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Facing the Balkans. Südosteuropa in Fotografien von Harald Schmitt | Rezension

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Facing the Balkans. Südosteuropa in Fotografien von Harald Schmitt (Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellungskataloge 94). Hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek. Bielefeld: Kerber Verlag 2021. 175 S., 1 S/W- und 155 Farb-Fotos.

Ein eindringliches, buntes Auge: Das Titelbild dieses Bildbandes prangte Ende 2021/Anfang 2022 wochenlang auf einem riesigen Banner in der Münchner Ludwigstraße an der Fassade der Bayerischen Staatsbibliothek und lud dort zum Besuch einer Ausstellung ein, zu der das hier vorgestellte Buch erschienen ist. Die Bildlegende weist das Motiv als Detail eines Wandgemäldes aus, mit dem Street-Art-Künstler die Einschusslöcher an der Fassade eines ehemaligen Bankgebäudes im bosnischen Mostar übermalt haben. Dieses Foto macht den Betrachter zugleich zum Betrachteten, es lädt zur Reflexion über das hier visuell präsentierte Südosteuropa ein. Das Bild korrespondiert mit dem von den Ausstellungsmachern bewusst gewählten englischen Titel Facing the Balkans. Er ist eine kreative Abwandlung des bekannten Buchtitels Imagining the Balkans (1997) der an der University of Illinois at Urbana-Champaign unterrichtenden bulgarischen Historikerin Maria Todorova. Auf dieses Grundlagenwerk beziehen sich auch die beiden Ausstellungskuratorinnen Gudrun Wirtz und Caroline Finkeldey, die den Balkan, unabhängig von unterschiedlichen geografischen Definitionen dieses Raums, als „mental map“ und „Projektionsfläche“ (S. 9) vorstellen und somit auf seine Stereotypendimension abheben. Der Begriff „Balkan“ wird in einem weiten geografischen Verständnis verwendet, als Synonym für Südosteuropa. Damit finden auch Fotografien aus Siebenbürgen, der rumänischen Moldau und aus der Republik Moldau, einschließlich Transnistriens, Eingang in den Band. Auf unterschiedliche Raumvorstellungen hebt der Südosteuropa-Historiker Ulf Brunnbauer ab, der den Balkan als „Region der Kontraste“ (S. 16) und „Region des Wandels“ (S. 17) beschreibt und verschiedene wissenschaftliche, publizistische und literarische Zugänge skizziert.

Ausstellung und Buch entstanden als Resultat einer engen Kooperation der Bayerischen Staatsbibliothek und der Südosteuropa-Gesellschaft in München mit dem Pressefotografen Harald Schmitt. Er ist ein Profi seines Faches, hat lange Jahre für das Magazin stern gearbeitet und war als Fotograf in diversen Ländern der Erde, darunter auch im östlichen Europa, tätig.

Die für Ausstellung und Buch ausgewählten Fotografien haben die Kuratorinnen sieben thematischen Gruppen zugeordnet – „Reisen“, „Flucht“, „Glauben“, „Erinnern“, „Wandel“, „Landleben“ und „Verbundenheit“. Jedem dieser Bereiche ist ein kurzer, historisch fundierter Essay von Ulf Brunnbauer, Heike Karge oder Edvin Pezo vorangestellt.

Für zahlreiche Länder Südosteuropas bildet der Fremdenverkehr eine nicht unerhebliche Einnahmequelle. Aufnahmen vom bulgarischen Goldstrand oder vom Luxusressort Sveti Stefan in Montenegro belegen dies. Welche Auswirkungen der Massentourismus auf die bereisten Länder und Gegenden hat, zeigen ungehemmt feiernde italienische Reisende in Ljubljana, sich gedankenlos im bulgarischen Rila-Kloster inszenierende Fremde oder tief verschleierte Touristinnen von der arabischen Halbinsel in Bosnien, deren Selbstbild mit der religiös-liberalen Auffassung der einheimischen Musliminnen kollidiert. Und auch die scheinbare Idylle eines einsamen Cafés im albanischen Bergland oder die einer Braunbären-Beobachtungsstation in den rumänischen Karpaten erweisen sich bei genauerem Hinsehen als trügerisch.

Das Themenfeld „Flucht“ steht paradigmatisch für die „Balkanroute“, die in den Jahren ab 2015 Südosteuropa weltweit im Kontext der widersprüchlichen europäischen Migrationspolitik bekannt gemacht hat. Harald Schmitts dramatische Aufnahmen zeigen Grenzbefestigungen, Stacheldrahtzäune und mobile Grenzwachen, die damals zwischen mehreren Balkanstaaten aufgerichtet wurden, um die Zuwanderung von Menschen aus den Bürgerkriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens oder aus den Armutsregionen des globalen Südens nach Zentraleuropa zu unterbinden. Die Fotografien gewähren Einsichten in die erniedrigende und beengte Welt der Flüchtlingslager und ihrer temporären Bewohner, unter ihnen zahlreiche Kinder.

Mit den Facetten der Religiosität machen Aufnahmen aus orthodoxen Klöstern in Bulgarien, Rumänien, der Republik Moldau, Albanien und Nordmazedonien vertraut; Fotografien aus Bosnien-Herzegowina illustrieren den Alltag von Moslems auf dem Balkan, andere die karitative Tätigkeit katholischer Nonnen in Albanien. Im einleitenden Text wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bedeutung des Glaubens in manchen Ländern wie Albanien zur Zeit der kommunistischen Diktatur offiziell eingeschränkt war, dass heute aber gerade in Südosteuropa unterschiedliche Formen von Glaubenspraxis eine starke Wiederbelebung erfahren.

Ähnlich vielfältig wie die Orte des Glaubens sind die Stätten und Formen des Erinnerns. Das Gedenken an Verschleppungen, Deportationen und Aktionen des Völkermords wechselt auf den Fotos mit dem Festhalten an Symbolen ab – etwa der unkritisch durch eine kroatische rechtsextreme Partei weiterverwendeten Fahne des Ustaša-Regimes, der sowjetischen Monumente im transnistrischen Separatistengebiet oder der Heldengräber der Kosovarischen Befreiungsarmee UÇK. Harald Schmitt begleitet Blauhelmsoldaten im Kosovo auf ihren Patrouillen, beobachtet trauernde Angehörige auf dem Gedenkfriedhof von Srebrenica und besucht einen heute zivil genutzten, während der kommunistischen Diktatur errichteten Bunker in Albanien.

Unter dem Stichwort „Wandel“ werden in diesem Band Aufnahmen zusammengefasst, die etwa die Gründung eines Slow-Food-Restaurants in Albanien oder die Umwandlung eines einstigen Kalkstein-Bergwerks in der Republik Moldau in einen Weinkeller zeigen. Wandel steht in einem Bedeutungsverhältnis zur Tradition, für die etwa Aufnahmen eines nach der Aussiedlung in ein Dorf bei Kronstadt (rum. Brașov) zurückgekehrten siebenbürgisch-sächsischen Ehepaares, einer von Blutrache bedrohten Familie in Albanien und der Bemühungen um die friedliche Lösung von Familienfehden stehen. Wandel in der politischen Kultur zeigen von Demonstranten beschmierte Denkmäler im nordmazedonischen Skopje, mit denen die Regierung des kleinen postjugoslawischen Staates eine neue nationale Identität zu konstruieren intendiert hatte.

In allen Staaten Südosteuropas bildet die Landwirtschaft bis heute eine wichtige Säule der Volkswirtschaft. Traditionelle Erwerbsformen existieren dort ebenso wie die Ausprägungen der Kollektivwirtschaft. Harald Schmitt zeigt gerade im Abschnitt „Landleben“ sehr ausdrucksstarke Bilder von gagausischen Weinbauern in der Republik Moldau, rumänischen Bauern in Siebenbürgen bei der Heuernte, eines Schafhirten in Nordmazedonien oder eines jungen Ziegenhirten in Montenegro. Eine unter ihrer schweren Last gebückte Frau in Albanien scheint ihr Los ebenso wenig zu beklagen wie der moldawische Landwirt, der an einer modernen Tankstelle mit seinem herkömmlichen Pferdefuhrwerk unterwegs ist.

Unter dem Schlagwort „Verbundenheit“ werden Fotografien der Geselligkeit und des Familienlebens gezeigt. Wir sehen Kaffeehausbesuche junger Menschen, das ungezwungene Leben auf der Straße, geschickt inszenierte Hochzeitsszenen vor historischen Kulissen, aber auch den Zusammenhalt älterer Menschen bis zum Abschied von einer im offenen Sarg zur Beisetzung begleiteten Frau in Rumänien.

Harald Schmitts Fotografien aus mehreren Balkan-Staaten zeugen von Empathie, wenn er etwa schwerwiegende soziale Verwerfungen aufgreift, zum Beispiel das Schicksal geflüchteter Menschen. Er zeigt aber auch die liebenswerten Seiten der Menschen in Südosteuropa. Als professioneller Pressefotograf vermag er intime Einblicke zu gewähren in private Situationen – Hochzeitsfeierlichkeiten, Familientreffen oder das Leben religiöser Gemeinschaften.

Und dennoch schwingt beim Betrachten der Bilder auch ein leichtes Unbehagen mit. Spiegeln Schmitts Fotografien doch bei allem Einfühlungsvermögen eine klassisch „westliche“ Sichtweise, indem sie genau solche Situationen aufspüren, die äußeren Erwartungshaltungen an den „Balkan“ entsprechen. Sie sind ikonische Verfestigungen jener Haltung des Othering, die Maria Todorova in ihrer eingangs erwähnten Studie als „Balkanism“ bezeichnet hat. Sie definierte diese Haltung als „discourse about an imputed ambiguity”.[1] Mit dem „Balkanism“ wird eine mentale Gegenwelt zur eigenen Realität konstruiert, auf das Außergewöhnliche, zum Teil vermeintlich Rückständige, auf Zeichen von Konflikt und Gewalt fokussiert, aber auch das Gesellschaftliche und die Gastfreundschaft exotisiert, indem Unverstandenes zum Befremdlichen erklärt wird.

Es mag für die Südosteuropa-Gesellschaft und die Bayerische Staatsbibliothek verlockend gewesen sein, aus dem reichhaltigen Fundus eines so renommierten Fotokünstlers wie Harald Schmitt zu schöpfen; der Konterkarierung mancher Stereotypen hätte es allerdings beispielsweise gut getan, seine Außensicht mit Bildern von Fotografen aus den bereisten Ländern in Beziehung zu setzen. Das hätte den Ausstellungsbesucher/innen oder den Betrachter/innen des Bildbandes die Gelegenheit gegeben, an einem Dialog unterschiedlicher Perspektiven zu partizipieren; so ist es leider bei einem Monolog, wenn auch bei einem ästhetisch zweifellos hochwertigen, geblieben.

Es gibt im Buch und in der Ausstellung noch ein sprachliches Problem, das jedem Kenner Südosteuropas sofort auffallen muss: die uneinheitliche Handhabung der Ortsnamen. Während für die serbische Hauptstadt die deutsche Variante „Belgrad“ (anstelle des serbischen „Beograd/Београд“) angegeben wird, kommen „Sibiu“ (Hermannstadt) und „Brașov“ (Kronstadt) lediglich rumänisch vor. „Prishtina“ wird nach dem englischen Sprachgebrauch transkribiert, andere Ortsnamen nach wissenschaftlichen Transliterationsregeln. Wäre es angesichts der immer wieder in den Texten herausgestellten Vielfalt des Balkans nicht angebracht gewesen, bei den Orten ihre unterschiedlichen Namensvarianten zu benennen und somit eine einheitliche Nomenklatur herzustellen?

Tobias Weger

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 108–110.

 

[1] Maria Todorova: Imagining the Balkans. Oxford, New York ²2009, S. 17.

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