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Israil Bercovici: Hundert Jahre jüdisches Theater in Rumänien 1876–1976 | Rezension

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Israil Bercovici: Hundert Jahre jüdisches Theater in Rumänien 1876–1976. Aus dem Rumänischen von Maria Herlo. Heidelberg: WaRo-Verlag 2024. 608 S.

Das jüdische Theater in Rumänien ist nicht nur als Medium zur Artikulation jüdischer Identität zu begreifen, sondern auch als konstitutiver Bestandteil der rumänischen sowie der transnationalen Theatergeschichte. Seit seiner institutionellen Etablierung im Jahr 1876 durchlief es vielfältige historische Entwicklungsphasen und Transformationsprozesse, die eng mit den politischen, sozialen und kulturellen Umbrüchen des Landes verflochten waren. Dabei war das jüdische Theater weit mehr als nur ein Ort künstlerisch-ästhetischer Entfaltung: Es diente der jüdischen Gemeinschaft als Mittel sprachlicher und kultureller Selbstbehauptung und spiegelte zugleich die vielschichtigen Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit in einer Gesellschaft, in der Jüdinnen und Juden häufig sozialen, politischen und wirtschaftlichen Spannungen ausgesetzt waren, wider. In diesem Kontext spielte insbesondere die jiddische Sprache eine wesentliche Rolle. Als Alltagssprache einer beträchtlichen Anzahl rumänischer Juden im 19. Jahrhundert, insbesondere derer aus der Moldau, stellte das Jiddische dem Theater ein organisch gewachsenes Publikum bereit, welches die Nuancen, den Humor, die Melancholie und die Sprichwörtlichkeit der Sprache erfasste. In der Zwischenkriegszeit blieb das jüdische Theater trotz zunehmendem Assimilationsdruck und staatlicher Rumänisierungspolitik ein wichtiger kultureller und sozialer Treffpunkt, in dem jüdische Identität und Tradition bewahrt wurden. Insbesondere in den nach dem Ersten Weltkrieg neu zu Rumänien gehörenden Regionen wie Bukowina, Bessarabien und Siebenbürgen/Transsilvanien entstanden dynamische jiddische Kulturzentren, in denen sich auch das Theater manifestieren konnte.

Israil Bercovici (1921–1988) zählt zu den prägenden Persönlichkeiten der jüdischen Kulturgeschichte Rumäniens im 20. Jahrhundert. In seiner vielfältigen Tätigkeit als Dramaturg, Regisseur, Theaterhistoriker, Übersetzer und langjähriger literarischer Sekretär am Jüdischen Staatstheater in Bukarest verband er wissenschaftliche Akribie mit praktischer Theaterarbeit. Das Hauptwerk von Bercovici, O sută de ani de teatru evreiesc în România. 1876–1976 [Hundert Jahre jüdisches Theater in Rumänien. 1876–1976], bleibt bis heute eine der bedeutendsten historiografischen Quellen zur Entwicklung des jüdischen Theaters in Rumänien und stützt sich dabei auf eine umfassende Dokumentation. Die Publikation wurde ursprünglich 1976 auf Jiddisch unter dem Titel Hundert ior idiş teater in Rumenie im Kriterion-Verlag anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des professionellen jüdischen Theaters in Rumänien herausgegeben und basiert auf umfangreicher Archivrecherche, Interviews, Zeitzeugenberichten sowie der jahrzehntelangen Tätigkeit Bercovicis am Jüdischen Staatstheater in Bukarest.[1] Eine rumänische Version wurde 1982 im zuvor genannten Verlag in der Selbstübersetzung des Verfassers publiziert und somit einer breiteren Leserschaft verfügbar gemacht. 1998 folgte eine überarbeitete und ergänzte Ausgabe, die im Integral-Verlag erschien. In dieser Ausgabe wurden Sätze gestrichen, welche Klischees und verbale Automatismen darstellten, die in der Zeit der Ceaușescu-Diktatur unvermeidlich waren.

Gegenstand der vorliegenden Rezension ist jedoch die deutsche Übersetzung des Hauptwerks von Israil Bercovici, die 2024 unter dem Titel Hundert Jahre jüdisches Theater in Rumänien. 1876–1976 im WaRo-Verlag in Heidelberg erschienen ist. Die Übersetzerin Maria Herlo hat das Werk mit großer sprachlicher Sorgfalt und historischem Feingefühl ins Deutsche übertragen. Damit haben deutsche Leser erstmals Zugang zu einem Nachschlagewerk über die Kulturgeschichte der Entwicklung des jüdischen Theaters in Rumänien, dessen Resonanz weit über die Landesgrenzen hinausreicht. Der Übersetzung ist ein Vorwort des Publizisten Joachim Hemmerle vorangestellt, in dem er seine Begegnung mit Israil Bercovici in den 1970er-Jahren in Bukarest schildert, wichtige Momente der Geschichte des jüdischen Theaters weltweit beleuchtet und bibliografische Hinweise zum Thema gibt. Es folgt das Vorwort der Übersetzerin, in dem sie auf Aspekte bestimmter Entscheidungen im Übersetzungsprozess eingeht und den Inhalt des Buches zusammenfasst. Ein kurzer biografischer Abriss über Israil Bercovici ist in diesem Teil ebenso enthalten wie eine Danksagung an Mirjam Bercovici für die Gewährung der Rechte zur Veröffentlichung der Übersetzung und der Bilder. Der Übersetzung geht eine kurze Darstellung der Geschichte des Jüdischen Staatstheaters in Bukarest voraus, verfasst von Maia Morgenstern, der damaligen Direktorin des Theaters, sowie eine kurze Vorstellung des Buches durch die Theaterkritikerin Ileana Berlogea, die aus der rumänischen Ausgabe übernommen wurde. Von großem Nutzen für die Leserschaft, die mit der Geschichte Rumäniens und der jüdischen sowie jiddischen Kulturlandschaft in Rumänien oder allgemein weniger vertraut ist, sind die Anmerkungen der Übersetzerin, die eine wichtige Orientierung bieten.

Bercovicis Monografie ist in drei chronologisch strukturierte Teile gegliedert, welche drei unterschiedliche Zeitspannen abdecken: 1876–1916, 1916–1944 und 1944–1976. Im ersten Teil des Buchs, betitelt „Der grüne Baum“ und seine Zweige, bildet der künstlerische Werdegang Abraham Goldfadens, der als „Vater des jüdischen Theaters“ (S. 27) bezeichnet wird, den Ausgangspunkt und zugleich den Gegenstand der Untersuchung. Als Theaterpraktiker und Symbolfigur einer kulturellen Bewegung, die über rein ästhetische Ziele hinausging und Fragen jüdischer Identität, Emanzipation und sozialer Zugehörigkeit verhandelte, ist Goldfaden ein bedeutender Akteur des jüdischen beziehungsweise jiddischen Theaters.

Dazu beschreibt Bercovici in seiner Abhandlung die Entstehung und Entwicklung jüdischer Theatertruppen und untersucht detailliert ihre Wanderungen durch städtische und ländliche Regionen sowie die Wechselwirkungen mit verschiedenen europäischen Theatertraditionen. In diesem Zusammenhang werden von dem Autor Figuren wie Berl Broder und die von ihm gegründete Wandertruppe Brodysingers sowie der Troubadour und Volkskünstler Welwel Zbarzer erwähnt. Neben der Darstellung der Inszenierungsgeschichte werden in diesem Teil auch Fragen der Theaterpolitik, die Verwendung von Sprachen (insbesondere Jiddisch und Hebräisch sowie andere Sprachen), des Zuschauerprofils und der staatlichen Kontrolle sowie der damit verbundenen Zensur untersucht.

Im zweiten Teil der Monografie, betitelt Wandernde Sterne, stellt Israil Bercovici die Entwicklung des jüdischen Theaters im Rumänien der Zwischenkriegszeit, aber auch während des Zweiten Weltkriegs in den Vordergrund. Dabei legt der Autor den Schwerpunkt auf die Persönlichkeit und den künstlerischen Werdegang von Jacob Sternberg und die Aktivitäten der Wilnaer Truppe in Rumänien in den 1920er-Jahren. Als einer der einflussreichsten Erneuerer des jüdischen Theaters in Rumänien und in seiner Tätigkeit als Regisseur verband Sternberg moderne europäische Strömungen wie Expressionismus und sowjetische Regieästhetik mit jiddischer Sprache und Themen, wodurch er der Bühne eine neue künstlerische und intellektuelle Tiefe verlieh. Dazu erwähnt Bercovici in diesem Teil der Monografie die Gründung der BITS-Bühne durch Jacob Sternberg sowie die des Barascheum-Theaters. Letzteres bestand zwischen 1941 und 1945, als die von der Antonescu-Diktatur eingeführten antisemitischen Gesetze jüdischen Schauspielern das Auftreten in rumänischen Theatern untersagten. Die Stücke des Theaters mussten ausschließlich von nicht-rumänischen Autoren geschrieben werden und durften auf Anordnung der Antonescu-Behörden nur in rumänischer Sprache aufgeführt werden. Bercovici gelingt eine beeindruckende Dokumentation, indem er Auszüge aus der damaligen Presse, Dokumente aus verschiedenen Archiven sowie Reproduktionen von Fotos und Plakaten von Theateraufführungen einbezieht.

Der abschließende Abschnitt des Buches, der den Titel Im Einklang mit allen anderen Theatern trägt, widmet sich der Entwicklung des jüdischen Theaters in Zentren wie Bukarest und Jassy (rum. Iaşi) im Zeitraum von der Befreiung durch die Sowjetarmee bis zum Jahr 1976. Neben einer umfangreichen fotografischen Dokumentation enthält er zeitgenössische Presseberichte namhafter literarischer Persönlichkeiten, darunter Tudor Arghezi, Victor Eftimiu und Ion Marin Sadoveanu. Ergänzt wird dieser Teil durch ein vollständiges, chronologisch geordnetes Verzeichnis sämtlicher jiddischer Theateraufführungen im Zeitraum von 1876 bis 1976, das der Forschung wie auch einer interessierten Leserschaft wertvolle Erkenntnisse bietet.

Das Werk von Israil Bercovici ist und bleibt ein Meilenstein in der osteuropäischen Theaterforschung und kann als Pionierwerk in diesem Bereich betrachtet werden. Es dokumentiert nicht nur eine kulturelle Geschichte, die häufig marginalisiert oder vergessen wurde, sondern leistet auch einen Beitrag zur Aufarbeitung der jüdischen Präsenz in der rumänischen Gesellschaft. Dazu reflektiert es auch Fragen der Identität von Minderheiten, der kulturellen Produktion sowie der politischen Unterdrückung. In Zeiten nationalistischer Kulturpolitik und ethnischer Ausgrenzung fungierte das jüdische Theater als ein Ort der Selbstbehauptung, eine Funktion, die Bercovici in seiner Analyse eindrucksvoll herausarbeitet.

Es ist jedoch kritisch anzumerken, dass der ideologische Kontext der Veröffentlichung – das sozialistische Rumänien der 1970er-Jahre – bestimmte Narrative maßgeblich beeinflusste. Die Darstellung des Verhältnisses zwischen jüdischer Kultur und dem sozialistischen Staat ist stellenweise apologetisch, was einer historischen Distanzierung im Weg steht. Dennoch wird dadurch die dokumentarische und interpretative Bedeutung des Werkes nicht geschmälert. Für Forscher aus den Bereichen Literatur, Theater und Kultur sowie für Historiker und an diesem Thema Interessierte ist dieses Buch eine unentbehrliche Quelle.

Für eine eventuelle Neuauflage in deutscher Sprache wäre es dennoch empfehlenswert, ein einheitliches und kohärentes System für die Transkription beziehungsweise Transliteration der Titel und aller aus der jiddischen und rumänischen Sprache übernommenen Elemente zu verwenden, das an die deutschsprachige Leserschaft angepasst ist, oder im Falle des Jiddischen die von YIVO vorgeschriebenen Transliterationsregeln zu beachten.

Francisca Solomon


[1] Anlässlich seines 80-jährigen Bestehens veröffentlichte das Jüdische Staatstheater in Bukarest im Jahr 1956 den zweisprachigen Band Optzeci de ani de teatru evreiesc în România. 1876–1956 [Achtzig Jahre jüdisches Theater in Rumänien. 1876–1956], zu dem auch Israil Bercovici beitrug. Das Buch enthält historische Skizzen, Fotos, Kurzbiografien und Theaterprogramme und gibt somit einen Einblick in die Arbeit einer lebendigen kulturellen Institution, die in die noch junge sozialistische Kulturpolitik Rumäniens eingebettet war.