Ulf Brunnbauer, Klaus Buchenau: Geschichte Südosteuropas. Stuttgart: Reclam 2018. 511 S.
Von Aleksandar Jakir
In den letzten Jahren lässt sich fast schon von einem Bücherboom zur Geschichte Südosteuropas sprechen. In dieser neuesten Geschichte Südosteuropas werden im Literaturverzeichnis nicht weniger als 16 deutsch- und englischsprachige Gesamtdarstellungen angeführt, von denen einige erst unlängst erschienen sind, wie die 2016 von Marie-Janine Calic vorgelegte Darstellung Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region. Die beiden Autoren, die an der Universität Regensburg Geschichte Südost- und Osteuropas unterrichten, beginnen das Vorwort ihrer Geschichte Südosteuropas mit der Schilderung des vor einem Jahrzehnt begonnenen ambitionierten »Neu- und Umbauprogramms« der Hauptstadt jenes Staates, der heute offiziell als »Nordmazedonien« bezeichnet wird. Dies soll, wie die Autoren betonen, »die Eigenartigkeit Südosteuropas« veranschaulichen, »einer Region, in der grundlegende Fragen des Zusammenlebens – wie die realen und symbolischen Grenzen von Nationen – offensichtlich noch nicht geklärt sind« und wo sich, wie es heißt, Regierungen »zu nationalistischen Übersprungshandlungen hinreißen lassen« (S. 8). Gängige Definitionen des von der Verhaltensforschung geprägten Begriffs der Übersprungshandlungen, die bei Mensch und Tier zu beobachten sind, sprechen davon, dass dies Handlungen oder Verhaltensweisen in Konfliktsituationen sind, ohne sinnvollen Bezug zur Situation. Doch hatte nicht die damalige national-konservative mazedonische Regierung, die das monumentale Bauprojekt in Gang setzte, auf das hier Bezug genommen wird, eine ganze Reihe von Gründen, die sie zu diesem Vorhaben veranlasst hatten? Und was immer man auch von den Gründen halten mag, einen Bezug zur Situation wird man schwer verneinen können. Tatsächlich sollten die zahlreichen Denkmäler, wie es auch die beiden Südosteuropaspezialisten formulieren, der »krisengeplagten und verunsicherten Mehrheitsbevölkerung Mazedoniens […] Anker ihrer kollektiven Identität« bieten, ebenso ein »Gefühl des Stolzes über die eigene Geschichte«. Auch werden sich etliche Leser an dieser Stelle wohl fragen, was denn spezifisch südosteuropäisch sein soll an den »pseudo-hellenischen Fassaden« und den »Heldengestalten aus der […] Geschichte«, die den öffentlichen Raum im Stadtzentrum der mazedonischen Hauptstadt nun »ver(un)zieren«? Wird nur in Südosteuropa versucht eine Vergangenheit zu beschwören, die es »so niemals gab« (S. 7)? Dankenswerterweise machen die beiden Historiker aus Regensburg aber sogleich deutlich, dass solch eine Sicht der Dinge, die eine besondere Anfälligkeit für Nationalismus nur in Südosteuropa vermutet, in die Irre führen würde. Vielmehr biete die Beschäftigung mit der Geschichte des Raumes die Möglichkeit, sich »mit zentralen Themen der Entwicklung Europas« auseinanderzusetzen und trage dazu bei, sich der »regionalen Vielfalt dessen, was wir heute als Europa verstehen, bewusst zu werden«. Bereits an dieser Stelle wird damit ein zentraler Gedanke formuliert, nämlich der, dass sich die Geschichte der Region Südosteuropa auch nicht stärker vom Rest Europas unterscheidet »als die jeder anderen Region innerhalb Europas, denn nicht nur Europa, sondern auch seine Geschichte schöpft ihre Einheit aus der Vielfalt« (S. 8). Vollkommen zu Recht wird daher betont, dass diese Geschichte »nicht exotisch« ist, sondern »integraler Bestandteil der europäischen Geschichte« (S. 9). Auf den nachfolgenden knapp fünfhundert Seiten Text, nur unterbrochen von sieben Karten, drei Tabellen und Zeittafeln nach jedem Kapitel, die wichtige Jahreszahlen mit knappen Erläuterungen enthalten, präsentieren Ulf Brunnbauer und Klaus Buchenau, untergliedert in sieben Kapitel, ihre Sicht auf die Geschichte Südosteuropas. Ausgehend vom Erbe der Antike über die ersten multinationalen Großreiche, die den Raum beherrschten, bis zur Gegenwart werden neben der politischen auch wesentliche Aspekte der Sozial- und Religionsgeschichte Südosteuropas vorgestellt. Auf Abbildungen wurde weitgehend verzichtet, abgesehen von den nicht gerade übersichtlichen und lesefreundlichen sieben schwarz-weißen Karten. Ebenso gibt es keinen klassischen Anmerkungsapparat. Nur bei längeren Zitaten im Text werden bibliografische Angaben angeführt. Leider enthält das Inhaltsverzeichnis auch keine Zwischenüberschriften, was ein schnelles Nachschlagen erschwert. Ausgestattet ist das Buch aber mit einem Orts- und Personenregister (S. 504–511) sowie einem Literaturverzeichnis (S. 495–503). Die Literaturhinweise listen Titel auf zu Forschungsgeschichte, Geschichte Südosteuropas allgemein, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte, Byzanz, Osmanisches Reich, Habsburgerreich, Jugoslawien, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Kosovo, Kroatien, Makedonien, Moldova (Moldawien), Montenegro, Rumänien, Serbien, Slowenien, Türkei, Ungarn und Zypern. Schon aus dieser Aufzählung von Imperien und Ländern wird deutlich, was diese »Geschichtsregion« umfasst (wie Holm Sundhaussen Südosteuropa treffend definiert hat) und wie sie auch in dieser Überblicksdarstellung verstanden wird. Die Verfasser sehen Südosteuropa als »Beziehungs- und Handlungsraum, dessen Grenzen sich je nach historischer Epoche verschoben, in dem sich aber dennoch über Jahrhunderte hinweg das Geschehen verdichtete« (S. 36). Nach den »Einführende[n] Bemerkungen« zu Südosteuropa und seiner Geschichte (S. 13–36) gehen die Verfasser in ihrer Darstellung chronologisch vor. Die folgenden fünf Kapitel sind überschrieben: »Das vormoderne Erbe (bis ca. 1800)« (S. 37–103), »Das ›lange‹ 19. Jahrhundert: Staatsbildungen und neue Konfliktkonstellationen« (S. 108–200), »Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit: Der lange Schatten des Krieges« (S. 207– 265), »Brüchige Modernen: Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit und Kalter Krieg« (S. 269–383) sowie »Prekäre Re-Europäisierung? Die Transformation seit 1989« (S. 390–488). Knappe Überlegungen zu »Geschichte und Zukunft Südosteuropas« (S. 490–494) schließen den Text ab.
Wie wohl jedes Buch hat auch dieses seine Stärken und Schwächen. Und wie bei einer Gesamtdarstellung eines so komplexen Themas nicht anders zu erwarten, ließe sich über Schwerpunktsetzung und Themenauswahl sicher diskutieren, ebenso über die Relevanz mancher Zitate, die herangezogen werden, um bestimmte Thesen zu untermauern. Die Lektüre ist aber durchaus lohnend, da sich im Buch viele lesens- und bedenkenswerte Einsichten und überzeugende Interpretationen zur Geschichte dieser europäischen Region sowie sehr klare und prägnante Formulierungen finden lassen. Deutlich ist dies insbesondere in jenen Teilen des Buches, wo sich die Verfasser auf eigene Forschungen stützen können. Zahlreiche Beispiele ließen sich in diesem Zusammenhang anführen. Die Verhältnisse in der Donaumonarchie nach dem Ausgleich von 1867 etwa sind wirklich treffend beschrieben, wenn es heißt: »War Ungarn ein Staat im Staate, so gab es mit dem Königreich Kroatien und Slawonien einen Staat im Staate im Staate […]« (S. 125). Gleiches gilt für »Nationsbildung ist kein Prozess, der mit der Staatsgründung zu Ende geht; im Gegenteil, erst der Staat kann die nationale Identität fest in der Bevölkerung verankern« (S. 149). Die Situation nach dem Ersten Weltkrieg in zwei der »Gewinnerstaaten« scheint auf den Punkt gebracht im Satz: »Der politische Diskurs der serbischen und rumänischen Elite schwankte zwischen Siegestaumel und Verwirrung – die kühnsten nationalen Träume waren wahr geworden, aber war die Nation wirklich Herrin im Haus?« (S. 223). In allen Kapiteln des Buches finden sich glänzende Passagen, bis hin zu dem Teil zur jüngsten Vergangenheit und den Transformationsprozessen seit 1989. So heißt es überzeugend im Zusammenhang mit der »Erfindung« der Region »Westbalkan«: »Historisch ist der Begriff Westbalkan bedeutungslos, hat aber im Denken westlicher Diplomaten inzwischen eine zentrale Stellung« (S. 443f.). Die tiefgreifenden Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg und die Folgen des Zusammenbruchs der Imperien für die neu entstandenen Staaten und Gesellschaften werden eindrücklich beschrieben, ebenso die Folgen der kommunistischen Machtergreifung nach dem Zweiten Weltkrieg. Insgesamt hat sich der Rezensent nach der Lektüre der 511 Seiten aber doch gefragt, welche Leser sich Autoren und Verlag für dieses Buch vorgestellt haben. Für einen vollkommenen Neueinsteiger in die Thematik ist der Text wohl schon deshalb keine leichte Kost – auch wenn man davon absieht, dass keine klare Fragestellung erkennbar ist, die der Erzählung zugrunde liegt –, weil die ausgebreitete Fülle des historischen Materials in der Darstellung vom vormodernen Erbe bis zur Gegenwart der Region für einen Leser / eine Leserin ohne Vorkenntnisse sicher eine Herausforderung darstellt. Wenig originell ist der Schluss des Buches, wo die Verfasser konstatieren: »Südosteuropa ist auch im 21. Jahrhundert ein peripherer Raum, daran konnte bisher die europäische Integration nichts ändern […]« (S. 493). Möglicherweise hätte man auch etwas stärker an die positiven Beiträge von Südosteuropäerinnen und Südosteuropäern für die europäische und globale Geschichte erinnern können? Zudem werden Studierende, die das Buch als Einführung in die Forschungsdiskussion lesen möchten, sicher den wissenschaftlichen Anmerkungsapparat vermissen. Insbesondere für jene Leser, die erst beginnen, sich mit der Geschichte dieses Raums zu beschäftigen, wären Verweise auf Quellen und weiterführende Literatur zu konkreten Forschungsfragen natürlich sehr nützlich. Doch für diejenigen, die mit den wichtigsten historischen Entwicklungen in diesem Raum einigermaßen vertraut sind, bietet das Buch anregende Interpretationen. Dies gilt auch für solche Darstellungen und Schwerpunktsetzungen der Autoren, die zur Debatte einladen. Mit der Materie vertrauten Lesern wird gewiss auffallen, was von den überaus zahlreichen Ereignissen und Prozessen aus der vielschichtigen und vielgestaltigen Geschichte Südosteuropas Erwähnung gefunden hat und was nicht. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Die »sogenannte Knabenlese« nach der osmanischen Eroberung des Balkans wird vorgestellt als ein »besonders interessantes Islamisierungsmuster« und nüchtern erklärt mit den Worten: »Männliche Kinder oder Jugendliche wurden aus ihrem christlichen Umfeld herausgenommen, in anatolischen Familien zu Muslimen umerzogen und schließlich in Istanbul zu zentralen Funktionsträgern des osmanischen Staates ausgebildet. […] Bis heute wird kontrovers diskutiert, ob die betreffenden christlichen Familien […] ihre Jungen freiwillig hergaben oder aber ein Verlusttrauma erlebten« (S. 87). Klingt nicht doch etwas mehr Empathie im Kapitel zum »langen« 19. Jahrhundert an, in dem festgestellt wird, dass die »Balkanmuslime […] die größte Opfergruppe der christlichen Nationsbildungen« waren (S. 164)? An vielen Stellen, insbesondere wenn es um gesellschaftliche Transformationen und ihre Folgen im 20. Jahrhundert geht, ist die Beschreibung zahlreicher historischer Phänomene doch arg vollgepackt mit immer neuen Fakten und Zahlen. Doch insbesondere solchen Lesern, die an Gesellschafts-, Religionsgeschichte sowie Nationsbildungsprozessen in der Geschichte Südosteuropas interessiert sind, ist die Lektüre dieser Geschichte Südosteuropas zu empfehlen.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 119–122.