Foto: Stadt Ingolstadt / Ulli Rössle
Am 24. November 2019 erhielt die 1977 in Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben) geborene Freiburger Schriftstellerin Iris Wolff für ihr bisheriges literarisches Werk den Marieluise-Fleißer-Preis 2019 der Stadt Ingolstadt. Anlässlich dieser Preisverleihung sprach der Laudator Klaus Hübner mit der Autorin.
Iris Wolff, herzlichen Glückwunsch zum Marieluise-Fleißer-Preis! Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Fleißer umschreiben? Sie haben einmal gesagt, dass ihr Erzählband Avantgarde Sie besonders beeindruckt hat.
Wir hatten ein distanziert-neugieriges Verhältnis. Durch den Preis sind wir einander näher gerückt, man kann vielleicht sagen: für alle Zeit miteinander verbunden.
Welche Texte, welche Autoren waren und sind für Ihr Schreiben ganz besonders prägend?
Ich bin stark durch die Begegnung mit der Frühromantik geprägt. Diese Epoche hat die Fantasie philosophisch legitimiert, das hat meine Weltsicht radikal verändert. Von Franz Kafka habe ich das gestische Erzählen gelernt, von Hermann Lenz, dass das Zuhause ein innerer Ort ist, den (schreibend) zu finden man die Freiheit hat. Außerdem fühle ich mich Eva Strittmatter, Mascha Kaléko und Gottfried Benn in ihren Gedichten verwandt (zögert). Jedes gute Buch kann dem eigenen Schreiben etwas hinzufügen – meine diesjährige Entdeckung: W. G. Sebald. Im Frühling habe ich mich chronologisch durch alle seine Romane gelesen.
Ihre bisherigen drei Romane spielen alle in Siebenbürgen, in und um Ihren Geburtsort Hermannstadt. Wird Siebenbürgen der Schauplatz Ihrer Literatur bleiben, so wie Günter Grass immer wieder auf Danzig zurückgekommen ist oder Peter Handke auf seine Kärntner Heimat an der slowenischen Grenze?
Ich habe mir diese Frage bei jedem meiner Romane gestellt und manchmal damit gehadert, dass meine Texte immer mit Siebenbürgen zu tun haben. Das Schlimmste, was einer Autorin passieren kann, ist vorhersehbar, erwartbar zu sein oder wenig Leserinnen und Leser zu finden, weil das Thema zu exotisch scheint. Gleichzeitig kann und will ich das, woraus meine Geschichten entstehen, nicht reglementieren – ich muss mich dem überlassen. Sonst riskiere ich die Energie und Notwendigkeit, die es braucht, um über Jahre an einem Romanstoff dranzubleiben. Die Themen bleiben vielleicht gleich, aber die Sprache verändert sich, das Bewusstsein für Strukturen und Formen des Erzählens. Vielleicht ist so beides möglich: in Siebenbürgen bleiben (oder zumindest davon ausgehen) und mehr Welt in meine Bücher hineinlassen. Die Vergangenheit soll in einem lebendigen Bezug zur Gegenwart stehen.
Ihre Geschichten spielen nun mal dort, und deshalb sind es Siebenbürger Geschichten. Aber Sie haben mehrfach betont, dass es immer auch universelle Geschichten sind. Die Jury des Fleißer-Preises schreibt, dass Ihre Romane „ein großes europäisches Panorama skizzieren“. Weshalb sind Ihre Romane universell, und inwiefern entwerfen sie ein großes europäisches Panorama?
Lesen bedeutet Überschreiten – der eigenen Grenzen, des eigenen Horizonts. Liest man Texte aus Ländern, die man nicht kennt, die in anderen Zeiten als der Gegenwart spielen, ist die Erfahrung möglich, dass das, was weit weg ist, dennoch etwas mit mir zu tun haben kann. Alle gute Literatur ist für mich universell, das Verbindende ist wichtiger als das Trennende. Literatur ist, nach Milan Kundera, ein Erfahrungsraum, ein Feld menschlicher Möglichkeiten. Dass in meinen Büchern ein europäisches Panorama entsteht, ist beim Schreiben keine vorgefasste Absicht (lacht) – es hat damit zu tun, dass meine Figuren auf der Suche sind, Ländergrenzen überwinden (oftmals durch politische Gegebenheiten gezwungen), ebenso wie innere Grenzen. Eine Eigenheit Osteuropas ist ja die sprachliche, geistige (und damit auch religiöse) Vielfalt. Die Tatsache, dass ethnische, nationale und konfessionelle Identitäten vielfältig und wandelbar sind, die Erfahrung von Mehrsprachigkeit, bringt ein ständiges Hinterfragen und Erkennen seiner selbst und des Anderen mit sich.
Es gibt beim Reden und Schreiben über die deutschsprachige Literatur viele Schubladen. Eine davon, die man vor allem im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts oft und gerne aufgemacht hat, heißt „rumäniendeutsche Literatur“. Natürlich fühlten Sie sich Herta Müller verbunden, haben Sie mal gesagt, der bekannten Nobelpreisträgerin, die eine ganze Generation älter ist als Sie. Ich kann in Ihren Romanen wenig finden, das mich an Herta Müllers Bücher erinnern würde. Ist Ihr Schreiben nicht ganz anders?
Viel zu selten werden diese Schubladen hinterfragt. Was sind die Bezugsgrößen für solche Verortungen? Biografische, geschichtliche oder literarische? Was hat mehr Gewicht, Geschichte oder Gegenwart? Emil Ciorans Ausspruch, man wohne in einer Sprache, kann davon befreien, sich auf einer Landkarte verorten zu müssen.
In Herta Müllers Essay In jeder Sprache sitzen andere Augen schreibt die Autorin, wie sie sich als Kind im Banat Wesen und Name der Dinge angeeignet hat: „Ich aß Blätter und Blüten, damit sie mir meiner Zunge verwandt sind. Ich wollte, dass wir uns ähneln, denn sie wussten, wie man lebt, und ich nicht.“ Dieser Form der Weltaneignung – und auch diesen Zweifeln fühle ich mich verwandt. Meine Kindheit im Banat, in und um Semlak in der Nähe von Arad, war geprägt von einer Verbundenheit mit der Natur, dem Gefühl, dass es keine Trennung zwischen Innen und Außen gibt, dass alles um meinetwillen da ist. Nach der Auswanderung waren diese Freiheit und Selbstverständlichkeit fort. Die Suche nach den Namen der Dinge, nach der Verbindung von Sprache und Erfahrungen hat mich zur Literatur geführt. Herta Müller schreibt, das Rumänische sei ihr „in den Blick hineingewachsen“; ich meine zu wissen, was sie damit meint. Sprachen wachsen einem in den Blick, Worte und Bücher wachsen einem in den Blick, mitunter auch Menschen – und ich wäre noch immer heimatlos, hätte ich die Literatur nicht.
Inwiefern schreiben Sie realistisch? Was ist das überhaupt? Friedrich Schlegel, einer Ihrer literarischen Hausheiligen, schreibt eher nicht realistisch, sondern poetisiert die Welt im Sinn der frühen Romantik. Tun Sie das nicht auch? Wenigstens manchmal?
Ich glaube nicht an Realismus, auch wenn meine Bücher in dem Sinn realistisch sind, dass sich die Wirklichkeit von der Fiktion nicht so leicht unterscheiden lässt. Ich lebe in einem gewissen Widerstand gegen die Vernunft (lächelt). Realismus ist immer begrenzt, Poesie unendlich und transformativ. Warum? Die Welt ist eine Mitteilung. Auch Dinge, deren Sprache wir nicht verstehen: Vögel, Steine. Das ist natürlich ein zutiefst romantischer Gedanke. In der Poetik der Frühromantik sind bürgerlicher und fantastischer Lebensbereich nicht getrennt, sondern zwei Dimensionen der Realität; sie können an ein und demselben Ort erfahren werden. Schwellenüberschreitungen von einer Realität in die andere vollziehen sich als Veränderung im Sehen. Ich stelle in meinen Büchern Wahrnehmung zur Verfügung, in meinem Verständnis von Literatur wird ein Text erst in den Köpfen der Leserinnen und Lesern lebendig. Lesen ist ein schöpferischer Akt. Darum gibt es auch keine einzig gültige Deutung, immer nur eine Annäherung an den Text.
Ich wünsche Ihnen, dass der Fleißer-Preis noch mehr Leserinnen und Leser für Halber Stein, Leuchtende Schatten und So tun, als ob es regnet begeistert. Was kommt danach? Verraten Sie uns etwas über Ihre literarischen Pläne und Projekte?
Über Texte zu sprechen, die im Entstehen sind, habe ich mir abgewöhnt (lacht). Nur soviel: Der neue Roman bewegt sich vom Ende der 1960er-Jahre in die Gegenwart, vom Banat über Berlin und die Nordsee bis zu einer Großstadt in Baden-Württemberg. Ich habe weiter mit episodenhaftem Erzählen experimentiert. Der Roman ist als Kaleidoskop aus verschiedenen Stimmen und Perspektiven angelegt, die auf die Hauptfigur des Romans verweisen. Ich bleibe vielen meiner Themen treu, und doch hat sich das Schreiben, die Sprache verändert. Die Leserinnen und Leser müssen noch ein wenig warten. Der Roman erscheint im Herbst 2020 bei Klett-Cotta.
Iris Wolff, vielen Dank für das Gespräch!
Erlauben Sie mir noch einen Nachsatz: Literatur ist keine Antwort, eher eine Fragestellung – mit der Aufforderung, selbst Antworten zu suchen. So braucht es in Westeuropa „nur“, aber stetig, Wahr-Nehmung.
Iris Wolff , geboren 1977 in Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben), war nach dem Studium der Germanistik, Religionswissenschaft sowie Grafik und Malerei in Marburg an der Lahn langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach. 2013 war sie Stipendiatin für Literatur der Kunststiftung Baden-Württemberg. Für ihren ersten Roman Halber Stein erhielt sie den Ernst-Habermann-Preis 2014. Zuletzt erschienen So tun, als ob es regnet – ein Roman in vier Erzählungen und die Kurzgeschichte Drachenhaus in der Anthologie Wohnblockblues mit Hirtenflöte. 2019 erhielt die Schriftstellerin den Marieluise-Fleißer-Preis.
Erscheint in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg.
[…] Wild und Karl Manherz zu Wort kommen, wenden wir uns erneut der Literatur zu: Klaus Hübner interviewt unsere treue Spiegelungen-Autorin Iris Wolff, nicht zuletzt anlässlich ihrer jüngsten Auszeichnung, des Marieluise-Fleißer-Preises. Ein […]