Stellvertreter des Leiters Herbert Wiesner, der das Literaturhaus einst gegründet hatte, und ab 2003 bis zu seiner Pensionierung 2017 als dessen Leiter prägte er die Berliner Literaturlandschaft entscheidend mit. Und er öffnete einen überregionalen Begegnungsraum zwischen Ost und West, in dem vieles angestoßen und viel mehr noch diskutiert wurde.

Unter Wichners Beteiligung zeigte das Literaturhaus Berlin Ausstellungen, die von literarischen Programmen und Publikationen begleitet wurden, so zur Literaturstadt Czernowitz, zu Zeugnissen der Deportation rumänischer Juden nach Transnistrien, der Prager deutschsprachigen Literatur, zum GULAG als literarischem Erinnerungsort sowie dem Leben und Werk Herta Müllers. Zahlreiche Lesungen und Symposien trugen darüber hinaus zur Bekanntheit von Autorinnen und Autoren aus Osteuropa und ganz besonders aus Rumänien in Deutschland bei. Zugleich wurde das „große Literaturhaus in der Fanfarenstraße“,[2] wie Eginald Schlattner es nannte, unter der Leitung Ernest Wichners zu einem wichtigen Ort der überregionalen Literaturwelt.

Von den Verbindungen zu Autorinnen und Autoren sind vor allem in der jüngeren Vergangenheit die zu Herta Müller und Oskar Pastior besonders hervorzuheben. Wichner begleitete diese bei den Recherchen und Arbeiten zu Atemschaukel, jenem Roman, in dem Herta Müller die Lebenserinnerungen Oskar Pastiors literarisiert. Die oft abgedruckten, beinahe ikonische Fotos, die Müller und Pastior bei Recherchen in der Ukraine zeigen, sie stammen von Ernest Wichner. Er wird es auch sein, der später oft gemeinsam mit Müller über diese Zusammenarbeit berichtet. Der Roman erschien 2009, drei Jahre nach Pastiors Tod, kurz darauf wurde Herta Müller der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Mit den kurze Zeit später laut werdenden Anschuldigungen, Pastior sei Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes gewesen, setzte sich Wichner, der auch an der Werkausgabe des Lyrikers arbeitet, aktiv auseinander. Er ließ prüfen und lud zu Veranstaltungen ein, in denen diskutiert wurde. Der Diskurs wurde kontrovers geführt, was zum einen dem Thema selbst geschuldet war, zum anderen in Ernest Wichners Wesensart begründet liegt. Denn er vertritt seine Meinung auch dann mit Nachdruck, wenn sie anderen unangenehm ist.

2017, mit dem Abschied Wichners vom Literaturhaus Berlin, habe eine Ära geendet, schrieb die Berliner Zeitung Der Tagesspiegel. Für seinen ehemaligen Leiter freilich ist dieses Ende ein Komma, kein Punkt, widmet er sich seitdem doch verstärkt Übersetzungen aus dem Rumänischen, so von Norman Manea, Nora Iuga und M. Blecher, auf dessen Nachlassbestand Wichner auch zurückgreifen konnte. Insbesondere seine Übersetzungen der Romane Mircea Cărtărescus und Cătălin Mihuleacs haben für größeres Aufsehen gesorgt. Wichner ist mehrmals für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Übersetzungen nominiert worden. Als jüngste Auszeichnung hat ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 2020 den Johann-Heinrich-Voß-Preis verliehen. In der Begründung der Jury heißt es, er habe rumänischen Autoren „auch auf Deutsch eine wortmächtige Stimme verliehen. Dank seiner einzigartigen Arbeit sind sie in all ihrer Vielfalt für eine deutschsprachige Leserschaft zu festen literarischen Größen geworden“.

Ernest Wichner seien wortwörtlich la mulți ani – viele Jahre – gewünscht. Ein Wunsch, der nicht ganz selbstlos ist, blickt die ambitionierte Leserin doch weiteren Werken mit Erwartung entgegen.

 

Michaela Nowotnick ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Arno Schmidt Stiftung Bargfeld. Sie forscht darüber hinaus zur rumäniendeutschen Literatur.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 233–235.

 

[1] Ernest Wichner: IN DEN ROLLÄDEN DIE EIFERSUCHT. In: Mathias Kneip, Nadja Küchenmeister (Hgg.): Jahrbuch der Lyrik 2022. Frankfurt am Main 2022, S. 43.

[2] Aussage Eginald Schlattners anlässlich einer Lesung im Literaturhaus Berlin am 20.3.2012. Das Literaturhaus befindet sich in der Fasanenstraße.

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