Katja Holweck, Amelie Meister (Hgg.): Saša Stanišić: Poetologie und Werkpolitik. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter 2023. 262 S.
Von Klaus Hübner
Der vorliegende Band dokumentiert einen im November 2021 an der Universität Mannheim veranstalteten Workshop zum Werk von Saša Stanišić. Dass dieser 1978 im bosnischen Višegrad geborene, seit 1992 in Deutschland lebende Schriftsteller, dessen 2006 erschienener Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert ihm sofort große Anerkennung verschaffte, heute zu den wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gezählt wird, ist in vielerlei Hinsicht erstaunlich. Der Roman Vor dem Fest (2014), der Erzählungsband Fallensteller (2016) und vor allem der ohne Gattungsbezeichnung auskommende Band Herkunft (2019) waren große Erfolge auf dem Buchmarkt und verkaufen sich bis heute gut. Die Literaturkritik bedachte den Autor fast einhellig mit Lob, und die Zuerkennung wichtiger Literaturpreise blieb nicht aus.
Zusammen mit der Einführung der Herausgeberinnen eröffnet die Laudatio von Andreas Platthaus zur Verleihung des Schillerpreises der Stadt Marbach am Neckar 2021 diesen Sammelband, und seine 2019 Furore machende Dankesrede zum Deutschen Buchpreis gibt Anlass zu den abschließenden beiden Beiträgen. Max Mayr stellt heraus, dass sich Saša Stanišić schon zu Beginn der Handke-Debatte von 2019 in diese eingemischt hat und in seiner Dankesrede „als einer der härtesten Kritiker des Autors sowie der Entscheidung des Nobelpreiskomitees auftritt“. (S. 223) Seine eigene Literatur, durch Authentizität, Wahrheit und Ehrlichkeit gekennzeichnet, werde dabei als Gegenentwurf zu der Peter Handkes definiert. Sarah Alice Nienhaus ergänzt diesen Befund, indem sie sich mit Herkunft und den „Rezeptionsdynamiken nach dem Deutschen Buchpreis“ genauer befasst. (S. 237)
„Tatsächlich weiß Stanišić mit den mit der Autor:innenrolle einhergehenden Herausforderungen […] in der Regel souverän umzugehen“, stellen die Herausgeberinnen fest. (S. 2) Er präsentiere sich „als dezidiert ‚anwesender‘ Autor, der die medialen Möglichkeiten aufmerksamkeitsökonomisch geschickt für seine auktoriale Inszenierung zu nutzen weiß“. (S. 2) Stanišić gebe sich gern als „Autor zum Anfassen“, verweigere sich jeder (abschließenden) Selbstexegese und wende sich mehrfach gegen eine literaturwissenschaftliche „Wut des Verstehens“. Zudem inszeniere er sich, nicht nur in seiner Dankesrede zum Deutschen Buchpreis, als „engagierter Autor mit gesellschaftlichem Sendungsbewusstsein“. (S. 6) Grundsätzlich plädiere er für die Aufhebung der Grenze zwischen nationalliterarischem Kanon und migrantischem Schreiben. Man solle die deutschsprachige Literatur von Autor:innen nicht-deutscher Muttersprache nicht als Konsequenz von Einwanderung, sondern als Konsequenz ihres literarischen Schreibens per se verstehen – die Herkunft bestimme keinesfalls zwingend das „literarische Schicksal“ solcher Schriftsteller:innen. (S. 10) Aus diesen Positionen heraus ergebe sich der Ansatz des Sammelbands, „die dem Stoffkreis der Migration zuzuordnenden Aspekte der Texte nicht auszublenden, jedoch […] mit dem Fokus auf Poetologie und Werkpolitik des Autors ästhetische bzw. universale Aspekte in den Vordergrund der Beiträge zu rücken“. (S. 12). Und das geschieht auch, sowohl im ersten („Poetologie“) als auch im zweiten („Werkpolitik“) Teil des Sammelbands. Es liegt in der Konsequenz des hier angelegten Fokus, dass man über Wie der Soldat das Grammofon repariert – und auch über Vor dem Fest – wesentlich weniger erfährt als über Herkunft. Immerhin noch genug, um sich ein, wenn auch unvollständiges, Bild von Stanišićs ersten beiden Romanen machen zu können.
Mit seinen Schreibverfahren der Fantasy, die in Wie der Soldat das Grammofon repariert „am schwächsten“ und in Herkunft „am deutlichsten“ ausgeprägt seien (S. 36, S. 39), beschäftigt sich Niels Penke. Dass der Tod als „konstitutiver Topos“ im bisherigen Werk des Schriftstellers anzusehen und die „spannungsreiche Engführung von Humorvollem und Tod“ allen seinen Texten gemein sei, stellt Joscha Klüppel in den Mittelpunkt seines Beitrags. (S. 47) Der Tod sei bei Stanišić „einerseits narrativer Auslöser […], andererseits aber auch eine essenzielle und konstante Begegnung und Herausforderung für die Figuren“ (S. 48) – das „natürliche Oppositionspaar Tod-Leben“ (S. 49) werde in allen drei Romanen immer wieder verhandelt, ganz besonders dort, wo es um die Gräueltaten im Bosnienkrieg und deren Folgen für die Überlebenden geht. In Vor dem Fest sei der Tod des Fährmanns der „Katalysator der Erzählung“ und „der alarmierende Höhepunkt eines beständigen Schwundes an Menschen, aber viel mehr noch an Tradition“ (S. 61), und die Herkunft-Geschichte werde von Anfang bis Ende „von der Demenzerkrankung und dem unausweichlichen und letztlich eintretenden Tod der Großmutter überschattet“. (S. 64) Im Grunde sei Herkunft ein verzweifeltes „Anschreiben gegen den Tod“. (S. 67)
Mit den „Zusammenhängen zwischen Stanišićs individueller familiärer und nationaler Herkunft und seinem Erzähler“ setzt sich Paul Krauße auseinander. (S. 71) Herkunft nehme „in Form der Geschichte Jugoslawiens und der Biografie des Autors auf die außerliterarische Realität Bezug“ (S. 73), wobei „Nation“ bei diesem Autor grundsätzlich etwas sei, das performativ erst durch das Erzählte selbst hergestellt und aufrechterhalten wird. Krauße versucht zu zeigen, „wie sich der Roman durch seine Form dem vermeintlich determinierenden Einfluss von Herkunft entzieht“ (S. 86) und dass diese Herkunft bei Stanišić nichts von vornherein Bestimmtes ist, sondern „ein durch Offenheit Gekennzeichnetes, je nach Standpunkt Verschiedenes, das bei jedem Erzählvorgang wieder neu verfertigt wird“. (S. 91) Von einem beiläufigen Erzählen „zwischen kriegerischem Ernst und entwaffnender Ehrlichkeit“ spricht Christian Struck in seiner Strukturanalyse von Herkunft, die die zentrale Bedeutung der Metonymie für dieses Werk besonders herausstellt. Astrid Henning-Mohr untersucht das Mehrsprachigkeitsprinzip in Stanišićs erstem Kinderbuch Hey, hey, hey, Taxi! (2021). Die „Mehrstimmigkeit der Figuren“ zeichne sich in diesem Buch vor allem dadurch aus, „dass sie die Erwartungen und Vorurteile über die Figuren ins Schwingen bringt und den Begrifflichkeiten, die identitätskonstruierend sind, ein Mehr als Sprechmöglichkeiten aufzeigt“. (S. 130) Die Gestaltung des Andersseins werde in Hey, hey, hey, Taxi! zu einem hohen ästhetischen Vergnügen, „welches durch Nonsens und Neologismen erfahrbar wird“. (S. 136)
Dass der Fußball, speziell der Verein Roter Stern Belgrad sowie die damalige jugoslawische Nationalmannschaft, für alle Bücher von Saša Stanišić extrem wichtig ist und dass dies eine motivliche Gemeinsamkeit mit Joachim Ringelnatz, Günter Grass, Ror Wolf, Friedrich Christian Delius, Thomas Brussig, Wolfgang Herrndorf und sogar Peter Handke darstellt, erläutert Amelie Meister. „Auf literarischer Ebene erfüllt der Fußball bei Stanišić verschiedene Funktionen. Zum einen verbindet er zwei seiner literarischen Texte mit der Biografie des Autors, zum anderen fungiert er als Metapher, mittels derer komplexe Zusammenhänge wie etwa der Zerfall des Vielvölkerstaats Jugoslawien sowie konkretes Kriegsgeschehen darstellbar werden“. (S. 147) Anhand der Fußballbegeisterung der sich nach Vater- und Vorbildfiguren sehnenden jugendlichen Protagonisten von Wie der Soldat das Grammofon repariert und Herkunft werde deren persönliches Erleben von Krieg und Migration sowie dessen Folgen für das jeweils eigene Identitätsempfinden entfaltet. Besonders augenfällig sei die Funktion des Fußballs als Metapher für einen idealisierten gesellschaftlichen Zustand der Einheit, „womit die Texte das medial stark verbreitete Narrativ vom Fußball als Ursprung von Auseinandersetzungen in Jugoslawien in Frage stellen“. (S. 163)
Einen anderen höchst interessanten Aspekt von Stanišićs Werk, nämlich die literarische Topografie Heidelbergs in Herkunft, analysiert Katja Holweck. Dass es den Autor 1992 nicht in irgendeine deutsche Stadt verschlagen hat, sondern in eine, „die in der deutschen Literaturgeschichte eine herausgehobene Stellung einnimmt“, habe die Weichen für seinen späteren Weg als Schriftsteller gestellt. (S. 169) Zentral seien hier die einschlägigen Gedichte von Joseph von Eichendorff sowie Friedrich Hölderlins Schilderung der Ruine des Heidelberger Schlosses. „Der Mythos Heidelberg, an dem Hölderlin als einer der ersten mitschreibt, wird in ‚Herkunft‘ aufgegriffen und weitergeführt, die Rolle des Orts als (literarischer) Erinnerungs- und Sehnsuchtsort aktualisiert und darüber Text und Autor in Bezug zur deutschen Romantik gesetzt“. (S. 175f.) Der zuvor gewiss nicht zum Heidelberger Mythos gezählte Stadtteil Emmertsgrund mit seiner ARAL-Tankstelle werde durch Herkunft zu einem bedeutenden literarischen Ort, der auch Stanišićs Verständnis von „Heimat“ verändert habe – an die Stelle eines räumlichen Verständnisses von „Heimat“ trete das „Konzept der Sprach- und Literaturheimat“. (S. 187) Katharina Richter fasst einen sehr modernen Aspekt von Stanišićs Werkpolitik näher ins Auge und untersucht Herkunft als „Storyworld zwischen Tweet und Buchformat“ (S. 193) – die Bestimmung eines Werks und seiner Grenzen werde in hybriden literarischen Kontexten vor neuartige Herausforderungen gestellt. „Ehemals leichter zu treffende Unterscheidungen zwischen öffentlich und privat, Autor:in und Privatperson, Notaten und Veröffentlichung werden in digitalen Zeiten durchlässig und damit auch Grenzen, die Konzepte von Autor:innenschaft und Werk mit verhandeln“. (S. 206) Die Grenze zwischen verschiedenen Formaten verwische sich inhaltlich wie ästhetisch – mit Herkunft als Storyworld arbeite der Autor auch einem Verständnis von Romanen als auratisch geschlossenen Werken entgegen.
Für jede weitere Beschäftigung mit Person und Werk des Schriftstellers wird dieser Sammelband unumgänglich bleiben. Die ihn abschließende Forschungsbibliografie, die die beiden Herausgeberinnen zusammengestellt haben, trägt entscheidend dazu bei. Dass die akademische Beschäftigung mit dem noch nicht einmal 50-jährigen Saša Stanišić zu einem derart ertrag- und erkenntnisreichen Buch geführt hat, mag man als unübersehbares Indiz dafür werten, wie wichtig der Autor für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist und bleiben wird.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2024), Jg. 19, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 121-123.