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Mit der Sanftmut eines Lammes

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Márton Kalász wurde 1934 in Schomberg (ung. Somberek), einem kleinen donauschwäbischen Dorf im südlichen Transdanubien, geboren und starb am 30. Dezember 2021 in Budapest. Er wurde als Dichter, Schriftsteller, Übersetzer, Hochschuldozent und Literaturveranstalter mit zahlreichen ungarischen Staatspreisen geehrt.

 

Bei all seinen breitgefächerten Tätigkeiten war Márton Kalász in erster Linie ein Dichter von sprachschöpferischer Kraft, seine Zeilen besitzen oftmals nicht nur mehrfachen Sinn, sondern lassen sich auch auf mehrerlei Weise lesen.

Kalász schrieb auf Ungarisch, das hebe ich hervor, weil er bis zum Alter von zehn Jahren den deutschen Dialekt seines Geburtsdorfes sprach, Ungarisch lernte er in der Schule und von den in seinem Dorf angesiedelten Szeklern, ebenso wie er sich die deutsche Literatursprache in der Schule aneignete. Später lebte und arbeitete Kalász in Fünfkirchen (ung. Pécs), Budapest, Berlin und Stuttgart. Seit den 1990er-Jahren schrieb er seine Gedichte im achten Stock eines Neubaublocks im Budapester Stadtteil Őrmező.

Kalász’ erster Band Hajnali szekerek [Wagen am Morgen] erschien 1955 und enthält Texte in elegischem Tonfall mit der Stimme des lyrischen Realismus und der Landschaftsdichtung, in denen unmittelbar und dennoch malerisch, in volkstümlichen Genrebildern das Leben der körperlich arbeitenden Menschen geschildert wird. In der späteren Dichtung weitete sich sein Horizont: Auf die beschreibende Dichtung folgte eine Lyrik, die auf Visionen basiert, und in den 60er-Jahren entfaltete sich seine Gedankendichtung. Nun ordnete Kalász seine Gedichte zunehmend in geschlossenen Formationen an, der Maßstab wurde zu einem wichtigen Prinzip der Textgestaltung.

Neben der analysierenden, distanzierten Abstraktion der Gedankenlyrik suchte Kalász in seiner Liebesdichtung eine Erweiterung der Persönlichkeitsgrenzen – in Form von hundert achtzeiligen Gedichten mit Paarreim in Viola d’amour (1969). In der Dichtung als Partnerin sah er das gesamte kulturelle, humane geistige Erbe der Menschheit, den Sinn der Liebe fasste er kompakt in dem kurzen Satz zusammen: „Ich finde Erfüllung“.

Hírek Árgyélusnak [Botschaften für Argyrus] (1975) zeigt andere Wege der Erweiterung der Persönlichkeit und der Selbsterkenntnis auf. Die Texte sind in der poetischen Anverwandlung der Dinge und in der Dichtung selbst verwurzelt. Persönliche Erinnerungen, Kindheit, Häuser, Vögel, das individuelle Sein gewinnen jeweils eine Art mythologischen Sinn, der Dichter nimmt hier auch auf das Werk Hölderlins Bezug. In der enigmatischen Formulierung dieser neueren Gedichte steht der Ausdruck von Gefühl und Leidenschaft lediglich im Hintergrund. Kalász sucht die Aufgabe der Dichtung nun auf den Spuren von Rilkes Poesie, es geht ihm darum, das Wesentliche auszudrücken.

Einen bedeutenden Teil von Márton Kalász’ Tätigkeit machten Übersetzungen aus (Günter Kunert, Franz Fühmann, Günter Grass, Michael Ende und andere). Er lebte als Stipendiat und Kulturdiplomat in Deutschland, war 1971–1974 Mitarbeiter im Haus der Ungarischen Kultur in Berlin und 1990–1994 Leiter des Ungarischen Kulturzentrums in Stuttgart. Er besaß hervorragende Kenntnisse der modernen deutschen Literatur, zugleich übersetzte er die schönsten deutschsprachigen Volkslieder aus Ungarn ins Ungarische und gab sie unter dem Titel Vadalma, vadalma, magva de keserű [Holzapfels Bäumelein, wie bitter ist dein Kern] heraus.

Mit Erfolg ermunterte ihn – man könnte beinahe von liebevoller „Erpressung“ sprechen – Ervin Szederkényi, der legendäre Chefredakteur der Pécser Zeitschrift Jelenkor aus der Vorwendezeit, einen Roman über sein Deutschsein zu schreiben. Kalász besaß alle Voraussetzungen dafür: die persönliche Bindung, das Thema, den Gestaltungsanspruch; er musste „nur“ den lyrischen Weg verlassen und sich in Prosaform äußern. So wurde neben der Lyrik der Roman Winterlamm zum zweiten Höhepunkt in Kalász’ Schaffen: Persönliches Schicksal und dichterische Erfahrung konnten hier eine enge Verbindung eingehen, während er all das in Prosa schrieb und sich dafür eine zuvor ferne Formenwelt erschloss.

Winterlamm ist autobiografisch inspirierte Tatsachenliteratur und zugleich ein Zeugnis der griechisch-jüdisch-christlichen europäischen Kultur. Mit lyrischer Erhabenheit und unnachahmlicher Einfachheit im Ausdruck schaffte Kalász mit diesem Roman ein einzigartiges Werk.

In Winterlamm thematisiert er die Leidensgeschichte, allerdings tragen seine Figuren mit ihrer Manipulierbarkeit, ihrem Glauben und ihrer liebenswerten Unbedarftheit noch etwas in sich: Ironie. Wir können es ironische Kritik oder Metaironie nennen, die uns anregt, unser Verhältnis zur mitteleuropäischen Vergangenheit neu zu denken. Kalász formuliert mit kaum wahrnehmbarer Ironie und in liebevollem Ton grundlegende Fragen, seine Prosasprache ist frei von postmodernen Einflüssen, er spricht einfach das Erlebnis des Daseins aus, das tragisch ist, aber nicht nur. Er hat Erlebnisse aus seiner Kindheit, Jugend und als Erwachsener festgehalten, und das mit einer philosophischen Hintergründigkeit, die seine alltäglichen Tätigkeiten, die Familie, die privaten Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern ins Lyrische hebt. Kalász’ Roman weist, ähnlich wie seine Gedichte, Brüche auf, und doch vermittelt er das Erlebnis der Vollständigkeit. Bei dem Grad an Konzentration und Vielschichtigkeit, in der sich die Persönlichkeiten entfalten, beschränkt sich der Roman nicht auf ein Festhalten der Erlebnisse aus Kindheit und Jugend, es entsteht vielmehr die Rekonstruktion einer vergangenen Welt.

„Ich bin gleichzeitig Deutscher und Ungar. Ich habe eine Muttersprache, das Deutsche, und eine geistige Muttersprache und einen Habitus, der mich mit der ungarischen Kultur verbindet“, sagte Márton Kalász über sich. Zum Schluss möchte ich meinen Lieblingssatz aus Winterlamm zitieren: „Die Menschen sind wundersamerweise grad dann am wenigsten argwöhnisch, wenn die Gefahr am größten ist.“[1]

Was könnte ich noch sagen? Ein Mann ist gestorben, der sanft war wie ein Lamm. Möge er in Frieden ruhen!

 

Aus dem Ungarischen von Christina Kunze

 

Robert Balogh, Schriftsteller und Journalist, lebt in Fünfkirchen/Pécs. In seinen Werken setzt er sich häufig mit der Geschichte und mit dem Kulturerbe der Ungarndeutschen auseinander.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 226–228.

 

[1] Márton Kalász: Winterlamm. Deutsch von Paul Kárpáti. Verlag Styria 1992, S. 56.

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