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Norbert Mappes-Niediek: Europas geteilter Himmel | Rezension

Norbert Mappes-Niediek: Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht. Berlin: Ch. Links Verlag 2021. 300 S.

 

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Von Georg Aescht

In Zeiten geradezu abgründiger Ratlosigkeit helfen gute Bücher weder aus dem Abgrund heraus noch darüber hinweg, sie helfen aber beim Blick hinein, gegen den Schwindel, der einen dabei erfasst. Tröstlich ist das nicht, doch man lernt auf Trost verzichten, weil man erkennt, wie müßig er immer schon war.

Norbert Mappes-Niediek greift mit so viel journalistischer Verve auf tausendjährige Geschichte zu, dass sie beim Lesen unausweichlich erscheint, dass einem zugleich aber aufgeht, dass es nie deshalb so gekommen ist, weil es nicht anders, sondern gerade weil es anders hätte kommen können. Diese Dialektik ist verquer wie all das Bedrückende, von dem dieses Buch so erfrischend handelt. Der Autor holt entlegene Ereignisse herein in den beengten Horizont unseres dem Tage verhafteten Verständnisses und breitet sie so aus, dass wir sie selbst greifen und begreifen können: als stets ebenso verstörend wie zwingend, ebenso kontingent wie konsequent. Ob Westen oder Osten, die Welt war immer schon die Welt, der Himmel nicht nur nach Christa Wolf geteilt, und das Verständnis aller für alle, füreinander – das war immer schon ein großer unerfüllter Wunsch. Als unerfüllbar aber will der Autor den Wunsch nicht gelten lassen, sonst hätte er das Buch nicht geschrieben.

In diesem (Kriegs-)Frühling, da ich daran sitze, verkündet der Sänger Sting, er werde seinen Song Russians mit zwei ukrainischen Cellisten neu orchestrieren, Robert Mappes-Niediek aber zitiert die „Lyrics“ gerade als vermeintlich einfühlsame, dabei ungelenk plakative Beschwörung jenes unerfüllten Wunsches: „We share the same biology / regardless of ideology“. (Etwa: Wir gleichen uns in der Biologie, ungeachtet aller Ideologie – S. 21.) Und er lässt den Schweizer Stephan Sulke mit der Ballade vom Mann aus Russland einstimmen: „Der Mann aus Russland konnte lachen, fröhlich sein und Witze machen, war ein Mensch genau wie ich und du“. (S. 20f.) Darf einem dabei das Lächeln gefrieren?

Dann jedoch geht der Autor weit zurück und erzählt von der ost-westlichen Kirchenspaltung 1054 in Konstantinopel, wo der Papstgesandte Humbert von Moyenmoutier und der Patriarch Michael Kerullarios sich über ihr jeweiliges Verständnis von christlichem Heil heillos zerstritten haben: „Der Westen erhob Anspruch auf die Anerkennung einer allgemeingültigen Wahrheit. Der Osten erhob Anspruch auf seine Besonderheit. Der Westen forderte Unterwerfung, der Osten forderte Respekt“. (S. 29) Die nach wie vor virulente Folge: „Zwar treffen in der Gegenwart längst nicht immer der anmaßende Prediger und der bockige Intrigant aufeinander, wenn in Europa Ost und West einander begegnen. Aber wenn sie es tun, und sie tun es immer wieder, rufen sie auf beiden Seiten vertraute Bilder wach. Selbst dann, wenn Osteuropa ausnahmsweise auftrumpft, wie unter Lenin oder Viktor Orbán, hat es als wichtige Karte die Erinnerung an erlittene Kränkungen auf der Hand“. (S. 31) Die Aufzählung von Predigern und Intriganten ist damit längst nicht abgeschlossen, Wladimir Putin hat gerade einen bluttriefenden Thron „erobert“.

Die „vertrauten Bilder“ sind allesamt blutig eingefärbt, Schriftsteller von Milan Kundera über Czesław Miłosz und György Konrád bis zu Theodor Fontane werden als Zeugen aufgerufen für die Verheerungen und Versehrungen und die unüberbrückbaren Spaltungen zwischen und in den Ländern des Ostens und die Kluft gegenüber dem Westen. Einen „Unschuldskomplex“ diagnostiziert der Ungar György Dalos in gewohnt pointierter Art: „‚Immer wurden wir bedrängt‘, glossiert [er] das Geschichtsbild [nicht nur] seiner Landsleute: von Mongolen, Osmanen, Habsburgern, Sowjets, Serben. […] Dass ‚die Serben‘ an etwas schuld sein könnten, kam keinem Serben in den Sinn. Gehandelt hatten ja nicht ‚die Serben‘. Gehandelt hatte Slobodan Milošević. […] In der Erinnerung an das Kriegsgeschehen ist jedes Volk gleichermaßen unschuldig“. (S. 92)

Das Ergebnis fasst Norbert Mappes-Niediek in ein düsteres Panorama: „Was Weltkriege, Hungersnöte und organisierter Massenmord in Osteuropa angerichtet haben, kann man sich im historisch viel stabileren Westen nur schwer vorstellen. In Deutschland können viele Familienforscher ihre Vorfahren bis in den Dreißigjährigen Krieg zurückverfolgen. In Osteuropa hat dieser Dreißigjährige Krieg, der alles durcheinanderbrachte, im 20. Jahrhundert stattgefunden, dreihundert Jahre später. Flucht und Vertreibung, ‚Bevölkerungsverschiebungen‘, wie es beschönigend heißt, haben riesige Landstriche ent- und andere bevölkert“. (S. 94)

Was schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schier aussichtslos erschien, wurde durch die Spaltung Europas in zwei verfeindete Blöcke für ein halbes Jahrhundert dergestalt zementiert, dass die Öffnung der 1980er-Jahre wie ein Wunder wirkte. Als sich der Westen darob allerdings genügsam die Augen gerieben hatte, sah er sich eigensinnigen „Gefühlsnationen“ gegenüber, das Wunder musste ihm alsbald wie eine Fata Morgana dünken. Er „reagierte auf das eigentümliche Selbstverständnis der osteuropäischen Nationen nach 45 Jahren Blockkonfrontation überrascht und verständnislos. ‚Die Stämme sind zurückgekehrt‘, urteilte mit Blick auf das östliche Europa schon 1992 der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer“. (S. 120)

Das Befremden dauert fort, der Verwerfungen ist kein Ende, die Globalisierung ist „globaler“ noch als der Globus, denn sie hat keine einigermaßen überschaubare Oberfläche, sondern spielt sich in ungeahnten Schichtungen und Verschiebungen ab, die nicht mit vergleichsweise einfachen Modellen wie jenem des Kalten Krieges, des Klimawandels oder der Technologiesprünge zu fassen sind. Die Wende zur Marktwirtschaft und die Arbeitsmigration führen mitnichten zum Wohlstand in der Fläche, sondern vertiefen die Gegensätze: „Für die Unterschiede zwischen den Ländern kann Europas Ost-Entwicklungsmodell nichts; sie sind historisches Erbe. Hervorgebracht hat das Modell aber weit krassere Unterschiede als die zwischen Ost- und Westländern: die innerhalb der Staaten selbst – zwischen Stadt und Land, meistens auch zwischen innerstaatlichem Westen und innerstaatlichem Osten“. (S. 147)

Mit dem Rückblick auf die vier Muster – und Schocks – der wirtschaftlichen „Wende“ im Osten (Restitution, Buy-out, Teilhabe-Coupons und Feilbieten auf dem Weltmarkt) leitet Norbert Mappes-Niediek seine Gesamtschau der zahlreichen Aporien ein, mit denen sich die Völker, Völkerschaften, Nationen und Minderheiten der „europäischen Welt“ konfrontiert sehen – allerdings gerade unter peinlicher Vermeidung des Blickkontaktes miteinander, denn: „Nicht Fremdheit produziert die hartnäckigsten Missverständnisse, sondern Ähnlichkeit“. (S. 219) Das geht bis zu den Auffassungen von der Transzendenz, von denen man meinen sollte, sie seien so etwas wie allgemein menschlich. Weit gefehlt: Die profunde Uneinigkeit zwischen Michael Kerullarios und Humbert von Moyenmoutier setzt sich bis heute fort: „Wenn der Heilige Geist nur vom Vater ausgeht, dann ist dieser Geist so fern, so fremd und so unergründlich wie der Vater selbst, der Gott des Alten Testaments, der oft unverständliche, grausame Dinge tut – die östliche Sicht. Geht der Heilige Geist dagegen vom Vater und vom Sohne aus, dann muss er irgendwie mit dem menschlichen Verstand kompatibel sein“. (S. 223) Alsdann: Gott befohlen!

Wie viel man sich gegenseitig zu verdanken hat, vergisst niemand, der auch nur einiges davon weiß (etwa von der europäischen Aufklärung), und doch übertrifft „man“ sich im Leugnen und Verdrängen, ja wird zunehmend flinker darin, desto drängender die Not. Und an der ist es, ja sie ist gar ärger noch, als Norbert Mappes-Niediek sie zu der Zeit, als er das Buch schrieb, konnte heraufdüstern sehen. Wohl noch näher als ihm damals geht einem deshalb heutigen Tags seine Beschwörung des Toleranz-Paradoxons: „‚Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz‘, schrieb Karl Popper […] über die ‚offene Gesellschaft und ihre Feinde‘. ‚Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden.‘“. (S. 248)

Die Duldenden kann das nicht trösten. Mag es den Lesenden und Angesprochenen zur Stärkung gereichen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 166–168.