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Jens Mühling: Schwere See | Rezension

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Jens Mühling: Schwere See. Eine Reise um das Schwarze Meer. Hamburg: Rowohlt 2020. 314 S.

Jens Mühling, Jahrgang 1976, ist Journalist mit Spezialisierung auf osteuropäische Themen. Neben Zeitungsbeiträgen verfasst er Reisereportagen, zuletzt den Band Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine (2016). Als seine Idee Gestalt annahm, für ein weiteres Buchprojekt das Schwarze Meer zu umrunden, hatte sich zwar die russische Führung in Moskau die Krim bereits einverleibt und damit eine geopolitisch brisante Situation geschaffen. Doch konnte der Autor auch als Kenner des östlichen Europas wohl kaum ahnen, welch noch explosivere Bedeutung der Schwarz-Meer-Raum bald nach dem Erscheinen seines Reiseberichtes durch den russischen Überfall auf die Ukraine erhalten sollte.

Neun Monate brachte Jens Mühling auf seiner abwechslungsreichen Reise zu und legte in dieser Zeit viereinhalbtausend Kilometer zurück. Er war per Anhalter unterwegs, mit Bussen, Taxis, gelegentlich per Schiff. Nicht immer auf direktem Wege, denn manchmal standen ihm unüberwindbare politische Hindernisse, etwa Einreisebeschränkungen, im Weg, bei denen auch sein deutscher Pass nicht automatisch als Schlagbaumöffner wirkte. Das Schwarze Meer erschien ihm auf seiner Reise je nach Perspektive silbrig, blau, grün, braun, bleiern oder grau, niemals aber „schwarz“. Einen persönlichen Bezug zu diesem Meer stellt der gebürtige Siegerländer Mühling über den aus Neunkirchen im Siegerland stammenden Admiral Johann Heinrich von Kinsbergen her, der im 18. Jahrhundert über die Niederlande ins Russländische Reich gezogen war und in Diensten der Zarin Katharina II. wichtige militärische Erfolge gegen das Osmanische Reich ausgefochten hatte.

Russland ist heute nach wie vor die gewichtigste Großmacht unter den Schwarzmeer-Anrainerstaaten, und es hat seine strategische Position durch die Annexion der Krim im März 2014 weiter ausgebaut. Mühling wird zum Augenzeugen des Brückenbaus über die Straße von Kertsch, die Meerenge zwischen dem Asowschen und dem Schwarzen Meer. Mit dieser Brücke bindet Russland die Krim an das russische Festland. Der Autor weigert sich, dieses Bauwerk zu überqueren und damit die Angliederung der Krim symbolisch anzuerkennen. Deshalb beginnt er seine Rundreise in einem Ort unmittelbar östlich der Straße von Kertsch (ukr. Керч, russ. Керчь), um sie nach der Meeresumrundung in Kertsch, westlich der neuen Brücke, zu beenden. Dazwischen liegt eine ausgedehnte Reise durch Russland, Georgien, Abchasien, die Türkei, Bulgarien, Rumänien, die Ukraine und die Krim. Immer wieder scheinen in Mühlings Reportagen politische, kulturhistorische und geografische Einschübe auf. Griechische Mythologie, Kunst, kulturelle Besonderheiten der besuchten Menschen und landschaftliche Schilderungen verschränken sich mit Darlegungen skurriler und absonderlicher Begebenheiten und ausführlich wiedergegebenen Dialogen. Der Autor erweist sich als ausgesprochen kommunikativer Beobachter, der seinem Gegenüber mit Interesse und dabei stets auch mit Anerkennung seiner Würde begegnet. Auch dann, als er beispielsweise in den Gesprächen der mentalen Auswirkungen von „fake news“ in den russischen Staatsmedien gewahr wird. Mit Augenzwinkern gibt er auch durchaus gefährliche Situationen wieder, etwa seine Begegnungen und Erfahrungen mit Schmugglern und Dieben.

Am stärksten interessiert sich Mühling für die Schicksale von Menschen, die alle die Regionen um das Schwarze Meer als ihr Zuhause empfinden, aber entweder „unerwünscht“ sind oder ihre Identität aus unterschiedlichen Gründen verleugnen müssen. Georgische Türken in Russland, Ukrainer auf der Krim, Pontier, die Nachfahren der antiken Griechen, syrische Flüchtlinge mit tscherkessischen Wurzeln, Muslime in Bulgarien oder Juden in der Ukraine. In Jens Mühlings Buch wird ihnen ein kleines Stück Wertschätzung zuteil, das ihnen im realen Alltag oftmals verwehrt bleibt. Mit den Augen des Autors begegnen die Leser auch Angehörigen ethnischer Gruppen, die außerhalb ethnologischer Expertenkreise kaum bekannt sein dürften. Lasen, Mescheten, Mingrelier zum Beispiel. Westeuropäer kennen schon eher die muslimischen Tscherkessen oder die christlichen Lipowaner, russische Altgläubige, die zur Zeit der orthodoxen Kirchenreform das Russische Reich verließen und in der Inselwelt des Donaudeltas ein Refugium fanden. Auch ihre Orte sucht Jens Mühling auf seiner Reise auf.

Bei aller Schönheit und Vielfalt der bereisten Landschaften verschließt Mühling keineswegs die Augen vor den Abgründen, die sich ihm darin auftun. Auf dem Weg zum Berg Ararat, dem Ort der Arche Noah aus dem Alten Testament, begegnet er Kolonnen von Flüchtlingen von den Kriegsschauplätzen Zentralasiens, die sich zu Fuß nach Europa aufgemacht haben. An der Grenze Bulgariens sieht er die Stacheldrahtreste des einstigen „Eisernen Vorhangs“, in Suchum in Abchasien besichtigt er die ehemalige Forschungsstation, in der zur Zeit des Stalinismus Versuche angestellt wurden, Menschenaffen und Menschen zu kreuzen. Orte des Scheiterns, die aber offenlegen, zu welchen Abwegen Menschen fähig sind.

Jens Mühling ist nicht der erste Reiseschriftsteller, der um das Schwarze Meer gezogen ist und seine Anrainerstaaten besucht und beschrieben hat. Sein schottischer Kollege Neal Ascherson hat in seinem 1995 erschienenen Buch Black Sea. The Birthplace of Civilization and Barbarism eine populärwissenschaftliche Schilderung vorgelegt. Autorinnen und Autoren wie Ryszard Kapuściński, Andrzej Stasiuk, Mircea Cătărescu oder Katja Petrovskaja haben einzelne Abschnitte des Meeres in den Blick genommen und literarisch verarbeitet. Mühlings Stil folgt nicht dem akademischen Duktus Achersons oder der altmeisterlichen Prosa Kapuścińskis; seine lockere Erzählweise ist vielleicht am ehesten mit der Stasiuks vergleichbar. Mit den häufig im umgangssprachlichen Originaljargon wiedergegebenen Dialogen kontrastieren poetische Bilder, derer er sich bei Landschaftsschilderungen oder kulturhistorischen Einschüben bedient. Die Dialoge tendieren im Übrigen niemals dazu, die Gesprächspartner zu diskreditieren oder sie bloßzustellen; der Autor zeigt damit nicht seine kenntnisreiche Überlegenheit gegenüber scheinbar „rückständigen“ Menschen. Er schafft so vielmehr ein Klima der Authentizität, das auch jedem ethnografisch arbeitenden Wissenschaftler vertraut ist, der seinen bildungsbürgerlichen Horizont aus Vorwissen, Erwartungen und Vorurteilen mit der Realität konfrontiert sieht.

Sicher kann auch Jens Mühling an manchen Stellen seiner eigenen Stereotypenwelt nicht ganz entkommen. Von vielen anderen Journalisten, die von Einzelerfahrungen nur allzu schnell auf allgemeine Erkenntnisse schließen, unterscheiden ihn auf wohltuende Weise seine Kenntnisse von Land und Leuten, seine Beherrschung mehrerer Sprachen, die in dem besuchten Raum gesprochen werden, und sein echtes Interesse. Herausgekommen ist bei seiner Reise ein kurzweiliges und zugleich informatives Buch, das einen mit eintauchen lässt in zumeist unbekannte Gefilde. An vielen Stellen ist es aber auch ein nachdenkliches Werk, das nach der Funktion von Grenzen, Nationen und Imperien fragt. In dieser Hinsicht ist es hochgradig aktuell.

Tobias Weger

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 121–123.

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