Zum Inhalt springen
Start » Online-Artikel » Ausgaben » Ausgabe 2022.1 » Lisa Maria Haibl: Identität in Bruchstücken – Donauschwaben in Kroatien | Rezension

Lisa Maria Haibl: Identität in Bruchstücken – Donauschwaben in Kroatien | Rezension

PDF-Download

Lisa Maria Haibl: Identität in Bruchstücken – Donauschwaben in Kroatien. Erinnerung und Gedächtnis in ausgewählten Werken von Ludwig Bauer, Slobodan Šnajder und Miljenko Jergović (Grazer Studien zur Slawistik, Bd. 12). Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2020. 188 S.

Das Traurigste, das einem Volk widerfahren kann, ist verschwiegen zu werden. Nicht vergessen, denn dann bleiben Spuren. Nicht ausgelöscht, denn dann bleiben Erinnerungen, sondern verschwiegen, als hätte es diese Menschen nie gegeben.

Genau das war das Ziel der Regierung des neuen, sozialistischen Jugoslawiens nach dem Zweiten Weltkrieg. Immerhin stimmten die Ereignisse im neu entstandenen Staat Jugoslawien mit der erst Monate später bekräftigten politischen Entscheidung der Siegermächte in Potsdam überein. Auf dieselbe Art und Weise wie in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern wurden die Deutschen in Jugoslawien unmittelbar nach der gesamten „Befreiung“ des Landes von den feindlichen Militärkräften ab Mai 1945 dem systematischen Vertreibungsterror der neuen Staatsmacht ausgesetzt. Zwangsinternierungen in den Arbeitslagern, systematische und gewaltsame Vermögensenteignung und Aberkennung der Bürgerrechte waren die ersten Schritte im Schema der „ethnisch-territorialen Neuordnung“ und vollzogen sich mancherorts bis 1948. Es folgte eine von der jugoslawischen Regierung stillschweigend geduldete Ausreisewelle der Deutschen als unerwünschter Bürger und danach die Vergessenheit, die in Jugoslawien viele Jahrzehnte lang andauerte. Die wenigen Nachkommen der einst größten Volksgruppe im Donauraum, im Länderdreieck Kroatien, Ungarn und Serbien, versuchen seit etwa 25 Jahren die fragilen Scherben der Vergessenheit zu verbinden, um sich in ihrer verlorenen Identität wiederzufinden.

Die Frage der Identität ist für die donauschwäbische Volksgruppe eine Frage der Essenz, Existenz und des Überlebens. Wer bin ich? Wo kommen meine Vorfahren her? Wo gehöre ich hin? Zahlreiche Menschen stellten erst nach der demokratischen Wende und dem Zerfall Jugoslawiens fest, dass ihre Nachnamen anders klingen ohne die für den slawischen Raum üblichen Endungen wie -ić oder -vić. Obwohl diese meist bereits slawisiert wurden, war es im Rausch des kroatischen Patriotismus in den frühen 1990er-Jahren nicht zu übersehen, dass eine andere Herkunft darin versteckt ist. Auch die Verfasserin der vorliegenden Besprechung hat diese Erfahrung durchgemacht, wobei sie zu jener Zeit bei ihren Großeltern und älteren Familienmitgliedern immer wieder auf eine Wand des Schweigens und auffälliger Themenwechsel stieß. Dies war stets der Fall, wenn die Frage nach der Herkunft und der familiären Identität bei der einen oder anderen Gelegenheit, meist bei Familienfesten, aus dem Nichts auftauchte.

Leider sind in den Geschichtsbüchern im damaligen Jugoslawien, aber auch in den nach den blutigen Kriegen der 1990er-Jahre neu entstandenen Staaten Slowenien, Kroatien und auch in Serbien bis heute nicht einmal ansatzweise Antworten auf diese Fragen zu finden. Konsequent werden die Tatsachen über die Ansiedlung der Deutschen im gesamten Donauraum verschwiegen. Gleiches gilt für den enormen Beitrag der gesamten Volksgruppe, durch den die verwüsteten und verwilderten Gebiete nach der jahrhundertelangen osmanischen Herrschaft in die Kornkammer Europas umgewandelt werden konnten. Durch die aus der einstigen Heimat im europäischen Westen mitgebrachten Errungenschaften trugen sie im Lauf der Jahrhunderte zur Entwicklung und Modernisierung zahlreicher Lebensbereiche im Donaugebiet wesentlich bei.

In der Historiografie, Literatur und Filmkunst nach 1945 wurden die sogenannten Jugoslawiendeutschen als Volksfeinde und Verräter dargestellt, die ihre Aussiedlung selbst provoziert hätten. Die bis zu 14 Millionen Deutschen, die nach 1945 aus dem osteuropäischen Raum vertrieben wurden, wurden von den kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas jahrzehntelang als historische Last und ausschließliches Problem Deutschlands betrachtet. Darunter fallen schätzungsweise bis zu einer halben Million Jugoslawiendeutsche. Das in der jugoslawischen Öffentlichkeit vermittelte Bild war das der Kollaborateure mit Hitlerdeutschland, die die Grausamkeiten des Dritten Reichs verübt und gar innerlich rechtfertigt hatten. Dieses Bild führte bald zur allgemeinen Rechtfertigung der Nachkriegsverbrechen an den Deutschen im damaligen Jugoslawien.

Aufgrund der kollektiven Schuld der deutschen Bevölkerung, die ihr von der jugoslawischen Regierung zugeschrieben wurde, wurden zahlreiche Angehörige der deutschen Volksgruppe in Jugoslawien (darunter auch Kinder und ältere Menschen) in Lager geschickt, die viele von ihnen nicht überlebten. Unmittelbar vor der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung in die zahlreichen Arbeitslager in Serbien und Kroatien ab Mai 1945 wurden sie ausnahmslos per Dekret enteignet. Mit dem Bescheid des Präsidiums des Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens (AVNOJ) vom 21. November 1944 wurden alle Deutschen von den Gesetzen ausgenommen und zu Staatsfeinden erklärt, ihnen wurden alle bürgerlichen Rechte entzogen und ihr Vermögen enteignet. Laut dem Bescheid sollten sie alle aus der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien (FNRJ) vertrieben und, bis die Vertreibung vollzogen war, in Arbeitslagern interniert werden. Heute schätzt man, dass den Deutschen in Serbien ein Vermögen im Wert zwischen zehn und 100 Milliarden Euro enteignet wurde. Mit dem Akt der Enteignung gingen schätzungsweise 400.000 Hektar der landwirtschaftlichen Flächen im Besitz der Deutschen in staatliche Verwaltung über.

Mit „deutschen“ Themen haben sich einige jugoslawische Schriftstellerinnen und Schriftsteller seit den 1970er-Jahren zögerlich auseinandergesetzt. In den Zeiten, als sich Historikerinnen und Historiker im Rahmen der offiziellen Historiografie noch nicht trauten, das Thema der Jugoslawiendeutschen wissenschaftlich aufzugreifen, wurde versucht, auf die Geschichte und das Schicksal der Donauschwaben durch die Literatur aufmerksam zu machen. Damals waren darin bereits gravierende Abweichungen von den üblichen stereotypen Darstellungen der Deutschen vorhanden, die bisher als böse Volksfeinde und Verräter beschrieben wurden.[1]

Seit dem Zerfall Jugoslawiens haben sich in den letzten 30 Jahren nur wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Kroatien und Serbien mit dem Schicksal der Donauschwaben auseinandergesetzt, wobei dieses sensible Thema aus unterschiedlichen Perspektiven literarisch behandelt wurde. An dieser Stelle muss zudem angemerkt werden, dass dabei nur wenige einen Durchbruch in der gesamtdeutschen Öffentlichkeitswahrnehmung erreicht haben.

Die junge Wissenschaftlerin Lisa Maria Haibl stellt allerdings ganz korrekt fest, dass die literarische Aufarbeitung des Schicksals der Donauschwaben erst begonnen hat und sich nicht auf die drei vorgestellten Werke beschränkt, denn „sie alle leisten einen wichtigen Beitrag zur Neubewertung und Enttabuisierung der donauschwäbischen Rolle im Zweiten Weltkrieg und können einen neuen Diskurs einleiten“. (S. 172) In Bezug auf die Rolle der zeitgenössischen Literatur, die diese Inhalte vor dem Vergessen zu bewahren versucht, wären noch einige literarische Werke erwähnenswert und geeignet für eine tiefgreifende Analyse. Allen voran hat der 1990 erschienene Roman Kratka kronika porodice Weber [Kurze Chronik der Familie Weber] von Ludwig Bauer[2] eine wichtige gesellschaftliche Rolle Anfang der 1990er-Jahre in Kroatien gespielt. Das im Roman beschriebene Schicksal der donauschwäbischen Familie Weber wurde spontan zum Aufruf zur Revitalisierung der deutschen Minderheit in Kroatien, die gerade in diesem Moment angefangen hatte, sich nach 1945 zum ersten Mal wieder neu auszurichten. Zu den Aktivisten der deutschen Minderheit der ersten Stunde gehört selbstverständlich Ludwig Bauer bis heute dazu. Ein weiteres erfolgreiches und preisgekröntes literarisches Werk schaffte 2009 Ivana Šojat-Kuči, kroatische Schriftstellerin der jüngeren Generation, mit ihrem Roman Unterstadt, in dem sie das Schicksal von vier Frauengenerationen von Donauschwäbinnen in der slawonischen Stad Esseg (kr. Osijek) vorstellt. Im geschichtlichen Kontext setzt sich der Roman mit den Fragen der Identität, den Aspekten des eigenen Verschweigens, aber auch mit Stereotypen über Deutsche auseinander.

Die Autorin Haibl stellt allerdings in ihrer Analyse drei Romane von drei Schriftstellern aus Kroatien vor. In ihrem Buch Identität in Bruchstücken – Donauschwaben in Kroatien mit dem Untertitel Erinnerung und Gedächtnis in ausgewählten Werken von Ludwig Bauer, Slobodan Šnajder und Miljenko Jergović taucht sie tief in die Thematik ein. Sie analysiert drei Romane und betrachtet sie aus mehreren Blickwinkeln, setzt sich aber insbesondere mit dem Thema Identität auseinander. Bei der veröffentlichten Analyse handelt es sich um eine überarbeitete Erweiterung ihrer Diplomarbeit aus dem Jahr 2019.

Lisa Maria Haibl bespricht, analysiert und vergleicht die drei bedeutenden literarischen Werke, die sich alle mit einer bisher selten erlebten Freiheit, mit dem schwierigsten Kapitel der Geschichte sowie der Gegenwart der Donauschwaben – deren Identität – auseinandersetzen. Alle drei Romane, Ludwig Bauers Zavičaj, zaborav [Heimat, Vergessenheit, 2010], Slobodan Šnajders Doba mjedi [2015; Die Reparatur der Welt, 2019] und Miljenko Jergovićs Rod [2013; Die unerhörte Geschichte meiner Familie, 2017], wurden in den letzten zehn Jahren in Kroatien herausgegeben. Die Romane von Šnajder und Jergović liegen mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vor. Sie können als tragende Säulen der zeitgenössischen kroatischen Literatur zum Thema Donauschwaben betrachtet werden.

Zum wissenschaftlichen Gewicht der vorliegenden Textanalyse trägt ein breiter und methodisch geprägter Theorieansatz zum Forschungsüberblick bezüglich der Termini Erinnerung und Gedächtnis mit gründlicher theoretischer Begriffsbestimmung bei. Die Autorin befasst sich aus aktuellem Blickwinkel der Literaturwissenschaft mit den Begriffen Gedächtnis und Identität sowie mit dem Vergessen. Im Mittelpunkt steht zudem das Trauma als identitätsstörendes Element und dessen oft schwerwiegende Folgen, wenn es nicht versprachlicht wird. Für die Donauschwaben beziehungsweise Jugoslawiendeutschen ist es bis heute ein unverarbeitetes Gruppentrauma geblieben. Ihre Gemeinschaft im Donauraum, unabhängig davon, an welchem Ufer der Donau sie heutzutage leben, hat sich noch immer nicht von dem Trauma der Nachkriegszeit erholt, das ihre sprachlichen Identitätsmerkmale innerhalb einer Generation verschwinden ließ. Dies macht die gesamte Gemeinschaft in ihrer heutigen Identitätsauffassung umso zerbrechlicher.

Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive analysiert Haibl narrative Strukturen, die in den Romanen vorkommen. Ausführlich, tiefgreifend und detailliert wird die Betrachtung der theoretischen Identitätsmodelle sowie deren Darstellung in den einzelnen Romanen durchgeführt. Dabei nutzt die Autorin den Vorteil ihrer eigenen Zweisprachigkeit, um den deutschsprachigen Lesenden detaillierte Erklärungen liefern zu können. Alle Formen des Narrativen werden intensiv betrachtet, indem die Autorin alle drei Romane durch Strukturen von Zeit, Raum und Perspektive analysiert und synthetisiert. Auch Identitätsmodelle, die sich auf unterschiedliche Weise in den vorgestellten Romanen erkennen lassen, werden ausführlich und einzeln erörtert. Dabei stellt die Autorin diese Identitätsmodelle zur Diskussion und legt die Identitätsmerkmale, die in den Romanen auf unterschiedliche Art und Weise dargestellt werden, fest: Sprache, Muttersprache, Vatersprache, Zweisprachigkeit, Mehrsprachigkeit. Dieser Diskurs bekräftigt die These, dass die Sprache das stärkste und prägendste Element der Identität ist: „Die deutsche Sprache scheint die einzige Verbindung innerhalb der donauschwäbischen Gemeinschaft zu sein. Die deutsche Sprache, die oft Muttersprache ist, bildet für alle Figuren einen wichtigen Bestandteil der Identität, auch wenn sie nicht immer positiv besetzt ist.“ (S. 126)

Tiefe Einblicke und die Analyse der Selbstdarstellung eigener Identität sind in allen drei Romanen bemerkenswert. Die Verbindung der Autoren zum Thema tritt in aller Deutlichkeit hervor. Sie sprechen gar eigene Erfahrungen an, schreiben persönliche Gedanken sowie Dilemmata nieder und schaffen es meisterhaft, den Lesenden ein komplexes Bild der Donauschwaben von gestern und heute zu bieten. Gerade der sprachliche Aspekt stellt den roten Faden in den drei Romanen dar. Alle Hauptfiguren fechten innere Kämpfe aus, um ihre Identität an die Sprache zu binden, wobei der familiäre Verlust der deutschen Sprache in der Erzählergeneration tiefgreifende Folgen für die Zukunft der ganzen Familie hat, was in allen drei Werken offenbar wird. Bauer hat eine emotionale Bindung an die Sprache, die ihn an seine verlorene Mutter erinnert. „Vor allem bei Jergović wird deutlich, dass eine nationale Zuordnung über Muttersprache oft nicht möglich ist, weil die meisten Figuren mersprachig sind. Auch bei Šnajder wird Ähnliches dargestellt, allerdings ist es hier die kroatische Sprache, die ein nach Deutschland emigrierter Verwandter nicht mehr versteht. Đuka Kempf wächst zwar zweisprachig auf, aber er sieht die deutsche Sprache nicht als Teil seiner Identität.“ (S 126)

Das Auffälligste an den drei Romanen ist die Tatsache, dass sie ausnahmslos die kleinen Familiengeschichten als Bestandteil der großen geschichtlichen Ereignisse betrachten. Die Erinnerungskultur wird als Bindeglied zwischen dem individuellen und kollektiven Gedächtnis als weiteres Merkmal der Identität erkannt. Die Autorin bestätigt diese Behauptung mit folgender Aussage: „Zahlreiche Forschungsansätze beschäftigen sich mit diesen Fragestellungen und gehen großteils davon aus, dass eine Identitätsbildung ohne Erinnerungsvermögen nicht möglich ist.“ (S. 51)

Jeder der Autoren hat es in seinem Roman auf einzigartige Art und Weise geschafft, einen Teil der am Rande wahrgenommenen Geschichte der Donauschwaben in die kollektive Erinnerung zurückzuholen. Dieses Mosaik, das aus den Erinnerungen und Geschichte zusammengesetzt ist, lässt sich mit weiteren literarischen Werken zu diesem Thema noch umfangreicher lesen und bietet den Lesenden ein komplexes Bild der Donauschwaben von gestern und heute.

Renata Trischler

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 111–115.

 

[1] Eine der populärsten Fernsehserien in Jugoslawien Salaš u Malom Ritu [Die Farm in Mali Rit] entstand 1975 unter Regie des kroatischen Regisseurs Branko Bauer. Den Ursprung der Serie findet man in den zwei Filmen Zimovanje u Jakobsfeldu [Überwinterung in Jakobsfeld] und Salaš u Malom Ritu. Als Vorlage diente das gleichnamige Buch des serbischen Schriftstellers Arsen Diklić. Zum ersten Mal in der jugoslawischen Filmkunst der Nachkriegszeit wurde mit den negativen Klischees über die Deutschen gebrochen. Die Deutschen (im Film/in der Serie geht es um die Banater Schwaben) werden nicht mehr als brutale, gnaden- und emotionslose Okkupanten, sondern als einfühlsame, vernünftige und intelligente Menschen dargestellt.

[2] Vgl. Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas 8 (2013) H. 2, S. 250.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments