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Maren Röger: Karten in die Moderne. Eine visuelle Geschichte des multiethnischen Grenzlandes Bukowina 1895-1918 | Rezension

Maren Röger: Karten in die Moderne. Eine visuelle Geschichte des multiethnischen Grenzlandes Bukowina 1895-1918 (Visuelle Geschichtskultur, Bd. 20). Dresden: Sandstein-Verlag 2023. 200 S. 

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Von Heinrich Pfandl

 

Noch vor 20 bis 30 Jahren hätte eine Monografie mit dem (Unter-)Titel Eine visuelle Geschichte des multiethnischen Grenzlandes Bukowina 1895–1918 die Erwartung geweckt, dass es sich bei den darin analysierten Forschungsobjekten um private Fotografien, Buchillustrationen und allenfalls regionale Grafiken und Gemälde handeln würde. Keinesfalls hätte man jedoch an eine Darstellung zweier Jahrzehnte anhand von Postkarten gedacht, denn Postkarten waren damals von der akademischen Welt noch nicht entdeckt worden. Mein eigenes Projekt „Die Untersteiermark der Jahrhundertwende anhand von Postkarten“ bedurfte in den 1990er-Jahren noch dreier Einreichungen, um vom FWF genehmigt zu werden. 

Das wissenschaftliche Interesse hat sich inzwischen neuen kulturellen Medien und Informationsträgern zugewandt, und so liegt nun Maren Rögers vom Dresdner Sandstein-Verlag vorbildlich edierte und auch optisch ansprechende Monografie zum habsburgischen Kronland Bukowina vor. Die Autorin, eine Historikerin mit Osteuropa-Schwerpunkt, war jahrelang Leiterin des Bukowina-Instituts in Augsburg und lehrt seit 2021 an der Universität Leipzig. Auf genau 200 DIN-A4-Seiten präsentiert sie in ihrer Monografie die wohl erste umfassende historische Untersuchung einer Gegend anhand des Mediums Postkarte, welches in Österreich zunächst unter dem Namen „Correspondenz-Karte“ bekannt war. Dabei handelte es sich zunächst, ab den 1870er-Jahren, um ein vorderseitig für die Anschrift des Empfängers vorgesehenes Kommunikationsmedium, dessen leere Rückseite für individuelle Mitteilungen verwendet wurde, die oft nur aus wenigen Wörtern bestanden. Mit der Zeit wurde die Rückseite zunehmend mit grafischen Elementen versehen, wodurch die individuellen Mitteilungstexte an den unteren Rand verdrängt wurden. Seit Mitte der 1890er-Jahre begann man denn auch, derartige Karten als „Ansichtskarten“ zu bezeichnen. Ich verweise auf diesen Werdegang, weil Maren Röger, wie die meisten Forschenden, die Bildseite als „Vorder“- und die Adressseite als „Rückseite“ apostrophiert (S. 9, S. 11, S. 107 und andere), was synchron gesehen Sinn macht (man kauft/e die Karten ausgehend von der Bildseite), diachron gesehen jedoch umgekehrt verlief: 1904 wurde per Erlass die Adressseite geteilt und zur Hälfte für die Mitteilungen reserviert – wodurch die bebilderte Seite, vor allem von Sammlern, zusehends als Vorderseite empfunden wurde. Im Sinne der terminologischen Eindeutigkeit plädiere ich daher für die Verwendung der Begriffe „Adressseite“ und „Bildseite“ (beziehungsweise vor dem Aufkommen der Illustrationen: „Mitteilungsseite“).

Die Verfasserin setzt sich zum Ziel, eine visuelle Geschichte des Habsburger Kronlands Bukowina zu schreiben (vgl. den Untertitel; S. 9 et passim) und dabei „Produktion, Narration und Rezeption [der Postkarten] zusammen[zu]führen“ (S. 10), was ihr auch, nehmen wir es vorweg, dank ihrer beeindruckenden Sachkenntnis vollends und hervorragend gelingt. Als Ausgangspunkt für ihre Untersuchung diente ihr die Sammlung eines aus der Bukowina nach Deutschland umgesiedelten Sammlers, Eduard Kasparides, welche 2008 nach dessen Tod vom Bukowina-Institut angekauft wurde. Dazu gesellten sich Sammlungen, die der Verfasserin zum Teil durch persönliche Kontakte (wie im Fall von G. Jankovskyj), zu anderen Teilen in Form von Publikationen (wie im Fall von M. Salahor) zugänglich wurden. Da in diesen Sammlungen oft nur die Bildseiten ablesbar sind, war die Individualität der Senderinnen und Sender nicht immer einsichtig – ein Umstand, auf den die Verfasserin auch problembewusst hinweist. Die Berücksichtigung beider Seiten von Postkarten gehört inzwischen zum allgemeinen Konsens der Postkartenforschung, wodurch viele Darstellungen von Ansichtskartenbefunden in Buchform wertgemindert sind, wenn sie nur die Bildseiten reproduzieren.

Rögers Darstellung zeigt die Postkarten oft nicht als Illustrationen der Geschichte der Bukowina rund um die Jahrhundertwende, sondern als Akteure dieser Geschichte. So wird der Protagonist der Bukowiner Verlagswelt, der Czernowitzer Leon König, in einer zeitgenössischen Quelle gelobt: „Wir Bukowinaer können nun mit Stolz sagen, daß es in unserem Buchenlande gar viele schöne, herrliche Gegenden gibt“. (Bukowinaer Post, 1898, zitiert auf S. 42) Insofern dienten die Postkarten auch der Konterkarierung eines Bildes von diesem östlichsten Kronland der Monarchie, das von Wien aus als unterentwickeltes Land gezeichnet wurde; ja selbst der maßgebliche Fremdenführer der Zeit, Baedeker, widmete der Bukowina nur wenige Absätze und bezeichnete Czernowitz 1898 als „wenig bedeutend“. (S. 7) Röger gelingt es nicht zuletzt dank des von ihr versammelten reichen Postkartenmaterials, das Image der Bukowina als „rückständige Region“, über die in Wien als „Strafkolonie“ gewitzelt wurde (S. 55), als verfehlt zu brandmarken: Dank der wirklich anregenden Lektüre des Buches bekommt man als Leser geradezu Lust, anhand dieser „Gegenerzählung aus der Region heraus“ (S. 82) post factum ins Czernowitz der Jahrhundertwende zu reisen und dort selbst die sich modernisierende und multiethnische Gesellschaft der Bukowina zu erleben.

Diesen beiden Aspekten, der auf Karten festgehaltenen Modernisierung (Stichworte „Eisenbahn“, „Industrie“, „Bildung“) sowie der Multiethnizität (Stichwort „Vielsprachigkeit“), sind auch die beiden zentralen Kapitel des Buches gewidmet. Die Verfasserin vergisst dabei nicht, die Leistung der Postkarte für unsere Zeit zu unterstreichen: „Postkarten erlauben einen Wimpernschlag Einblick in die Lebenswelten […] von Schichten, die üblicherweise wenige Egodokumente hinterlassen haben“. (S. 94) Diese Schichten werden in ethnischer Hinsicht vom dominanten Diskurs der Postkartenproduzenten (Deutsche und Juden) vereinnahmt, indem sie einerseits zwar individualisiert („Ruthenisches Bauernmädchen“, S. 118; „Rumänisches Milchweib“, S. 124 und andere), zugleich aber als pars pro toto für die ganze Volksgruppe vereinnahmt werden. Eine solche Konzentration auf bäuerliche Gruppen bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer Gruppen (ruthenische Dienstmädchen, rumänische Eisenbahner, jüdische Volksschullehrer etc.) ist meines Erachtens als Spätwirkung der Romantik zu sehen, welche das bäuerliche Leben als Inbegriff des wahren Volkstums verklärte – eine Parallele dazu sieht man im armen, doch glücklichen Juden, der uns ebenfalls auf bukowinischen Postkarten aus dieser Zeit begegnet.

So wird denn auch ein eigenes Kapitel den auf Postkarten dargestellten Juden (Jüdinnen werden auf Postkarten praktisch ausgespart) gewidmet, die in der Regel von deutschen (christlichen) Verlegern instrumentalisiert werden und sich nicht selten an eine antisemitische Käufergruppe richten. Während manche Karten noch neutral wirken und von Röger als „Erklärkarten einer der Mehrheit nicht vertrauten Kultur“ (S. 134) charakterisiert werden, wirken andere Karten als bewusste Diffamierung der in der Bukowina zahlreichen Juden. Dabei können Fotografien (wie auf der Karte „Firma: Wolf Hirsch und Schlamasel [sic]“, S. 140) ebenso zum Einsatz kommen wie Zeichnungen mit plumpen Schmähtexten („Nehmen Sie Platz, Herr Ehrlich. – danke [sic], bin eben 3 Monate gesessen“, S. 141).

Während das Gros der Antisemitika von deutschnationalen Verlegern, allen voran dem Czernowitzer Eduard von Schiller, herausgegeben wurden, findet man unter den Postkarten mit dargestellten Juden auch eine, die vom erwähnten Leon König, einem engagierten Juden, verlegt wurde. Sie trägt den unverfänglichen Titel „Gruss aus der Bukowina“ und illustriert den multiethnischen Charakter des Landes: Man findet darauf Gruppen von „Ruthenen“, „Lipowanern“, „Huzulen“ und „Romänen“ in kleinen Gruppen, während im Vordergrund ein isoliert stehender „Israelit“ zu sehen ist. Dieser ist traditionell gekleidet, und sein Gesicht zeigt karikaturale jüdische Züge (Hakennase, wulstige Lippen). Die Verfasserin schließt daraus, dass es sich bei der Karte um eine antisemitische Darstellung handelt, der Jude stehe „isoliert von den anderen und ohne weiteres Gruppenmitglied“. (S. 150) Dass der antisemitische Charakter allerdings nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist, mag auch der Hinweis der Verfasserin unterstreichen, dass genau dieses Bild lange „den Startbildschirm des Laptops am Bukowina-Institut“ geziert habe. Der lediglich latent und im Kontext ähnlicher Karten feststellbare antisemitische Charakter der Karte wurde übrigens auch beim Versenden dieser Karte nicht thematisiert, denn „in den mir bekannten gelaufenen Exemplaren dieser Ansichtskarten nahmen die Absender das Angebot des Antisemitismus nicht an“. (S. 150) Damit weist die Verfasserin auf ein Phänomen hin, das sie mehrfach unterstreichend kommentiert (S. 64, S. 150, S. 169, S. 170 und andere), welches allerdings meinen Beobachtungen nach den Normalzustand des Postkartenschreibens darstellte: Auf die Darstellung der Bildseiten wurde in den Mitteilungen nur in den seltensten Fällen Bezug genommen, was sich meines Erachtens dadurch erklärt, dass die Schreibenden beim Kauf oft keine besonders große Auswahl an Postkarten vorfanden und sich pragmatisch für die billigsten Objekte entschieden, unabhängig von deren ideologischen Stoßrichtungen.

Laut Verfasserin beschränkten sich judenfeindliche Darstellungen auf Postkarten auf Personen und man finde sie nicht auf Darstellungen von Gebäuden, denn „es waren die Körper, nicht die Kultur, die […] zur Abwertung freigegeben wurden“. (S. 150) Abgesehen davon kann der Verfasserin freilich zugestimmt werden, der zufolge „Ansichtskarten in der Bukowina kaum als Mittel politischer Auseinandersetzung im Volkstums- oder Nationalitätenkampf genutzt wurden“. (S. 112)

Aus Platzgründen kann auf einige weitere Themen hier nur verwiesen werden – die Sprachverwendung in der Postkartenbeschriftung (die ich persönlich als Germanisierungsfaktor sehe), die Frage des Bukowinismus, das Erwachen des Ukrainismus bei den von den Habsburgern als Ruthenen bezeichneten Ostslawen und schließlich die Binnendifferenzierung des Kronlands. Summa summarum kann das Buch von Maren Röger jedem/jeder allerwärmstens empfohlen werden, der/die sich darauf einlassen möchte, die ausgehende Donaumonarchie mit einem durch wunderbare Postkarten illustrierten Blick von dessen Ostrand aus zu erleben und zu begreifen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2024), Jg. 19, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 118-121.