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Linguistica 60 (2). Deutsche Sprachminderheiten im östlichen Europa – Sprache, Geschichte, Kultur | Rezension

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Linguistica 60 (2). Deutsche Sprachminderheiten im östlichen Europa – Sprache, Geschichte, Kultur. Ljubljana: Ljubljana University Press 2020. 383S. 

Die 2020 erschienene Ausgabe der Zeitschrift Linguistica behandelt das Thema deutsche Sprachminderheiten im östlichen Europa und ist in der Zusammenarbeit der Universitäten Ljubljana (dt. Laibach), Maribor (dt. Marburg an der Drau) und Regensburg entstanden. Der Band gliedert sich in fünf Abschnitte. In den ersten drei Kapiteln werden die Sprache, die Geschichte sowie die Literatur und Kultur der Sprachminderheiten im östlichen Europa thematisiert. Im anschließenden Kapitel sind zwei Aufsätze untergebracht, die jeweils eine Minderheitensituation im „Westen“, in Frankreich und in den USA, darstellen und einen Vergleich der Situationen ermöglichen. Im abschließenden Kapitel sind zwei Buchbesprechungen zu lesen, die der Leserschaft relevante weitere Publikationen von Gabriela Fatjová, Andrea Königsmarková und Tereza Šlehoferová sowie von Koloman Brenner empfehlen. 

Die vorliegende Ausgabe der slowenischen Zeitschrift gewährt einen Einblick in zahlreiche osteuropäische Minderheitenkontexte und gibt Auskunft auch über historische, sprachliche oder kulturelle Vorgänge, die bisher im überregionalen wissenschaftlichen Diskurs relativ wenig Beachtung gefunden haben. Am stärksten ist im Band verständlicherweise Slowenien vertreten, dessen deutsche Minderheit neun Studien in allen drei thematischen Schwerpunkten beleuchten. Über Ungarn wird in drei, über Polen und Bosnien-Herzegowina in jeweils zwei Aufsätzen berichtet. Die anderen Länder, Rumänien, Kroatien und Russland, sind jeweils durch einen Artikel repräsentiert. Darüber hinaus gibt es zwei Studien, die nicht landesspezifisch sind, beziehungsweise zwei weitere über die oben bereits erwähnten deutschen Minderheiten in Frankreich und den USA. 

Diese Auswahl der Studien deckt ähnliche Schicksale, Tendenzen und Herausforderungen sowie Verknüpfungspunkte auf, worauf auch einige Autoren explizit hinweisen. Gleichzeitig trägt der Band mit bemerkenswerten und individuellen Beiträgen zum wissenschaftlichen Diskurs über die Sprachminderheiten bei. 

Der Beitrag von Uršula Krevs Birk eröffnet die Reihe der vor allem historisch orientierten Studien über Slowenien und setzt sich zunächst mit dem Begriff „östliches Europa“ als Ausgangspunkt zu diesem Heft auseinander. Die Autorin geht auf die Gottscheer Sprachinsel in Slowenien ausführlicher ein und zieht auch einen Vergleich zwischen dieser und der Sprachsituation in Siebenbürgen. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Gottscheer Sprachminderheit: Ana Bergovac untersucht, wie die aktuelle Politik im Lauf der Geschichte eine Minderheit samt ihrer Sprache und Kultur als „Spielball“ verwendet hat, was ihre Existenz wesentlich gefährdet hat. Eine dritte Perspektive zeigt Matjaž Birk, der sich mit den Volkssagen der Gottscheer auseinandersetzt, indem er ihre innere Raumdialektik analysiert. Die „außerordentliche stoffliche und thematische Urwüchsigkeit“ (S.344) der Sagen verbindet er mit dem inselhaften Charakter des Gottscheer Sprachgebietes. Die deutsche Minderheit in Maribor wird ebenfalls aus mehreren Perspektiven vorgestellt. Gregor Jenuš schildert die Geschichte Maribors, die von den Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Slowenen nicht verschont geblieben ist. Die Antwort von Boris Kidrič auf eine Frage, die 1945 auf der Sitzung des Hauptkomitees der Befreiungsfront Ljubljana über die Zukunft der deutschen Minderheit gestellt wurde, beschreibt die Verhältnisse plastisch: „Die deutsche Minderheit bei uns wird keine Rechte haben, weil es sie nicht geben wird.“ (S.278) Vida Jesenšek untersucht die Sprache der Mariborer Deutschen, die ähnlich wie viele andere Minderheitensprachen des Deutschen im östlichen Europa eine in erster Linie gesprochene Varietät ist, für die unter anderem archaische deutsche Besonderheiten und deutsch-slowenische Interferenzerscheinungen charakteristisch sind. Des Weiteren werden die Sprachinseln Zarz (sl. Sorica) und Kropa beschrieben. Beim ersten Aufsatz (Heinz-Dieter Pohl) wird der slowenisch-deutsche Sprachkontakt hervorgehoben, der zum Sprachwechsel führt. Als Vergleich werden auch die Entwicklungen in Kärnten beleuchtet. Der Beitrag von Uršula Krevs Birk und Domen Krištofelc untersucht die Lehnwörter deutscher Herkunft in der Mundart von Kropa, die dank des Zusammenspiels von mehreren Faktoren als eine „eigenartig ausgeprägte Mundart“ (S.206) charakterisiert wird, wobei die Germanismen in der Mundart Zeugen der historischen Entwicklung von Kropa sind. Mitja Ferenc gibt einen allgemeinen Überblick über die Geschichte der deutschen Minderheit in Slowenien vom Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie bis zum Kulturabkommen 2001, das die Deutschen in Slowenien bedauerlicherweise nicht als autochthone ethnische Gemeinschaft anerkannt hat. Eine Zusammenfassung der sprachlichen Entwicklungen bietet Matej Šekli, der die Chronologie der bairischen althochdeutschen und mittelhochdeutschen Entlehnungen im Slowenischen auf Basis der Lautveränderungen beschreibt. 

Elisabeth Knipf-Komlósi und Márta Müller schlagen in ihrem Beitrag statt des herkömmlichen Sprachinselbegriffes die Verwendung von „Sprachminderheit“ beziehungsweise „Minderheitensprache“ vor. Die Metapher „Insel“ sei in der heutigen globalisierten und von der Mobilität bestimmten Welt nicht mehr zutreffend, da relevante Charakteristika einer traditionellen Sprachinselsituation verschwunden seien (zum Beispiel räumliche Abgrenzung und Isoliertheit). Sie berichten über Ergebnisse einer Untersuchung, die mit der sprachbiografischen Methode Einstellungen, Erfahrungen sowie kommunikative Praktiken von Ungarndeutschen erläutert. Csaba Földes präsentiert die Ergebnisse einer variations- und kontaktlinguistisch angelegten Forschungsarbeit, deren Daten aus vier südungarischen Siedlungen stammen. Wie auch aus anderen Beiträgen hervorgeht, sind hier Erosionserscheinungen zu beobachten, die auch mit der Abnahme der Funktionstüchtigkeit der Minderheitensprache einhergehen. Im dritten Beitrag über Ungarn beleuchtet Koloman Brenner aktuelle Tendenzen des Bildungsbereichs, indem er auf Veränderungen der ungarischen sowie der ungarndeutschen bildungspolitischen Rahmenbedingungen eingeht und Möglichkeiten der Revitalisierung der deutschen Sprache und Kultur aufzeigt sowie weitere Vorschläge formuliert. 

Felicja Księżyk und Grzegorz Chromik stellen die polnischen Verhältnisse dar. Księżyk behandelt die seltener diskutierte implizite Sprachmischung durch Zeitzeugenbefragung. Aus der Analyse der Interviews mit zweisprachigen Oberschlesiern wird ein intensiver Sprachkontakt deutlich, was sich am Transfer von „morphosyntaktischen Regularitäten, Sprachgebrauchsmustern und kollokativen Verbindungen“ (S.40) zeigt, die letztendlich zu einer Bereicherung der sprachlichen Ausdrucksmittel führen. Chromik untersucht eine Legende, in der es um die niederländische Herkunft der vom Aussterben bedrohten, aber noch gepflegten schlesischen Mundart von Wilmesau (pol. Wilamowice) geht: Die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen widerlegen diese Legende, deren Entstehung auf zwei Publikationen aus dem 20.Jahrhundert zurückgeht. 

Nedad Memić befasst sich mit einer renommierten Persönlichkeit aus Bosnien-Herzegowina, die als Journalistin, Ethnografin und Schriftstellerin auch die Rolle der Kulturvermittlerin übernahm, indem sie durch ihren Reiseführer Die Bosnische Ostbahn (1908) Werbung für das unbekannte Land machen wollte. Memić untersucht die translatorischen Lösungen, mit denen die Autorin Milena Preindlsberger-Mrazovićs bosnische Realia ins Deutsche zu übertragen versuchte. Sanja Radanović setzt sich mit der Rolle der deutschen Kolonien in Bosnien-Herzegowina bis 1914 im Zusammenhang mit der Landwirtschaft auseinander, in der die Kolonisten unter anderem dank moderner Methoden und Maschinen die Produktion steigern konnten. In den entstandenen, geschlossenen Siedlungen ist es den Ansiedlern auch gelungen, das kulturelle Leben zu organisieren und ihre nationale Identität zu bewahren. 

Die Besonderheit der Sprachminderheit in Siebenbürgen lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Doris Sava weist darauf hin, dass Siebenbürgen eine der ältesten und entferntesten mittelalterlichen deutschsprachigen Außengründungen in Osteuropa (S.117) ist, und dass das Rumäniendeutsche außerdem eine überregionale Sprachvarietät des Deutschen mit Eigenbildungen darstellt, das heute nicht nur von den Rumäniendeutschen gesprochen wird. Sava untersucht in ihrem Beitrag die Sprachkontaktsituation am Beispiel von Gerichtsverhandlungen (1650–1700) in Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben) und zeigt Besonderheiten des Amtsdeutschen auf. 

Im Band gibt es zwei Beiträge, die das Theaterleben der deutschen Minderheit untersuchen. Anselm Heinrich konzentriert sich auf die Rolle der nationalsozialistischen Kulturpolitik, für die die deutschsprachigen Theater in Mittel-, Ost- und Südosteuropa nur interessant waren, solange sie zu Propagandazwecken benutzt werden konnten, zum Beispiel bis zur Besetzung eines Landes. Der Aufsatz von Marijan Bobinac thematisiert das Verhältnis zwischen dem Zagreber Deutschen Theater und der kroatischen Nationalbühne, das durchaus als ambivalent bezeichnet werden kann, da das deutschsprachige Theater sowohl ein Vorbild als auch ein Hindernis für die Entwicklung der kroatischen nationalen Theaterkultur war. 

Im Zusammenhang mit den Wolgadeutschen gibt Egor Lykov einen Überblick über aktuelle Forschungstendenzen. Besondere Aufmerksamkeit wird den genealogischen, religionsgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Forschungen beziehungsweise Forschungslücken geschenkt. Aus literarischer Perspektive geht auch Sigurd Paul Scheichl ans Thema heran, der die Rezeption der Literatur der deutschen Minderheiten in Deutschland und in Österreich analysiert. Aus den Untersuchungen geht hervor, dass die thematische Orientierung, die unbekannten Verhältnisse der Minderheiten und das Desinteresse der Verlage dazu beigetragen haben, dass die Werke der Minderheitenautoren größtenteils unbekannt geblieben sind. 

Die abschließenden zwei Studien befassen sich mit Sprachminderheiten in Frankreich und den USA. Thomas Nicklas gibt einen Einblick in die Geschichte der deutschen Sprache in Frankreich. Der Fokus liegt auf dem Elsass, wo die sprachliche Situation abwechselnd von der französischen und der deutschen Sprache geprägt wurde, wobei an die Stelle der sprachlichen Vielfalt letztendlich die Vereinheitlichung getreten ist. In der Arbeit wird außer den historischen Wendepunkten auch die aktuelle Lage beleuchtet. An dieser Stelle wird auch die wissenschaftliche Tätigkeit von Paul Lévy (1887–1962) einbezogen, der für die Thematisierung der elsässischen Dialekte im Deutschunterricht plädierte. Der Beitrag von Tristan Coignard gewährt uns einen Blick in die deutsche Sprachminderheit in den USA. Auch in seinem Beitrag wird eine Persönlichkeit – John Eiselmeier – in den Mittelpunkt gestellt, der sich als Lehrer und Ausbilder unter anderem in Illinois, Nebraska, Minnesota und Wisconsin um den Erhalt der deutschen Sprache, um die Pflege des kulturellen Erbes und der Identität bemüht hat, wobei er auch die Probleme und Herausforderungen dieser Minderheitensituation identifiziert hat. 

Die Beiträge dieser Linguistica-Ausgabe stellen eine reiche und wertvolle Sammlung von rezenten minderheitenspezifischen Forschungen dar, unter denen viele Parallelen erkannt werden können, zum Beispiel in Bezug auf geschichtliche Wendepunkte (Folgen des Zweiten Weltkriegs), Schicksalsschläge (Rechtssituation der deutschen Minderheiten), aber auch hinsichtlich der Werte der deutschen Sprachminderheiten im östlichen Europa. Der vorliegende, thematisch sehr gut ausgerichtete Band ordnet die einzelnen Minderheitenthemen in einen größeren Kontext ein, in dem auch Fragen auftauchen, die im wissenschaftlichen Diskurs bisher weniger markant erschienen sind. Aufgrund dieser Merkmale ist der Band nicht nur zu Forschungszwecken, sondern auch in der Lehre gut einsetzbar. 

Réka Miskei-Szabó 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 115–118.

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