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Norbert Otto Eke: Herta Müller-Handbuch | Rezension

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Norbert Otto Eke (Hg.): Herta Müller-Handbuch. Stuttgart: Metzler Verlag 2017. 287 S.

Von Christina Rossi

Im Metzler-Verlag erschien 2017 das bereits seit Längerem angekündigte Handbuch zur rumäniendeutschen Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Die 1953 im Banat geborene Schriftstellerin hat zweifelsohne ein handbuchwürdiges Werk hervorgebracht – und mit Norbert Otto Eke, der die Forschung zu Müller seit Jahrzehnten dominiert, einen ebenso würdigen Herausgeber gefunden, der mit großer wissenschaftlicher Genauigkeit und hohem ästhetischen Gespür sowohl das Wesen des Werks Herta Müllers als auch die Bedürfnisse der potenziellen Handbuch-Nutzer erkannt und beidem in hohem Maße entsprochen hat.

Die zu Anfang des Handbuchs positionierten Darstellungen des umfangreichen Werkkorpus in all seinen Genres (Prosa und Romane, Lyrik und Collagen, Essays, Reden und Poetikvorlesungen) und deren Details leisten einen ebenso breiten Über- wie tiefen Einblick in das bisherige Gesamtwerk Müllers. Die in einem weiteren Abschnitt eröffneten Kontexte (Geschichte, Zwischen den Sprachen, Zwischen den Literaturen, Autoren) lassen in ihrer Auswahl eine deutliche, wenn auch nur kursorisch geleistete Akzentsetzung zugunsten der politisch motivierten Exilautorin Herta Müller erkennen, die allerdings in ihrem Umfang für manch einen Leser zu breit geraten sein dürfte, aber der literaturhistorischen Verortung durchaus dienlich sein kann.

Intensiver hingegen hätten, jedenfalls aus der Perspektive der Forschung, noch die in Ergänzung der Werkschau so wichtigen Abschnitte „Ästhetische Ordnungen“ und „Denkfiguren – Konzeptionen – Begriffe“ ausfallen dürfen. In ihnen geht es im Eigentlichen um die Ästhetik der Werke Herta Müllers, denn wer diese kennt, weiß, dass sie keineswegs mit bloßen Inhaltsangaben zu beschreiben sind. Dem Kapitel „Denkfiguren“ ist anzulasten, dass hier eine thematische Auswahl (Grenzen, Körper und Geschlecht, Shoah und Gulag, Tod, Trauma, Glück, Utopie) erfolgt ist, die die aktuelle Forschung zu Müller nur bedingt widerspiegelt. Während die beiden letzten Begriffe motivisch eher abseitig im Werk auftauchen und ihre Relevanz an dieser Stelle eher unklar bleibt, wird der fragwürdigerweise in die Müller-Forschung eingeführte Traumabegriff völlig ohne Diskussion seiner autobiografischen Herleitung, literaturwissenschaftlichen Legitimation und literarischen Plausibilität fortgeschrieben. Zu den „Ästhetischen Ordnungen“ und den „Denkfiguren“ hätten sich durchaus auch Artikel zu Ideologie, Konvention, Tabu, Schweigen, Bildlichkeit, Objektfixierung, Chiffrierung und Fragmentarisierung gesellen können, die auch allesamt bereits mehrfach und präzise in der Forschung als relevante ästhetische beziehungsweise motivische Strukturen herausgearbeitet worden sind.

Nichtsdestotrotz erfüllt das Werk seinen Zweck des literaturwissenschaftlichen wie historischen Überblicks sowohl für den Erstzugriff als auch für eine Vertiefung in überzeugender Weise und auf hohem Niveau und ist überdies den Erfordernissen dieses einzigartigen Werkes – und dessen besonderer Autorin – gerecht geworden.

Die Verfasserinnen und Verfasser der Handbuch-Artikel sind, und das verwundert auf den ersten Blick durchaus, zu einem guten Teil (jedenfalls bislang) nicht als Müller-Exegeten bekannt. Dies entpuppt sich aber ganz überwiegend nicht als nachteilig, denn bei manch einem der bereits länger in die Herta-Müller-Forschung involvierten Autoren fallen der eigene Geltungsdrang und eine Tendenz zur Fortschreibung der eigenen Thesen auf, was dem idealerweise neutralen Stil eines Handbuchs nicht immer entspricht.

Der Metzler-Verlag ist mit dem Handbuch zu Herta Müller das Wagnis eingegangen, eine lebende und noch im Schaffensprozess befindliche Autorin zu kanonisieren. Es bleibt sehr zu hoffen, dass Herta Müller selbst sich davon nicht einschüchtern lässt und trotz der intensiven Forschung und der offenkundigen Bemühung des deutschen Literaturbetriebs, sie bereits zu Lebzeiten zu einer unsterblichen Ikone der deutschen Literatur des 21. Jahrhunderts zu machen, nicht davor zurückschreckt, ihrem Œuvre in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch einiges hinzuzufügen, das zahlreiche Neuauflagen und Neuperspektivierungen dieses wichtigen Buches notwendig machen wird.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 131–132.

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