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„Reife Kulturen gipfeln und begegnen sich immer im Gedanken der Humanitas. Alles andere bleibt Provinzialismus“. Zum Ableben des Schriftstellers Hans Bergel

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Die Telefongespräche mit Hans Bergel waren unvergessliche Erlebnisse. Sie begannen fast immer mit „Scumpa mea“, weil er sich so an die Sprache und an das Land erinnern wollte, in dem er zur Welt gekommen ist und das er stets in seinem Herzen trug. Wir unterhielten uns über Politik, Bücher, Projekte. Ich hörte immer fasziniert zu und nahm aus jedem Gespräch eine Lebensweisheit, einen Rat, vor allem Lebensfreude mit. Denn Hans Bergel war für mich der Inbegriff der Dynamik und der Visionen.

Ich habe Hans Bergel im Jahr 1994 kennengelernt. Er las in Constanța auf dem ersten Kongress der Germanisten Rumäniens aus seinen Werken. Unsere gemeinsame Herkunft aus dem Burzenland, die langen Gespräche über „unser“ Kronstadt waren der Anfang einer langen Freundschaft. Nun stand ein Schriftsteller vor mir, der als Opfer des Terrorregimes im „Gruppenprozess deutscher Schriftsteller“ am 15. September 1959 in dem damals zu „Stalinstadt“ umgetauften Kronstadt zu einer hohen Strafe verurteilt worden war. Seine Darstellung des zeitgeschichtlichen Kontextes ließ mich manches besser verstehen. Abgesehen von der Sprache und den Bildern vermittelte mir Bergel vor allem die Erkenntnis, wie wichtig es ist, im Leben zwar nicht vergessen, jedoch vergeben zu können. Die Informationen, die ich aus den Gesprächen mit Hans Bergel damals mitgenommen habe, sollten für meine künftige Arbeit als Germanistin Orientierungswert haben und die Grundlage eines meiner Arbeitsschwerpunkte werden, nämlich der Beschäftigung mit der Prosa, der Essayistik und der Poesie Bergels.

Ein Hauptthema seines Schaffens stellt meines Erachtens die Suche nach einer Definition des Heimatbegriffs dar. Bergel setzte die Heimat mit der Freiheit gleich, der zu sein, der er nach Geburt, Elternhaus, Erziehung, Sprache, Bildung, Geschichte, Aussage- und Verantwortungsbedürfnis war. Heimat bedeutete für den wissensdurstigen Bergel das Persönliche und Vertraute. Gewalt von außen verletze das Freiheits- und somit das Heimatgefühl. Heimat wurde für den Siebenbürger Sachsen Bergel zum Erfahrungswert, vor allem weil Teilhabe an Heimat auch mit Schmerz und Leid einherging.

Im essayistischen Schaffen Bergels ist die Komplexität kultureller Identitäten am klarsten nachzuvollziehen. Er verstand die intensive Beschäftigung mit dem Begriff der Kultur und der Identität aus humanistischer Sicht als Aufgabe des neugierigen, um das Schicksal und die Zukunft der Menschheit besorgten Schriftstellers. Seine Essays fußen nicht auf engstirnig regionalen Identitätsmustern, sondern auf der Idee des Weltbürgertums. Kultur ist für Bergel in ständiger Bewegung, sie steht nicht über dem Alltag der Menschen, vielmehr ist sie dieser Alltag. Kultur ist somit eine Praxis, bei Bergel immer im Zeichen der Interkulturalität. In diesem Zusammenhang beschrieb er den Homo Transsilvanus Saxonicus als ein Gegenüber des Homo Germanus Mitteleuropas. Bergel behauptete, der westeuropäische Rationalismus habe den südosteuropäischen Kulturraum niemals zur Gänze erobert, und begriff sich demzufolge als weltbürgerlicher Südosteuropäer mit deutscher Muttersprache.

Die Sehnsucht nach Zypressen, nach Aromen der südländischen Gräser und Kräuter, aber gleichermaßen die Sehnsucht nach neuen Kulturräumen lockten auch Hans Bergel immer wieder nach Italien. Er nannte dies seine „Südsehnsucht“, die aber viel tiefere Wurzeln hatte. Die „deutsche Südsehnsucht“, so Bergel, ist eine Vokabel des Bildungsspektrums, das mit Winckelmann im 18. Jahrhundert beginnt. Bergel stand somit in der Tradition der Wahrnehmung und Einbildungskraft, wie wir sie bei Goethe finden.

Er kam wenige Jahre nach dem Untergang der Donaumonarchie, nach der Entstehung Großrumäniens zur Welt und wurde im Geiste der europäischen Kultur erzogen. Sein Italienbild war ein Teil komplexer Südsehnsucht und damit auch Quelle seiner poetischen Inspiration. Die Emotion war dabei so groß, dass er den Eindruck eines Wiedersehens hatte, wenn er ihm bislang unbekannte Bilder und Orte in Italien, Spanien oder Griechenland aufsuchte.

Das Italien- und Griechenlandbild hat seinen Ursprung auch in Bergels Biografie, es intensivierte sich infolge bedrückender Erfahrung als politischer Häftling: Es erschloss sich ihm wie eine Zuflucht, wie eine Wunschprojektion, die ihn, der ein Vierteljahrhundert unter dem Druck der kommunistischen Diktatur hatte leben müssen, in der Gefangenschaft begleitet und gestärkt hatte.

Wie facettenreich der europäische Kulturraum ist, wurde dem transsilvanischen Saxonen Bergel durch die Bekanntschaft mit dem Kulturverständnis der lateinischen Rumänen zum ersten Mal deutlich bewusst. Der Umgang mit immer neuen Kulturen, das Eindringen in ihr Wesen war für ihn ein unverzichtbares Bedürfnis. Erst in der Begegnung mit den Spezifika anderer Kulturen verstand Bergel sowohl den Reichtum der eigenen als auch deren Grenzen. Beide Erkenntnisse können für uns alle nur von Vorteil sein, schlussfolgerte er. „Reife Kulturen gipfeln und begegnen sich immer im Gedanken der Humanitas. Alles andere bleibt Provinzialismus“, erklärte Bergel 2001 bei der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Universität Bukarest.

 

Mariana-Virginia Lăzărescu ist Professorin emerita an der Fakultät für Fremdsprachen, Fachbereich Germanistik, an der Universität Bukarest. Sie ist Leiterin der Österreich-Bibliothek „Hugo von Hofmannsthal“ Bukarest, Vorstandsmitglied des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes (MGV) und Trägerin des Großen Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich. 

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 220–222.

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