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Mădălina Diaconu: Ideengeschichte Rumäniens | Rezension

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Mădălina Diaconu: Ideengeschichte Rumäniens. Paderborn: Brill/Ferdinand Schöningh 2021. 346 S.

Mădălina Diaconu ist eine sehr vielseitige Philosophin. Sie studierte beziehungsweise lehrte an der Universität Bukarest, der Universität Wien, der Babeş-Bolyai-Universität in Klausenburg (rum. Cluj-Napoca) sowie an der Karls-Universität Prag. 2005 habilitierte sie sich im Fach Philosophie an der Universität Wien. Sie beschäftigt sich vor allem mit Fragen zur Ästhetik und Kunst, so zum Beispiel Fragen der Sinneswahrnehmung, forscht aber auch zu Themen der Romanistik sowie Geschichtsphilosophie. Nun hat sie die erste deutschsprachige fachübergreifende und systematische Ideengeschichte Rumäniens veröffentlicht. Mit dieser Arbeit will sie an Rumänien interessierten Menschen, die bereits mit bestimmten Aspekten der rumänischen Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Politik oder Geschichte vertraut sind, eine Orientierungshilfe an die Hand geben, damit sie aktuelle Entwicklungen besser verstehen und einordnen können. Mădălina Diaconu will mit ihrer Arbeit eine Lücke schließen, denn bis jetzt gibt es in deutscher Sprache neben Artikeln in Massenmedien zu „Skandalen“ oder Ähnlichem in Rumänien lediglich Fachliteratur zu spezifischen Fragen, aber kein „Überblickswerk“ über dominante politisch-philosophische Ideen und Themen im öffentlichen Diskurs in Rumänien. Überhaupt ist das Wissen über die rumänische Kultur im deutschsprachigen Raum weniger groß als das über andere mittel- oder osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien oder Ungarn. Einer der Faktoren, die dazu beitrugen, ist sicher der Isolationismus des Ceauşescu-Regimes, das sich vom Westen abschottete. Aber auch seit 1989 konnte noch kein geeigneter Kanal gefunden werden, um dieses Manko auszugleichen.

Mădălina Diaconu benötigte einige Zeit (was auch die umfangreiche Bibliografie beweist), damit ihre Arbeit über die Ideengeschichte Rumäniens Gestalt annahm. Eine wichtige Etappe waren die zehn Vorträge, die sie über dieses Thema 2017/2018 am Institut für Österreichkunde in Wien hielt. Unterstützt wurde dieses Projekt von der Elias-Menachem-Stiftung der rumänischen Akademie der Wissenschaften.

Bei solch einem umfassenden Thema wie einer Ideengeschichte tut natürlich eine Eingrenzung Not. Zunächst einmal zeitlich: Mădălina Diaconu wählte hier in naheliegender Weise die rumänische Moderne, die grob gesprochen die letzten 250 Jahre umfasst. Von einem rumänischen Nationalstaat als solchem kann man ja erst ab 1859/1861 sprechen. Und in der Einleitung erläutert sie auch den Begriff der Ideengeschichte, wie sie ihn verwendet: „[…] nicht Ideen schlechthin, sondern situierte Ideen“. (S. 2) Es interessieren sie nicht nur die Ideen als solche, sondern auch die Bedingungen, unter denen diese entstanden sind, wie auch ihre Zirkulation und Rezeption. Bei diesen Ideen handelt es sich um Ideen, die um bestimmte Probleme des Staates, der Wirtschaft, Gesellschaft oder Nation kreisen, die Antworten auf konkrete gesellschaftliche Bedürfnisse geben. Es geht also um Ideen/Probleme/Fragestellungen gesellschaftlicher Relevanz. Ideen kann man nicht losgelöst von den Menschen betrachten, die diese hervorbringen, und so werden in dem Buch von Mădălina Diaconu Leben und Werk derjenigen Menschen, die diese Ideen formulierten, vorgestellt und analysiert.

Das Buch ist in zwölf Kapitel unterteilt, die nach chronologischen sowie thematischen Kriterien gegliedert sind. Sie bespricht die dominanten Ideen jeder „Generation“, wobei sich zwei Schwerpunkte ausmachen lassen: die Zwischenkriegszeit, der vier Kapitel gewidmet sind, und die Gegenwart, also die Zeit nach 1989. Der kommunistischen Periode wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Im dritten Kapitel widmet sich die Autorin dem Gegensatzpaar „Stadt – Land“. Mircea Vulcănescu (1904–1952) schuf diesbezüglich den Begriff von „den zwei Rumänien“, dem „traditionellen Land“ und der „modernen Stadt“. (S. 132) Dieser Gegensatz ist bis heute präsent und manifestiert sich noch bei allen Wahlen in Rumänien. Hier zeigt sich, dass die Postkommunisten vor allem auf dem Land reüssieren, während die Reformparteien vornehmlich in den Städten Zuspruch finden. Dabei ist die „Erfindung“ des rumänischen Bauern oder – treffender formuliert – die „Erfindung“ des Mythos des rumänischen Bauern ein Produkt der Moderne, eine Frucht der Begegnung westlicher Reisender mit den Protagonisten der Revolution von 1848, nämlich moldauischen sowie walachischen Bojaren. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts galten die Bojaren als Bewahrer der rumänischen Traditionen, erst danach gab es unter den rumänischen Intellektuellen eine Art Konsens, dass der „archaische“, außerhalb der Zeit lebende rumänische Bauer die Verkörperung der rumänischen Nation darstelle. Dem rumänischen Bauern wurden die kosmopolitischen Städte gegenübergestellt, die bis zum Zweiten Weltkrieg beziehungsweise in die 1950er-Jahre hinein einen beträchtlichen Anteil von Bewohnern nationaler Minderheiten aufwiesen oder sogar von diesen dominiert wurden.

Einen Schwerpunkt legt Mădălina Diaconu auf die Zwischenkriegszeit und die Beschäftigung mit der „jungen Generation“ (tânăra generație). Dies ist auch wirkungsgeschichtlich mehr als nur gerechtfertigt, obwohl ein Teil ihres Schaffens erst nach 1990 veröffentlicht wurde. Zentralfigur und Sprachrohr der „jungen Generation“ war Mircea Eliade (1907–1986). Zielsetzung dieser Generation war die Schaffung einer nationalen rumänischen Kultur universeller Relevanz. Erreicht werden sollte dies durch eine Art Revolution gegen das korrupte Establishment. Geprägt war diese Generation durch den Ersten Weltkrieg, durch ihre Empfänglichkeit für Irrationalismus und spirituelle Erfahrungen, durch die Suche nach Kohärenz und Einheit sowohl auf persönlicher als auch kollektiver Ebene. Diesem Zweck diente auch der 1932 gegründete Verein Criterion, der öffentliche Vortragsreihen und Debatten über kontroverse Themen organisierte, so zum Beispiel über Lenin. Der Lebensweg von Mircea Eliade spiegelte all das „Genie“, aber auch den „Wahnsinn“ dieser Generation wider. Neben dem Hervorbringen von überaus originellen Ideen und Arbeiten sympathisierte er mit und engagierte sich in den 1930er-Jahren zunehmend für die antisemitische und faschistische Eiserne Garde (Garde de fier). Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er zunächst in Paris, wo er auch seine bedeutendsten religionswissenschaftlichen Werke verfasste. Später lehrte er an der University of Chicago. Seine Sympathien und sein Engagement für die Eiserne Garde suchte er nach 1945 zeitlebens unter den Teppich zu kehren. Auch die beiden anderen nach 1989 wirkungsmächtigsten rumänischen Philosophen, nämlich Emil Cioran (1911–1995) und Constantin Noica (1909–1987), teilten in den 1930er-Jahren die politische Einstellung Eliades; Emil Cioran entschuldigte sich nach 1945 allerdings dafür. Alles in allem kann man Mircea Vulcănescu zustimmen, der bereits 1934 äußerte, dass sich diese Generation, „aufgewachsen in anormalen Zeiten“, nicht nach normalen Kriterien beurteilen lasse. (S. 139)

Die kommunistische Diktatur war „philosophisch“ in ihrer ersten, stalinistischen Phase vor allem vom Proletkultismus geprägt, in der nationalkommunistischen Periode vom Protocronismus. Demnach wären manche Ideen, Weltanschauungen und Stilphänomene zuerst in Rumänien entwickelt worden, was aber aufgrund widriger Umstände unbekannt geblieben wäre. Der Protocronismus wurde während der Ceaușescu-Jahre de facto in den Rang einer Staatsideologie erhoben und findet auch seither immer noch seine Anhänger.

Nach der Revolution wird das Bild der intellektuellen Debatte und Auseinandersetzung naturgemäß wieder bunter und vielseitiger. Man knüpft dabei häufig an Ideen der Zwischenkriegszeit an, beschränkt sich aber nicht darauf. Einer der prominentesten Akteure ist dabei der 1957 geborene Horia-Roman Patapievici. Für die gegenwärtige rumänische Gesellschaft findet er überaus kritische Worte. Er attestiert ihr „Trägheit, Willenlosigkeit und die Fixierung auf eine Rettung von außen“. (S. 209) Im Gegensatz zu Emil Cioran macht er allerdings nicht die ungünstige geographische Lage, sondern das Scheitern des Modernisierungsprojekts der 1848-Revolutionäre dafür verantwortlich. So öffnete für ihn die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Rumänien, das nach dem Ersten Weltkrieg das Zensuswahlrecht ersetzte, dem Populismus und Autoritarismus Tür und Tor. Patapievici ist jeglicher Kollektivismus, auch der Nationalismus, ein Gräuel.

Die letzten zwei Kapitel widmet Mădălina Diaconu dem Beitrag der Juden, Roma, Ungarn sowie Deutschen zur Ideengeschichte Rumäniens. Besonders interessant ist dabei der Vergleich der „regionalistischen“ Ideen in Siebenbürgen zwischen Rumänen und Ungarn. Magyarische Vertreter des „Transsilvanismus“ wie Oszkár Jászi (1875–1957), Miklós Bánffy (1873–1950) oder Károly Kós (1883–1977) vertraten die Idee, dass die siebenbürgische Landschaft und Kultur alle dort lebenden Volksgruppen geprägt habe, sodass sie sich von den Rumänen, Ungarn und Deutschen außerhalb Siebenbürgens wesentlich unterschieden. Die Kulturprodukte der siebenbürgischen Völker trügen alle „typisch siebenbürgische Wesensmerkmale“. (S. 261) Die rumänischen „Ardelenisten“ wie etwa Sextil Pușcariu (1877–1948) teilten zwar die Vorstellung, dass es eine jeweils regionale ethnische Kultur und Mentalität gäbe, lehnten aber die Existenz eines „transnationalen siebenbürgischen Geistes“ ab. (S. 263)

Die erste systematische fachübergreifende Ideengeschichte Rumäniens in deutscher Sprache bietet einen detaillierten und fachkundigen Überblick über die den öffentlichen Diskurs dominierenden Ideen. Man kann der Autorin zu ihrem vielfältigen und umfangreichen Wissen nur gratulieren. Dem tut die Tatsache keinen Abbruch, dass sich ein paar kleinere historische Ungenauigkeiten eingeschlichen haben wie etwa, dass der königliche Streik von Michael I. (ab 21. August 1945) mit seiner Abdankung geendet habe (S. 164; tatsächlich endete er mit einer Regierungsumbildung im Jänner 1946 und nicht erst mit seiner Abdankung am 30. Dezember 1947). Dennoch: eine große Leseempfehlung!

Othmar Kolar

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 105–108.

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