Der am 2. April 2021 im Alter von 91 Jahren in Marburg-Ginseldorf verstorbene Historiker Hugo Weczerka war Vertreter einer Forschergeneration, in der das eigene landsmannschaftliche Herkommen „aus dem Osten“ gelegentlich noch eine vorprägende Bedeutung für die spätere wissenschaftliche Arbeit hatte. Geboren worden war Weczerka am 25. März 1930 in einer Familie der deutschen Volksgruppe im Örtchen Wama (rum. Vama) im nördlichen Rumänien, einer Region, die bis 1918 zum habsburgischen Kronland Bukowina gehört hatte; in der dortigen Provinzmetropole Czernowitz (ukr. Černivci, rum. Cernăuți) wuchs er bis 1940 auf. Insofern verwundert es nicht, dass seine erste wissenschaftliche Publikation 1955 Die Deutschen im Buchenland behandelte und seine nur ein Jahr später an der Universität Hamburg erfolgreich verteidigte, 1960 publizierte Dissertation Das mittelalterliche und frühneuzeitliche Deutschtum im Fürstentum Moldau zum Gegenstand hatte. Zugleich ist es freilich ein Ausdruck der Vielseitigkeit von Weczerkas Forschungsinteressen, dass die Beschäftigung mit der Geschichte Südosteuropas fortan nur eine von insgesamt drei Säulen seines wissenschaftlichen Schaffens bildete.
Im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts war die Familie 1940 nach Sosnowitz (pl. Sosnowiec) in Oberschlesien umgesiedelt worden, was kriegsbedingt freilich Episode blieb. Die Flucht vor der Roten Armee verschlug Hugo Weczerka 1945 schließlich nach Hamburg, wo er 1950 sein Abitur ablegte und anschließend sein Studium der Geschichte an der dortigen Universität aufnahm. In Hermann Aubin und Walter Kuhn begegnete er hier Wissenschaftlern, deren Wirken in besonderer Weise der historischen Schlesienforschung galt – die dann folgerichtig zur zweiten Säule von Weczerkas wissenschaftlichen Interessen wurde. Seinen prägenden Lehrer und Doktorvater fand er indes in dem deutschbaltischen Historiker Paul Johansen, dessen Forschungsbereich erwartungsgemäß auch auf den Schüler abfärbte: Die historische Hanseforschung bildete von da an die dritte Säule im Œuvre Hugo Weczerkas, der ab 1959 eine Assistentenstelle am Hamburger Historischen Seminar bekleidete.
Johansens früher Tod im April 1965 wurde für Weczerka insofern zu einer beruflichen Zäsur, als sein bereits eingeleitetes Habilitationsverfahren an der Universität Hamburg ohne die Unterstützung seines Mentors scheiterte. Seinen weiteren wissenschaftlichen Werdegang konnte dieser Makel gottlob nicht hemmen, auch wenn Weczerka der universitären Forschung und Lehre nun den Rücken kehrte und stattdessen 1967 eine Stelle am Marburger Herder-Institut (heute Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft) annahm, der wichtigsten außeruniversitären Institution der Ostmitteuropaforschung in Westdeutschland. Aus Weczerkas dortiger Arbeit als Referent für Schlesien ging eine seiner wichtigsten Publikationen hervor: der von ihm nicht nur herausgegebene, sondern gut zur Hälfte auch selbst verfasste, 1977 in Erstauflage erschienene Schlesien-Band der Reihe Handbuch der Historischen Stätten. Für diesen Einsatz im Bereich der historischen Geografie und Städteforschung war Weczerka schon deshalb prädestiniert, weil er bereits in den 1950er-Jahren in engen Kontakt mit dem (1968 verstorbenen) Historiker und Geografen Herbert Schlenger gekommen war und in der Folge an mehreren entsprechenden Projekten intensiv mitgewirkt hatte: dem Atlas Östliches Mitteleuropa, dem Deutschen Städteatlas sowie dem mehrbändigen Werk Hansische Handelsstraßen.
Auch im Bereich der Wissenschaftsorganisation hat Hugo Weczerka sichtbare Spuren hinterlassen: Nachdem er bereits von 1969 bis 1982 als Schriftleiter der Zeitschrift für Ostforschung amtiert hatte, führte ihn seine Laufbahn noch relativ spät, im Jahr 1990, an die Spitze des Herder-Instituts, dessen Direktor er bis zu seiner Pensionierung 1995 blieb. Zudem galt sein Engagement den privatrechtlich organisierten Institutionen der Ostmitteleuropaforschung, konkret dem Hansischen Geschichtsverein, der Südostdeutschen Historischen Kommission sowie der Historischen Kommission für Schlesien.
Ein Freund der „großen Pose“ ist Hugo Weczerka auch in seinen Leitungspositionen nie gewesen – stattdessen profilierte er sich bereits während der Hochphase des Kalten Krieges als ein beharrlicher wissenschaftlicher Brückenbauer zwischen West und Ost. Tagungen in der DDR besuchte er auch nach dem Bau der Berliner Mauer unverdrossen und nutzte diese dazu, auch mit polnischen Forscherkollegen in Kontakt zu kommen, zu denen in dieser Zeit noch kaum „offizielle“ Gesprächskanäle existierten. Hieraus ergab sich eine enge persönliche Beziehung etwa zu dem polnischen Schlesienhistoriker Władysław Czapliński, den Weczerka 1971 auch erstmals privat in Breslau (pl. Wrocław) besuchte. Im August 1989 – noch vor dem Fall der Mauer also – regte Weczerka an, in der Historischen Kommission für Schlesien die „Möglichkeit einer besonderen Mitgliedschaft für ausländische Forscher“ vorzusehen: zehn Jahre bevor die Kommission dann tatsächlich erstmals polnische und tschechische Historiker in ihre Reihen aufnahm und damit endgültig aus ihrer „deutschtumszentrierten“ Forschungstradition heraustrat.
Daraus erhellt, dass Weczerka schon früh über die überkommenen Paradigmen und Denkschablonen der „deutschen Ostforschung“ hinausdachte. Bereits anlässlich der Übernahme der Schriftleitung der Zeitschrift für Ostforschung hatte er, zunächst vergeblich, angeregt, diese in Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung umzubenennen – ein Vierteljahrhundert bevor dieser Schritt 1995 dann tatsächlich vollzogen wurde. Zugleich wandte er sich aber stets gegen eine allzu billige und pauschale Verdammung deutscher Osteuropa-Historiker und ihrer Leistungen: Seinen Lehrer Johansen etwa hat er noch 2010 mit Verve gegen unbegründete politische Anwürfe verteidigt.
In Hugo Weczerka hat die deutsche Ostmittel- und Südosteuropaforschung eine Persönlichkeit verloren, wie man sie in ihrer warmherzigen Bescheidenheit, ihrer Kollegialität und ihrer Bereitschaft zur Hintanstellung persönlicher Befindlichkeiten im Dienste der Wissenschaft heute leider nur noch selten findet.
Roland Gehrke ist außerplanmäßiger Professor und Studiengangsmanager am Historischen Institut der Universität Stuttgart mit einem Schwerpunkt auf Schlesienforschung.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 222–224.