Giulia Fanetti: La Bukowina e la „letteratura etnografica“ di lingua tedesca [Die Bukowina und die deutschsprachige „ethnografische Literatur“] (Studi e Ricerche, Bd. 144). Roma: Sapienza Università Editrice 2023. 358 S.
Als der Wiener Dichter und Beamte Joseph Franz Ratschky 1783 in der Bukowina ankam, dem äußersten Zipfel Österreichs, der seit 1775 das kurz zuvor erworbene Galizien mit Siebenbürgen verband und den er nun im Auftrag von Joseph II. erkunden sollte, bot sich ihm ein irritierendes Bild: Er reiste durch unbekannte, wunderschöne Landschaften, in denen Menschen wohnten, die er allerdings in seinem Reisebericht unverblümt als rückständige, fortschrittsverweigernde Halbwilde beschreibt. Tatsächlich erwies sich dieses Gebiet Ende des 18. Jahrhunderts als eine befremdende und kontrastreiche Region mit großem Entwicklungspotential, die aber zuerst erschlossen und – aus der Sicht der Machthaber – zivilisiert werden musste. Sie galt als mysteriöse „regione dell’immaginazione“ (S. 39), wie Giulia Fanetti in ihrer aufschlussreichen Monographie jene Ambivalenz sehr treffend bezeichnet, die die damalige Bukowina charakterisierte: Einerseits eine Region der Vorstellungen und der Projektionen, weil es anfangs noch sehr schwierig war, darüber zuverlässige Informationen aufzutreiben; andererseits ein „Übergangsraum“ zwischen Osten und Westen (S. 39), mit dem die Wiener Verwaltung viele Erwartungen verknüpfte, den sie als Experimentierkammer für ihre sonst beschränkten Kolonialversuche betrachtete und der auch nach der Auflösung der Monarchie weiterhin als imaginiertes, erträumtes Land wirkte.
Dass die österreichische Bukowina ein außerordentlicher Übergangsraum war, davon zeugt die Vielfalt ihrer damaligen Bewohner: Das enge Zusammenleben von Deutschen, Rumänen, Ruthenen, Polen, Juden, Huzulen und Armeniern stellte eine einzigartige Situation innerhalb der habsburgischen Grenzen dar, wie unter anderem auch aus Karl von Czörnigs ethnographischen Karten sehr augenscheinlich hervorgeht. Detailliert geht Fanetti auf dieses bunte Spektrum von Ethnien und Kulturen ein, für deren Zusammenhalt sich die deutsche Sprache als wesentlich erwies und eine bemerkenswerte Entwicklung erlebte: In der ganzen Region avancierte Deutsch zur lingua franca, in den höheren Kreisen verwandelte es sich sogar von Amts- in Haussprache (vgl. S. 88), in der Hauptstadt Czernowitz (rum. Cernăuţi, ukr. Чернівці) wurde es zur lebhaften Kultursprache, und selbst in den untersten Schichten, für die es weder Umgangs- noch Muttersprache war, gewann es dank der vielfältigen Kulturlandschaft einen ureigenen Charakter. (vgl. S. 98) An dieser ans Fabelhafte grenzenden Verbreitung der deutschen Sprache ließe sich die Wirkung jenes im 19. Jahrhundert so gepriesenen „deutschen Geistes“ wahrscheinlich am klarsten beobachten, der in den österreichischen Landen milder dekliniert wurde, nämlich als inklusive, vereinende, für ein „weltbürgerliches Volk“ typische Kraft. (S. 122) Dabei nimmt Fanetti diesen Aspekt allerdings sehr kritisch unter die Lupe, sie relativiert und entmystifiziert den Mythos der aufgeklärten Donaumonarchie, deren tolerante Fassade in Wirklichkeit viele Sprach-, Kultur- und Machtasymmetrien verbarg.
Gerade um dieses System konstruierter Homogenität und zugleich penibel kontrollierter Differenzen in der österreichischen Bukowina zu entlarven, analysiert die Autorin im sehr durchdachten zweiten Teil ihres Buchs die habsburgische Rhetorik der Vielfalt aus der Perspektive der ethnographischen Literatur, das heißt jener Literatur, die im 19. Jahrhundert der Reiseliteratur entspringt und einen ethnographischen Ansatz aufweist, dessen Anspruch es ist, eine Kultur wissenschaftlich und möglichst objektiv zu erfassen. Um zu zeigen, wie vielseitig diese Gattung ist und welche disparaten Bilder der Bukowina – je nach Epoche, Zugang und Sensibilität der einzelnen Autoren – aus ihr resultieren, werden drei sehr unterschiedliche Fallstudien präsentiert. Dabei handelt es sich um drei Werke, denen die Germanistik bislang wenig Aufmerksamkeit schenkte: Die Völkergruppen der Bukowina. Ethnographisch-culturhistorische Skizzen von Ludwig Adolf Staufe-Simiginowicz (1884), eine wissenschaftliche Studie, mit der der Autor eine präzise, ja in mancher Hinsicht taxonomische Katalogisierung der bukowinischen Ethnien liefert, aus der allerdings kein Eindruck eines Miteinanders hervorgeht und in der die Eigenschaften des Einzelnen – ähnlich wie im Kronprinzenwerk – zum Charakteristikum einer Kultur erhoben werden (vgl. S. 200); Karl Emil Franzos’ Aus Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa (1876–1888), eine Serie kulturhistorischer und ethnographischer Zeitungsberichte, die zwischen Wissenschaft und Kunst, Wahrheit und Lüge oszillieren (vgl. S. 273) und die es vielleicht gerade deswegen vermögen, diese kuriose Welt besonders wirkungsvoll zu porträtieren; Gregor von Rezzoris Maghrebinische Geschichten (1953), eine Sammlung satirischer Kurzgeschichten, die im imaginierten und dennoch mit der Bukowina leicht identifizierbaren Land Maghrebinien spielen, sich post finem mit dieser untergegangen Kulturwelt gewitzt auseinandersetzen und somit dem Autor in mancher Hinsicht auch ermöglichen, die Trauer zu lindern und den Abschied zu verarbeiten. (vgl. S. 318)
Es ist unbestreitbar jene bis zum Ende Altösterreichs – und darüber hinaus – anhaltende Mischung aus Einzigartigkeit und Alterität dieser Landschaft, die die drei oben genannten Literaten faszinieren sollte und im Zentrum von deren Werken steht. Die damalige Bukowina war eine Region, die aus westlicher Sicht noch nicht wirklich im Orient lag und zugleich doch nicht mehr als okzidental tout court betrachtet werden konnte, die daher von Franzos als Halb-Asien und von Rezzori als Maghrebinien bezeichnet wird – wortwörtlich ein Westen, in dem sich ein starker orientalischer Widerhall wahrnehmen lässt. Fanetti führt dieses toponymische Spiel auf eine misstrauische Haltung gegenüber den geographischen Kategorien beziehungsweise den politischen Grenzen zurück (vgl. S. 326), die nicht imstande wären, einer dermaßen komplexen Region gerecht zu werden. Die gebürtigen Bukowiner Staufe-Simiginowicz und Rezzori trachten – der erste mit wissenschaftlicher Rigorosität, der zweite mit dem Ton einer Persiflage –, die Leser in die Geheimnisse einer geographisch beziehungsweise zeitlich fernen Welt einzuweihen. Staufe-Simiginowicz zeichnet sich zugleich wegen des Versuchs aus, die Region mythisieren zu wollen, ähnlich wie Franzos, dessen Werk allerdings eine sehr starke Verherrlichung der deutschen Komponente durchsickern lässt. Zugleich ist die von Franzos geschilderte Bukowina auch eine Kunstwelt, die nicht immer mit der realen Welt übereinstimmt und die sich bei Rezzori nicht unähnlich als „Subversion“ der abendländischen Welt und als deren „Gegen-Text“ erweist. (S. 329) Was diese drei Texte laut Fanetti verbindet, ist – neben einer diffusen Tendenz zur Verallgemeinerung und Stereotypisierung – das Bruchstückhafte: Der unvollständige sowie fragmentarische Charakter dieser Werke, der bereits in ihren Titeln zu verorten ist – Skizzen, Culturbilder, Geschichten sind außerdem in der reiseliterarischen Tradition des 19. Jahrhunderts sehr gängige Bezeichnungen –, soll auf die trotz ethnographischen Ansatzes doch sehr subjektive Darstellung eines Nicht-Ortes verweisen. (vgl. S. 326f.)
Fanettis Buch, die Überarbeitung ihrer 2022 an der Universität Bologna erfolgreich verteidigten Dissertation, zeichnet sich durch die genauen Recherchen, die Fülle an wissenschaftlichen Verweisen und den zur Lektüre angenehmen Schreibstil aus. Es ist das Resultat einer Arbeit an der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft, Anthropologie und postkolonialen Studien, die große Einfühlsamkeit sowie ansteckende Begeisterung für das Thema durchscheinen lässt und die nicht nur das besondere Verdienst hat, das Thema endlich auch in Italien für die Nicht-Spezialisten zugänglich gemacht, sondern auch neue Wege für die internationale Germanistik bereitet zu haben. Wie die Autorin schreibt, ließe sich noch viel forschen zur Rolle der mündlichen sowie schriftlichen Überlieferung in den Werken aus und über diese Region, zur Frauenrolle in diesen Schriften aus der Perspektive der Gender Studies, zur ethnographischen Literatur über die Bukowina als tatsächliches Instrument der Kontrolle seitens der österreichischen Regierung oder zur Vielschichtigkeit der Sprache, die Rezzori in seinen Geschichten verwendet (vgl. S. 28), um jene erträumte Landschaft literarisch weiterleben zu lassen, deren Eigenschaft als Schwellenraum zwischen Westen und Osten gerade heute wieder von großer Brisanz ist.
Stefano Apostolo