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Angela Gröber: Von der Minderheit zur Volksgruppe | Rezension

Angela Gröber: Von der Minderheit zur Volksgruppe. Die Deutschen in der Karpatenukraine 1920–1944 (Interethnica, Bd. 11). Komárno: Samorín 2021. 168 S.

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Von Tobias Weger

 

„Karpatenukraine“ hieß im deutschen, „Podkarpatská Rus“ im tschechischen Sprachgebrauch jene dünn besiedelte, östlich an die Slowakei angrenzende, ursprünglich oberungarische Region um Ungwar (ukr. Ужгород, ung. Ungvár, tsch. Užhorod), Munkatsch (ukr. Мукачево, ung. Munkács, tsch. Mukačevo) und Chust (ukr. Хуст, ung. Huszt, tsch. Chust). Sie fiel 1920 infolge des Vertrags von Trianon der Tschechoslowakischen Republik (ČSR) zu und wurde vom tschechischen Teil dieses Staates mitverwaltet. In diesem Gebiet besaß seit dem 18. Jahrhundert das fränkische Adelsgeschlecht von Schönborn umfangreiche Ländereien, auf denen es Bauern und Handwerker aus dem Heiligen Römischen Reich in Dörfern ansiedelte, ergänzt im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert durch deutsche Holzarbeiter und Bergleute, zum Teil aus Böhmen. Ruthenen, Ungarn, Juden, Slowaken, Rumänen und Angehörige weiterer Ethnien waren dort ihre Nachbarn.

Mit der Situation der Deutschen in der Karpatenukraine während der Zeit der Zugehörigkeit zur ČSR (1920–1938) beziehungsweise zu Ungarn (1938–1944) während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt sich die Leipziger Kulturwissenschaftlerin Angela Gröber in einer wissenschaftlichen Studie, die das Forum Institut für Minderheitenforschung (Fórum inštitút pre výskum menšín) im slowakischen Komárno herausgegeben hat. Die Verfasserin konnte im Jahr 2003 bei Feldforschungen in der heute zur Ukraine gehörenden Region Transkarpatien dort noch lebende Deutschen befragen und hat darüber hinaus umfangreiche Literatur- und Quellenstudien betrieben.

Angela Gröber führt eingangs knapp in die Ansiedlungsgeschichte der Deutschen in der Karpatenukraine sowie deren wirtschaftliche, soziale und alltagskulturelle Entwicklung ein. Diese Geschichte bettet sie in die Regionalgeschichte und die Stellung der Region innerhalb der nach dem Ersten Weltkrieg errichteten ČSR ein. Der Veranschaulichung der unterschiedlichen quantitativen Entwicklungen dienen mehrere Schaubilder, die auf der Grundlage demografischer Statistiken erstellt worden sind. Im zweiten Teil ihrer Arbeit setzt sich die Autorin mit der zeitgenössischen Terminologie zur Bezeichnung von Gruppenbildungsprozessen auseinander. „Nation“ und „Volk“, „Minderheit“ und „Volksgruppe“ sowie die „Volksgemeinschaft“ definiert sie in knappen Kapiteln, wobei an dieser Stelle eine noch intensivere Lektüre der vorhandenen Forschungsliteratur zu völkischen Bewegungen im 20. Jahrhundert zu noch konziseren Erkenntnissen hätte führen können.

Dieses kleine Manko der Studie wiegt ihr empirischer Teil in vollem Umfang auf. Angela Gröber untersucht das Selbstbild und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen in diesem Teil des historischen Oberungarn. Wie in anderen Regionen entfaltete der Erste Weltkrieg, der den abgeschiedenen Landstrich zum Frontgebiet machte, eine katalysatorische Wirkung. Er förderte die Genese einer kollektiven Identität bei den bis dahin weitgehend von nationalistischen Einflussnahmen von außen unberührten Deutschen in der Karpatenukraine. Wie bei anderen Ungarndeutschen habe bis 1914 die Zugehörigkeit zur „natio Hungarica“ eine vorherrschende Ausrichtung gebildet, schreibt Gröber (S. 12). Ansonsten waren lokale Identitäten unter den Deutschen in den von Tälern durchfurchten Waldgegenden vorherrschend. Erst in der Zwischenkriegszeit verhalfen Einflüsse von außen – etwa die Publizistik des sudetendeutschen Historikers, Theologen und Ethnologen Eduard Winter – zu einer ethnischen Mobilisierung, durch die die Deutschen in der Karpatenukraine schließlich zu einem Glied der „Karpatendeutschen“ wurden.

Die Autorin präsentiert sehr anschaulich eine Reihe von Akteuren, die zu den Trägern dieser Mobilisierung wurden. Einer von ihnen war die Katholische Kirche. Nach der weggefallenen Bindung an den ungarischen Klerus scheiterten zunächst Bemühungen, Nachwuchspriester im böhmischen Landesteil der ČSR auszubilden. Daraufhin engagierten sich Volkstumsaktivisten innerhalb der Katholischen Kirche im Deutschen Reich und nahmen sich der Diasporagemeinden in der Karpatenukraine an. Sie gewährleisteten somit eine verbesserte Seelsorge, schufen aber auch Abhängigkeiten und Kanäle für eine ideologische Infiltration. Der 1919 gegründete Deutsche Kulturverband (DKV) als Massenverband der Deutschen in der ČSR war ein weiterer Transmissionsriemen für die Ausbildung einer Kollektividentität. Damit hingen auch die Aktivitäten seitens der sudetendeutschen völkischen Bewegung eng zusammen. Zu Recht spricht Angela Gröber hier von einem „Patronatsverhältnis“ (S. 87). Sie führt ihre Leserinnen und Leser auf die Spuren jugendbewegter Fahrten und wissenschaftlicher Exkursionen in das von außen als exotisch beurteilte Gebiet. Eine Steigerung bedingte schließlich die Inkorporierung der deutschen Bewohner der Karpatenukraine in die von Franz Karmasin, einem faschistischen Funktionär, geführte „Karpatendeutsche Volksgruppe“. Damit befanden sich die Deutschen in der Karpatenukraine schließlich auch im Radius der nationalsozialistischen Propaganda und Politik.

Die Zerschlagung der ČSR durch das nationalsozialistische Deutschland 1938/39 und die von der deutschen Diplomatie mit herbeigeführten neuen Grenzregelungen in Ostmitteleuropa bewirkten eine Wiedereingliederung der Karpatenukraine in das ungarische Staatsgebiet. Anders als man es hätte erwarten können, war das Verhältnis zwischen Staat und Minderheit von wechselseitigem Misstrauen geprägt. Die dort beheimateten Deutschen wurden nun, nachdem sie beinahe zwanzig Jahre lang tschechoslowakische Staatsbürger gewesen waren, erneut zu „Ungarndeutschen“. Mit allen Konsequenzen: Als die männlichen Deutschen im wehrfähigen Alter ab 1942 zur Waffen-SS eingezogen wurden, waren sie davon ebenso betroffen wie die Deutschen in allen Teilen des mit Hilfe des Dritten Reiches territorial erweiterten Ungarn. Nach der Besetzung durch die Rote Armee wurde die Karpatenukraine mit ihrer mehrheitlich ruthenischen Bevölkerung nicht wieder an die ČSR restituiert, sondern der Ukrainischen SSR angegliedert und so in die UdSSR integriert. Zahlreiche Deutsche waren bis zum Kriegsende bereits geflohen oder von deutschen Dienststellen evakuiert worden, andere wurden, sofern sie während des Zweiten Weltkriegs mit dem Nationalsozialismus kollaboriert hatten, nach 1945 ausgewiesen. Ein Teil blieb in der Region zurück und bildet eine bis heute präsente deutschsprachige Bevölkerung in der südwestlichen Ukraine.

Übersichtliche Kartenskizzen (S. 141f.) und eine deutsch-ungarisch-ukrainische Ortsnamenkonkordanz (S. 144) ermöglichen die Orientierung in einem Teil Zentraleuropas, der während des 20. Jahrhunderts zum Spielball umliegender Mächte wurde und deshalb mehrfach seine Zugehörigkeit verändert hat. Ein Wert des Buches an sich ist das 22 Seiten umfassende Literatur- und Quellenverzeichnis, eine beeindruckende Zusammenstellung der deutsch- und englischsprachigen Literatur. Besonders akribisch hat die Verfasserin die zeitgenössische Zeitschriftenliteratur ausgewertet. Allerdings hat sie die tschechische und slowakische Fachliteratur zu den Deutschen in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit und deren völkische Politik ebenso unberücksichtigt gelassen wie das umfangreiche Aktenmaterial in den National- und Hochschularchiven in Prag (tsch. Praha) und Pressburg (sk. Bratislava) sowie vermutlich auch in ukrainischen Beständen – das Buch erschien ein Jahr vor dem russischen Angriff gegen die Ukraine.

Angela Gröber demonstriert mit ihrer Untersuchung, dass es sich lohnt, bei der Betrachtung der Deutschen in Südosteuropa neben den großen Entitäten wie den Siebenbürger Sachsen oder den Donauschwaben auch die kleineren Siedlergruppen nicht außen vor zu lassen. Die nach der tschechoslowakischen Volkszählung von 1930 gerade einmal 13.804 Deutschen in der Karpatenukraine waren eine Projektionsfläche für völkische Fantasien, dann einer stark ethnozentrischen Minderheitenpolitik in der ČSR und in Ungarn. Für diese Einflussnahmen von außen bezahlten sie ab 1944 zum Teil durch ihre Evakuierung, Flucht oder Deportation zur Zwangsarbeit ins Innere der UdSSR. Ihre historische Entwicklung unterschied sich erheblich von der der Deutschen in den Böhmischen Ländern, in der Slowakei, aber auch in Trianon-Ungarn. Diese Vielfalt historisch und kulturwissenschaftlich zu analysieren ist das Verdienst zahlreicher Forschungsarbeiten, unter anderem auch dieses Buches, dem eine breite Aufmerksamkeit zu wünschen ist.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 96–98.