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Zerbrechlichkeit in hoher Dosis. Zum 70. Geburtstag der Schriftstellerin Herta Müller

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Von Christina Rossi

Man sagt und liest oft, dass ihre Texte aus dem Schmerz, der Angst und der Bedrohung heraus entstanden seien – gleichsam als eine Erklärung für den bahnbrechenden Erfolg der Schriftstellerin Herta Müller. Für ihre bewegende Literatur wurde sie 2009 mit dem Nobelpreis geehrt. Zu diesem Anlass betonte sie, es sei nicht sie, sondern es seien ihre Bücher, die diesen Preis erhielten. Nicht zum ersten Mal – bereits im Jahr 1992 sagte sie in einem Interview, man sollte über ihre Bücher reden und darüber, was in diesen Büchern stehe, denn „ich will es nicht erklären, ich kann es nicht erklären, ich will ganz einfach Bücher schreiben. Ich will diese außerliterarischen Fragen nicht“. Der Literaturbetrieb hat es ihr, vor allem nach dem Nobelpreis, ganz und gar nicht leicht gemacht, diese Haltung beizubehalten. Das öffentliche (und öffentlich erwartete) Sprechen über ihre Erfahrungen in der Diktatur überlagerte in ihren Veranstaltungen und Lesungen, Gesprächsrunden und Vorträgen seither häufig das Literarische.

Herta Müller ist eine über die Landesgrenzen hinaus gefeierte Ikone der politischen Freiheit geworden, aber der Weg dorthin war für sie steinig. Er fing bereits weit vor der Diktaturerfahrung mit einer Kindheit an, die sie in ihrem gemeinhin als Debüt verstandenen Prosaband Niederungen inmitten einer überwiegend harten, kalten Welt situiert und skizziert. Im Frühjahr 1970, bereits mehr als zehn Jahre vor den Niederungen, veröffentlichte sie in der Neuen Banater Zeitung ihren allerersten literarischen Text, nämlich ein Gedicht mit dem Titel Dämmerungseile. Bis 1976 publizierte sie als Schülerin und Studentin dann über zwanzig weitere Gedichte in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften in Rumänien. In diesen, auch wenn Herta Müller sie im Nachhinein als „armselig“ bezeichnet und sich von ihnen distanziert hat, wird intensiv die Frage nach der adäquaten Sprache für Erfahrungen gestellt, die sich dem Sprachlichen entziehen. Dieses Thema hat ihr Schreiben weiter begleitet und sich in ihren Text-Bild-Collagen, die sie bis heute anfertigt, potenziert.

Unmittelbar nach dem Studium nahm Herta Müller 1976 eine Stelle als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik an, etwa zeitgleich stellte sie das Gedichte-Schreiben ein. Nach zwei Jahren erfolgten dort erste Anwerbeversuche der Securitate, die Herta Müller abwehrte – und damit begann die Geschichte ihrer Bedrohung durch den Geheimdienst. Die Erfahrung der politisch motivierten Drangsalierung ist regelrecht zum Image der Schriftstellerin Herta Müller und zum Leitmotiv der Analyse ihres Werks geworden. Umso wichtiger scheint es im Rahmen einer Würdigung ihrer schriftstellerischen Individualität zu betonen, dass diese sich keineswegs in dieser wesentlichen Erfahrung erschöpft oder gar auch nur annähernd die Essenz der poetischen Brillanz Herta Müllers ausmacht. Ihre Prosa wirkt und besticht weniger durch komplexe Handlungsverläufe und anschauliche Figurenensembles denn durch Verdichtungsstrukturen und atmosphärische, assoziative Konstellationen, die in der Lage sind, enorme (auch emotionale) Resonanz zu generieren. Sprachliche Einfachheit mischt sich in harten Kontrasten mit ästhetischer Komplexität, und subtile Verweisungsstrukturen ziehen sich durch ganze Bücher. „Windisch schließt die Augen. Er spürt, wie die Wand an sein Gesicht wächst. Der Kalk brennt an seiner Stirn. Ein Stein im Kalk öffnet das Maul. Der Apfelbaum zittert. Die Blätter sind Ohren. Sie horchen. Der Apfelbaum tränkt seine grünen Äpfel.“ In einzelnen Sequenzen wie dieser aus Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt muss eine solche Sprache regelrecht unverständlich erscheinen, weil sie in ihnen immer nur einen Teil ihrer Sinnpotentiale freisetzen kann, die sich über Seiten hinweg aufbauen, zitieren und verflechten. Bei Herta Müller ist jedes Wort präzise, aber zugleich spürbar intuitiv gewählt – ein Erzählstil, auf den man sich einlassen muss. Die Darstellung von Vergewaltigung, von Todesangst, von psychischer und physischer Gewalt in dieser Sprache ist an Eindrücklichkeit und Intensität kaum zu überbieten.

Herta Müller zu lesen ist in keiner Weise eine leichte Kost. So fällt es auch schwer, ihre Texte durch klar identifizierbare, messbare Kriterien, Inhalte und Verfahren adäquat zu beschreiben, und weder die Literaturkritik noch die Literaturwissenschaft wird müde, sich daran zu versuchen. Dieser Befund bestätigt zugleich, dass mit ihren Texten etwas in die deutsche Literatur Einzug gehalten hat, das keine Vergleichsmaßstäbe kennt, ja vielmehr eigene, neue Maßstäbe gesetzt hat. Herta Müllers Tiefe und Eleganz im Schreiben, im Sprechen und im Denken und die Fähigkeit, die eigene Innerlichkeit literarisch zu sublimieren, haben ihren Texten zu einer Einzigartigkeit verholfen, ohne die ihr biografisches Material nicht hätte atmen und wirken können, wie es tut: in ihren Gedichten, ihren Erzählungen, ihren Romanen, ihren Essays und ihren Text-Bild-Collagen, schließlich in ihren Vorträgen und Reden, die nicht minder literarisch sind und ihrer Haltung, im Literarischen bleiben zu wollen, dann letztlich doch wieder entsprechen.

Vor zehn Jahren hing ihr Leben nach einer Notoperation kurz am seidenen Faden. Herta Müller ist in ihrem Leben schon früher existenzieller Gefahr ausgesetzt gewesen, und sie hat Schicksale aus nächster Nähe erlebt, die sich tief in ihr verankert haben. Viele davon, aber längst nicht alle, hat sie autofiktional verarbeitet. Im medialen Sprechen darüber zeigt sie sich sensitiv und fragil. Diese Art hat ihr nicht selten den Vorwurf der Selbstinszenierung eingebracht – aber von anderer Seite zugleich die große Bewunderung ihrer Authentizität und Stärke. Zerbrechlichkeit durchzieht jede Zeile ihres Werkes, das insbesondere in früheren Texten auch so viel zwischenmenschliche Kälte, seelische wie körperliche Gewalt an Weiblichkeit und Brüchigkeit im Empfinden und Sprechen schildert, aber im Akt des Schreibens und des Offenlegens zugleich ein subversives und entschlossenes Zusammensetzen darstellt. Ohne explizit feministisch zu agieren, besitzen ihre Texte neben ihrer politischen auch eine tiefe Dimension weiblichen Schreibens und verschiedenste, dezidiert nicht nur politische, Machtdiskurse variierender Narrative. Und so bedarf es letztlich weder einer Erklärung noch einer Legitimation dessen, was Herta Müller mit dem Material der Sprache vollzieht, oder einer vermeintlichen Rückbindung an ihre Biografie oder Persönlichkeit, um anerkennen zu können, dass es zum Kostbarsten und Wirkmächtigsten gehört, das in der deutschen Literatur in den letzten Jahrzehnten entstanden ist.

Ihre Literatur und ihre Person sind gerade heute unter jüngeren LeserInnen im (nicht nur europäischen) Ausland höchst populär – Instagram-Hashtags zu ihrem Namen zieren Portraitfotos mit in verschiedenste Sprachen übersetzten Zitaten sowie Beiträge, in denen zahllose internationale BuchbloggerInnen ihre Verehrung für Herta Müllers Literatur kundtun. Gerade ihre jüngere weibliche Leserschaft feiert sie hier als „Role Model“ einer freigeistigen, mutigen, sensitiven und tiefgründigen Künstlerin. KollegInnen und Bekannte schätzen ihre humorvolle, offene, zutiefst menschliche und lebendige Art, die die andere Seite der medial oft scheu und melancholisch anmutenden Herta Müller bildet. Schon länger deutet sie immer wieder an, mit dem Schreiben längerer Prosatexte nach ihrem letzten Roman Atemschaukel aus dem Jahr 2009 und dem Nobelpreis sowie den damit einhergehenden öffentlichen Veranstaltungen und Nebenschauplätzen abgeschlossen zu haben. Ihre zahlreichen, seither angefertigten Text-Bild-Collagen bilden ein kostbares Substitut und spiegeln sämtliche der sprachlichen Verfahren und thematischen Achsen, die sie über Jahrzehnte lang in ihrer Lyrik und Prosa etabliert hat – und haben diese noch erweitert. Angesichts der Fülle und Bandbreite an Texten, die sie veröffentlicht hat, mag ihr vermeintlicher Verzicht auf größer angelegte literarische Projekte insofern zu verschmerzen und ihr die damit verbundene Freiheit vollends zu gönnen sein. Möchte man sich aus Anlass ihres 70. Geburtstages ihrem Werk erneut oder auch erstmals annähern, so sei der Roman Herztier zu empfehlen, der – eine an dieser Stelle selbstverständlich völlig subjektive Sicht – ein maximales ästhetisches und intellektuelles Erlebnis à la Herta Müller bietet. Man muss allerdings viel Zeit für die Lektüre einplanen. Denn Herta Müller lesen kann bedeuten, eine halbe Stunde auf nur einer Buchseite zu verbringen, weil die Intensität ihrer Sätze durchaus reizüberflutend sein kann.

 

Christina Rossi ist seit 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sprache, Literatur und Kultur an der Technischen Universität Dortmund tätig. 2018 wurde sie mit einer Arbeit über das Collagenwerk Herta Müllers an der Universität Augsburg promoviert.I hre Forschungsschwerpunkte, zu denen sie lehrt und publiziert, sind u. a. die deutschsprachige Literatur der Gegenwart, die interkulturelle – insbesondere rumäniendeutsche – Literatur sowie die Lyrik der Moderne und Gegenwart.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 218–220.