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Der kleine Mann, der ein großer war

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Zum Tod von Paul Philippi – Historiker, Professor für praktische Theologie und Politiker

Von Catherine Roth

Paul Philippi wurde am 21. November 1923 in einer siebenbürgisch-sächsischen Familie in Kronstadt (rum. Braşov) geboren, wo er nach seinem Tod am 27. Juli 2018 neben seinen Eltern Adele und Dr. Gustav Philippi in der Familiengruft bestattet wurde. Er wurde früh nach der siebenbürgisch-sächsischen Usance des Spitznamens Moni genannt. Moni, der kleine Mann. Ob dieser Name je zu ihm passte? Sein Leben lang war er in vielerlei Hinsicht ein Erneuerer und ein Grenzgänger. Er überschritt schon früh, viel früher als institutionell erwünscht oder gar denkbar, die Grenzen zwischen Disziplinen.

Paul Philippi im Garten des Kapitelgebäudes in Hermannstadt, in dem er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte (2004). Foto: Konrad Klein.

Grenzgänger zwischen den Fächern: ein transdisziplinärer Ansatz in den achtziger Jahren

Nach dem Krieg studierte er in Erlangen und Zürich evangelische Theologie, Geschichte und Germanistik. Alles war schon da: sein zukünftiger Beruf als Theologe, seine Berufung, die Auseinandersetzung mit der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte und sein ausgesprochenes Sprachgefühl, sein Sinn für prägnante, formelartige Bemerkungen, die eine schon immer bekannte Tatsache plötzlich in ein ganz anderes Licht rücken und zum Nachdenken nahezu verpflichten.

Seinen Beruf übte er zunächst als Assistent an der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg (ab 1954) aus. 1957 wurde er in Erlangen,[1] 1963 habilitierte er sich in Heidelberg,[2] 1969 wurde er zum Professor ernannt, und ab 1971 leitete er das Diakoniewissenschaftliche Institut der Universität Heidelberg. Als Pfarrer wurde er 1955 vom Bischof der Evangelischen Landeskirche in Siebenbürgen, Friedrich Müller, ordiniert, der zu einer Tagung nach Wien gekommen war.[3] Sein inniger Wunsch, nach Siebenbürgen zurückzukehren, wurde 1979 erfüllt, als er bis 1981 eine Gastprofessur in Hermannstadt (rum. Sibiu) bekam. 1983 wurde er zum ordentlichen Professor an der Theologischen Fakultät in Hermannstadt berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 blieb. „Er hat damals aus dem Westen die Freude an der akademischen Arbeit hereingebracht“, so Stadtpfarrer Kilian Dörr, damals sein Student.

Zu seiner Berufung zählte aber auch, mit den Jahren vielleicht vorrangig, die Geschichtswissenschaft.

1952 war er als treibende Kraft Mitbegründer des Arbeitskreises junger Siebenbürger Sachsen aus dem 1962 der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde e. V. Heidelberg (AKSL) hervorging. Wie so oft in seinem Leben ging es hier um Kontinuität im Wandel: Der Arbeitskreis übernahm die Rechtsnachfolge des 1840 in Hermannstadt gegründeten, ab 1944 verdrängten und später aufgelösten Vereins für siebenbürgische Landeskunde. Das Ziel war aber nicht, wie im 19. Jahrhundert, Identitätsstiftung, sondern fast im Gegenteil die Infragestellung der (auch jüngsten) Vergangenheit und der eigenen Kulturmodelle. Und nicht nur Forscher sollten sich im Arbeitskreis zusammenschließen, sondern auch Lehrer, Architekten, Anwälte und Hausfrauen, die ihre Vergangenheit aufarbeiten und Mythen von Geschichte unterscheiden wollten. Vielen war es wichtig, zu verstehen, wie und warum viele Siebenbürger sich von der dunkelsten Ideologie des 20. Jahrhunderts hatten anstecken lassen. Paul Philippi war also nicht nur Grenzgänger in den eigenen Angelegenheiten, sondern auch – zusammen mit den AKSL-Kollegen in Forschung und Lehre – Vermittler der historischen Ratio bei interessierten Nicht-Historikern, was eine Aufarbeitung der Vergangenheit in nicht unbedeutendem Umfang ermöglichte. Kontinuität wurde auch dadurch hergestellt, dass die Schriftenreihe des alten Vereins unter dem Namen Siebenbürgisches Archiv beim Böhlau-Verlag wieder ins Leben gerufen und Jahrzehnte lang von Paul Philippi herausgegeben wurde. Er holte außerdem die Siebenbürgische Bibliothek auf Schloss Horneck – eine Handvoll siebenbürgisch-sächsischer Akademiker war nämlich auf die verblüffende Idee gekommen, ein mittelalterliches Schloss des Deutschen Ordens zu kaufen und den Erwerb später durch den Verkauf dazugehöriger Fberge und Grundstücke zu finanzieren.[4] Dort wurden nicht nur ein siebenbürgisches Altenheim, sondern auch die stetig wachsende Bibliothek, der Kulturbeirat (heute Kulturrat), die Heimatstube (heute Museum) bis hin zum Siebenbürgen-Institut an der Universität Heidelberg (2003) untergebracht.[5]

Sowohl in seiner institutionellen Arbeit als auch in seinen Veröffentlichungen zeigte Paul Philippi den Willen, nationale Stereotype zu hinterfragen und die identitätsbildenden Legenden der Sachsen zu dekonstruieren. Wer die eigenen Schemen so behandelt, gewinnt eine gewisse Legitimität, auch jene der anderen Ethnien komparativ in Frage zu stellen. Mit unnachgiebiger Redlichkeit befragte er hergebrachte Denkmodelle und war dadurch nicht nur Theologe, sondern auch Historiker oder genauer: Historiograf. Er schrieb unermüdlich an der Geschichte der Geschichte, enttarnte die wohlwollenden Halblügen und beabsichtigten Ungenauigkeiten, durch die ein Volk sich besser fühlt.

In mancher Hinsicht demonstrierte Philippi an siebenbürgischen Objekten, ohne es zu sagen oder sich dessen gar bewusst zu sein, die Methode der Erinnerungsorte von Pierre Nora,[6] indem er die Rolle symbolischer Repräsentationen in Identitätsdiskursen analysierte. Im weiteren Sinne war er geistig und methodologisch mit den philosophischen Paradigmen verwandt, welche die Amerikaner unter der Bezeichnung French School zusammenfassen, das heißt in erster Linie mit Michel Foucault. Er arbeitete zum Teil nach dem Prinzip der Dekonstruktion – der Bloßlegung sozialer Konstrukte, die aufgrund ihrer tabuisierten Entstehung als Selbstverständlichkeiten, ja als quasi Naturerscheinungen gelten. Nie aber machte er von dem Wort Dekonstruktion Gebrauch oder bezog sich auf diese Autoren. Auch die Anthropologen, Soziologen, Politologen der zuerst anglo-amerikanischen Nation-Building-Bewegung zitierte er trotz manchmal klarer Verwandtschaft nicht. Benedikt Anderson, Ernest Gellner und Miroslav Hroch für Osteuropa zeigten, dass sich die schon-immer-da-gewesenen Nationen oft erst im 19. Jahrhundert herausbildeten oder manchmal von Dichtern und Folkloristen geradezu erfunden[7] wurden. Das kann man ja von den Siebenbürger Sachsen nicht behaupten. Oder doch? Die wichtigen Klarstellungen Paul Philippis zum Thema der Nation in Siebenbürgen,[8] die lange nicht ethnisch, sondern juristisch standesmäßig definiert wurde und erst im 19. Jahrhundert vor allem Kultur und Sprache bezeichnete, diese Erörterungen stehen der universitären Bewegung der Staats- und Nationenbildung nahe.

Und indem er bilinguale Texte ‒ in Rumänisch und Deutsch ‒ verglich und die minimalen Unterschiede mit maximaler suggestiver Kraft aufspürte, betrieb er Diskursanalyse, ehe der Begriff überhaupt geprägt wurde.

Dass er verwandte Autoren, seien es Nora, Foucault oder Hobsbawm, nicht nennt, heißt aber nicht, dass er seine Quellen verheimlicht hätte, dazu war er auch intellektuell zu ehrlich. Er hat in Wirklichkeit seine eigene Methode vor Jahrzehnten parallel zu diesen Geistesströmungen erfunden. Es war in einer Zeit, den siebziger und achtziger Jahren, in der diese Autoren noch nicht oder wenig bekannt waren; die meisten gehörten seiner Generation an. Er bewegte sich im Zeitgeist oder eher im Geist derer, die ihrer Zeit voraus sind. Derer, die in keine Schublade passen und denken wollen. Er war immer auch ein Querdenker. Sein Ausgangspunkt war keine Denkschule, sondern eine historisch-politische Notwendigkeit. Er theorisierte, ohne Theorie zu lesen, seine Arbeit war nicht deduktiv, sondern induktiv, weil er nicht zugunsten von Methoden, sondern zugunsten von Menschen schrieb. Diese Einstellung beschleunigt selten den Ablauf einer Karriere. Dafür entspricht sie einer Form des modernen Humanismus.

Gerade dadurch, dass er offiziell Theologe und nicht Historiker war, genoss er eine unübliche Denkfreiheit in der Geschichtsanalyse und konnte andere Wege gehen und damals gängige Normen überschreiten, so seine eigene Einschätzung.[9] In seinem Fach Theologie war aber die Norm weniger zu umgehen. Philippi ist der Mann, der zwei Habilitationen geschrieben hat, von denen die erste, Christozentrische Diakonie,[10] zwar abgelehnt wurde, der als Buch indes große Beachtung zuteilwurde. Die zweite hielt sich nach eigener Einschätzung in bescheidenerem Rahmen, sodass sie ihm den Weg zur Professur ebnete. Mit diesem Beispiel tröstete er andere Querdenker, wenn ihnen die Universität das Leben nicht leicht machte.

Paradox ist, dass er bei diesen pointierten Analysen nicht versucht hat, seine Erkenntnisse an anderen europäischen oder nichteuropäischen Beispielen zu prüfen und auszubauen, sondern sich weiter dem kleinen Maßstab widmete, denn Siebenbürgen ist nicht einmal so groß wie Bayern … Wichtiger als die Verallgemeinerung seiner wissenschaftlichen Ergebnisse war ihm das Engagement im Dienste des Kollektiven. Und hier wird die zweite Scheidelinie überquert.

 

Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik

Nicht nur zwischen den Disziplinen, auch zwischen Wissenschaft und Politik und zwischen Kirche und Politik war Paul Philippi ein Grenzgänger. Letzteres ist in Siebenbürgen nicht unüblich, seitdem die Kirche implizit die Rolle der politischen Repräsentation der Sachsen im 19. Jahrhundert übernommen hat. Aber Forschung und Politik haben sich europaweit im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr voneinander entfernt, und selten sind die Persönlichkeiten, die überzeugend in beiden Bereichen gewirkt haben und ihre Glaubwürdigkeit in der einen Sphäre durch ihr Einsetzen in der anderen nicht verloren haben. Zu jenen gehört Philippi.

„Es wurde noch geschossen im Dezember 1989, als man bei ihm saß und sich beredete, wie man das Forum gründen könnte“, erinnerte sich nach seiner Beerdigung Dr. Paul Jürgen Porr, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, und in dieser Funktion Nachfolger von Philippi, der von 1992 bis 1998 Vorsitzender und seit 1998 Ehrenvorsitzender war. Auch in dieser Position hat er das eine oder das andere Mal den Lauf der Geschichte beeinflusst. Als die Hermannstädter Bevölkerung in den neunziger Jahren der Korruption ihrer Bürgermeister überdrüssig war und das Forum um einen Bürgermeisterkandidaten bat, empfahl er einen jungen, unbekannten Schulinspektor namens Klaus-Werner Johannis. Schon 1984 schrieb er Bundeskanzler Kohl einen Brief, in dem er forderte, die Sachsen nicht länger als Objekte der Verhandlungen (des Verkaufs) zwischen dem Nationalkommunistischen Rumänien und Deutschland zu behandeln, sondern als Subjekte ihres Schicksals. Das verstand er beharrlich durchzusetzen. Ihm ist mithin zu danken, dass nicht mehr über die deutschen Minderheiten gesprochen wurde, sondern mit ihnen.[11] Er bewegte einiges an der Spitze des Staates, an der Spitze der Staaten, oft zwischen den Zeilen, ohne dass sein Name damit verbunden blieb, denn er bemühte sich nicht darum. „Wie sehr er es verstand, uns durch sein Wesen zu verbinden, uns damit Führung zu geben, ohne Anführer sein zu müssen“, unterstrich Thomas şindilariu in seiner Trauerrede.[12]

Insofern spielte er auch eine wichtige Rolle als Mittler zwischen den Zeiten. Man erinnere sich an die eiskalten Tage Anfang Januar 2007, als Hermannstadt Europäische Kulturhauptstadt und Rumänien Mitglied der EU wurde. Damals gab es noch zurückgebliebene Sachsen in Siebenbürgen und heruntergekommene aus Deutschland – so versuchten manche, weder humorlos noch wohlwollend, die Lebensentscheidung der Andersgesinnten zu diskreditieren. Aus einer Kleinstnation waren in den achtziger Jahren fast zwei geworden, und zwar durch die Konfrontationen zwischen der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, die alle Sachsen zur Auswanderung aufrief, und der Kirche in Rumänien, die ein weiteres sächsisches Leben in Siebenbürgen förderte. Einer der wichtigsten Befürworter der zweiten Position war Paul Philippi, der deswegen Jahrzehnte lang Ziel heftiger Verbalattacken war. Damals blieben zwischen der Landsmannschaft, die noch so hieß, und dem Forum Reste des Eisernen Vorhangs. Dass heute das Forum in Rumänien und der Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland selbstverständlich zusammenarbeiten, ist eine große Errungenschaft, zu der auch Philippi mit Klaus Johannis und Bernd Fabritius und vielen anderen entscheidend beigetragen hat. Die stille Anwesenheit im Begräbniszug von Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten und lange Jahre Bundesvorsitzender des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, wäre vor zehn Jahren nicht selbstverständlich gewesen. Ein Normalisierungsprozess wird bestätigt, der uns heute normal scheint, aber viel Engagement, Überzeugungskraft und Fingerspitzengefühl von allen Seiten verlangt hat. Versöhnung ist, vergessen wir das nicht, eine andere Art der Grenzüberschreitung, nämlich die der konfrontativen Grenzen.

Kennzeichnend für das äußerst prekäre Gleichgewicht zwischen Politik und Wissenschaft ist seine Position zu seiner Vergangenheit in der Waffen-SS (1943–1945), die oft missverstanden wurde. Er wollte auf Rat seines Vaters wie seine zwei älteren Brüder in die rumänische Armee eintreten. „[Es ging] nicht unbedingt darum, dem künftigen Dienst in der Waffen-SS auszuweichen. Es richtete sich gegen den Dienst in der Armee des fremden Staates Deutschland.“[13] Denn die sächsischen Gymnasiasten, erklärte er weiter, kannten den Unterschied zwischen Wehrmacht und SS nicht. Kraft des Abkommens zwischen Antonescu und Hitler musste er aber in die Waffen-SS einrücken. Er verleugnete es nie, nicht einmal bei der Einreise in die USA, so dass er sofort nach Europa zurückgeschickt wurde.[14] Er fand es schockierend und schockierte damit, denn der Verdacht lag auf den ersten Blick nahe, er könne die Naziverbrechen verharmlosen. Dabei ging es ihm nicht um Verleugnung der Geschichte, sondern ganz im Gegenteil um einen historischen Anspruch auf Differenzierung. Es war doch damals unmöglich, zumal der Prozess der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Gesellschaft nach den Jahren der Indoktrinierung ein klares Bild vor Augen führen musste. Philippi dachte oft zwanzig Jahre voraus und gab sich wenig Mühe, sich in den vorgegebenen Rahmen zu zwängen und die Grenzen des Sagbaren in einem bestimmten geopolitischen Kontext zu respektieren. Die Zeit der Synthese ist jetzt gekommen, und in memoriam Paul Philippi möchte dieser Nachruf einen jungen Historiker/ eine junge Historikerin dazu motivieren, die anscheinend immer noch fehlende[15] minutiöse und kompromisslose Untersuchung der Waffen-SS-Einheiten in den letzten Kriegsjahren zu unternehmen.[16]

 

Vermittler zwischen Kulturen und Menschen

Letztlich war er auch Vermittler zwischen den Kulturen. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – er in der siebenbürgisch-sächsischen Kultur fest verankert war,[17] kannte und schätzte er die anderen Kulturen im Land, angefangen mit den zwei wichtigsten, der rumänischen und der ungarischen. Auch bei seinen sachlichen Offenlegungen tradierter Nationalvorstellungen mochte er von ganzem Herzen die Farben und Klänge der Nachbarethnien. Und er bemühte sich ununterbrochen um den Dialog zwischen den Kulturen sowie zwischen den Menschen im Allgemeinen. Er hatte ein besonderes Talent, Leute zusammenzubringen oder aufeinander aufmerksam zu machen. Wie viele Forscher und Forschungsnetzwerke sind weltweit über Paul Philippi in Berührung gekommen? Und wie viele Freundschaften sind durch ihn entstanden, über einen selbstlosen Hinweis im ersten Stock am Huetplatz, mit offenen Fenstern zur Stadtpfarrkirche? An warmen Tagen im Sommer war das Café Wien vor seinem Treppenhaus der beste Platz, um die Leute zu treffen, mit denen man reden wollte. Junge Forscher fanden bei ihm ebenso selbstverständlich eine offene Tür wie sächsische Dörfler und Interessierte. Wiewohl er intellektuell ungeduldig, ja manchmal streitfreudig war und Plattitüden hasste, war er nie böse und hatte mit Ansprechpartnern oft erstaunlich viel Geduld.

 

Individuelle versus kollektive Freiheit

Gerne fasste er den Preis des Lebens als Teil einer Minderheit nach dem verstorbenen Freund Georg Weber so zusammen: Die kollektive Freiheit wird auf Kosten der individuellen Freiheit ausgeübt. Diesem Prinzip liegt eine vormoderne Auffassung zugrunde, bevor die Französische Revolution die individuellen Rechte als (theoretisch) vorrangig durchsetzte. Natürlich bleibt das gesellschaftliche Leben ein stetiges Ausbalancieren zwischen dem Recht des Einzelnen und der gemeinwohlorientierten Gesetzgebung. Aber im homogenen Nationalstaat (das unausgesprochene Ziel der Französischen Revolution) ist keine unentbehrliche Ebene zwischen dem Einzelnen und dem Staatlichen vorhanden. In dem Staat, der Minoritäten offiziell anerkennt, und dazu hat Rumänien bei allen Versuchen der Nationalisierung immer gehört, existiert die Zwischenebene der Nationalität, die sich in diesem Falle von der Staatsbürgerschaft unterscheidet. Für den Angehörigen einer Minderheit bedeutet das eine zweite Ebene der individuellen Beschränkung. Nicht für jeden selbstverständlich ist zum Beispiel das ungeschriebene, aber bis vor kurzer Zeit zwingende Gebot der innerkulturellen Ehe. Mit individueller versus kollektiver Freiheit meinte Paul Philippi sowohl die jahrhundertelange Kohäsion der Sachsen als auch den Exodus nach der Wende, der teilweise eine Folge dieses kollektiven Denkens gewesen ist.

Auch der Preis der Wissenschaft konnte hoch sein. Für jene, die in Siebenbürgen einen Hof besaßen und in Deutschland eine Sozialwohnung in einem Ballungsgebiet zugewiesen bekamen, ohne Stall und Wälder, ohne Feste und Nachbarschaften, waren alte Vorstellungen ein unverzichtbarer Trost. Gegen die Akademiker des Arbeitskreises, die daran kratzten, wurde durch manche Landsmannschaftsvorsitzende aufgehetzt, deren eigene Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg nicht immer aufgearbeitet worden war. Nach dem Krieg waren in Landsmannschaften, auch in jener der Siebenbürger Sachsen, Zwischentöne der dreißiger Jahre noch zu lesen, die sonst in der Bundesrepublik sehr selten zu hören waren.[18] Die Konfrontation der zwei damaligen Ideologien, Bleiben oder Gehen, wurde mit unterschiedlichen rhetorischen Mitteln, aber mit ähnlicher Intensität betrieben. Gegen Philippi, seine Brüder und andere Vertreter von AKSL und einem Teil der kirchlich Engagierten wurde oft Feindseligkeit geschürt: „Nicht selten schlug die Ablehnung der ,Bleiben‘-Option in blanken Hass gegen Philippi um, der es wiederum den ‚Gehen‘-Befürwortern auch nicht leicht machte (nicht leicht machen wollte) und ihre ‚Volkstumspolitik‘ immer wieder in scharfer Analyse aufspießte.“[19]

Die Frage der individuellen und der kollektiven Freiheit spiegelte sich auch in der eigenen Familie wider. Paul Philippi hatte 1956 eine Pfarrerstochter aus Siebenbürgen geheiratet. „Seiner Ehe mit Irmentraud Waadt wurden fünf Kinder geboren (zwei Mädchen, 1957 und 1966, und drei Buben, 1958, 1960, 1963).“[20] In dem kurzen Text, den Paul Philippi für seine Bestattung hinterließ, wies er schlicht auf die Last der Trennung von der Familie hin, als er Professor in Hermannstadt wurde und seine Kinder in Deutschland studierten. Obwohl er hinsichtlich seiner Familie außerhalb des Weihnachtsrundbriefs ausgesprochen diskret war, erwähnte er manchmal den Schmerz, seine jüngste Tochter in Deutschland gelassen zu haben. Damit war er mit 90 Jahren noch beschäftigt. Auch das verbindet ihn mit Michel Hoeffel, von 1987 bis 1997 Präsident (Bischof) der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses von Elsass und Lothringen (ECAAL), der in seinem unermüdlichen Einsatz für eine andere Minderheit, Protestanten in Frankreich, nicht immer ausreichend Zeit für seine Familie gehabt habe, so sein Bedauern am Ende seines Lebens (er starb im Januar 2017). Michel Hoeffel und Paul Philippi kannten sich nicht näher, doch sie hatten an dem einen und dem anderen geografischen Ende des deutschsprachigen Protestantismus viel gemeinsam, und vor allem: Beide sahen die Verantwortung als Dienst und nicht als Macht.

Diese Annäherung an den Lebensweg Paul Philippis möchte die Rolle seiner Frau auch angemessen würdigen. Ohne Irmele kein Paul, nicht nur als Familienmutter,[21] nicht nur in den letzten Jahren, wo er ohne sie auf seine bis zuletzt rege intellektuelle Betätigung wegen seiner nachlassenden physischen Kräfte hätte wahrscheinlich verzichten müssen. Sie waren, auch wenn er zu siebenbürgischen Themen befragt wurde, ein Team. Sie hörte zu, ergänzte ein Detail, das oft wichtig war, und er sagte mit einer tiefen Stimme, die weder sie noch er ernst nahm: „Na Irmele, sprichst Du oder ich?“ Irmentraud Waadt schaffte es, ihren Mann unermüdlich zu unterstützen und dabei die eigene vielseitige Persönlichkeit zu entfalten. Denn auch sie hat sich für die multikulturelle Gesellschaft in Siebenbürgen wirksam eingesetzt.

 

Eine verlorene Gemeinschaft?

In seinem kurzen Text widmete Philippi seine letzten Worte post mortem der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft, deren Auflösung „der Schmerz seines Lebens“ gewesen sei. Er betrachtete in der Tat die sächsische Kultur als Wissenschaftler von außen und liebte sie als Mensch und Pfarrer von innen. Nicht all seine Freunde waren gleicher Meinung, was deren Auflösung anbelangt. Nach den Worten Inge Jekelis (2017 in Mediasch verstorben) war es nötig, dass der Eisenbesen durch die alte, langsam erstarrende Welt fegte, so schön sie auch gewesen war.

In einigen Nachrufen wird er auch als Bratschist mit seiner Liebe zur Kammermusik erwähnt, aber es fehlt fast immer eine Seite seiner facettenreichen Persönlichkeit, die zum Teil auch mit der Gemeinschaft zu tun hat: die Liebe zu den Bergen. Im 19. Jahrhundert wurde im Siebenbürgischen Karpatenverein (SKV) nach dem Vorbild des Deutschen Alpenvereins eine Kultur der Berge vermittelt, die allmählich konstitutiv für die sächsische Identität in den Städten wurde. Befragt über das Wandern während des Kommunismus, antwortete er: „Man hat die verlorene Bürgerlichkeit ein bisschen durch die Bergliebe festhalten können, ein Stück davon am Gipfel erwischen können.“[22] Und auch im Alter blieb er den Karpaten treu. Nicht nur im Forum, auch im SKV war er Ehrenmitglied. Zum 130. SKV-Jubiläum am 26. November 2010 hielt er eine Rede, in der ein Graffiti mit rotem Buntstift die Hauptrolle spielte. Es stammt aus dem Jahr 1905 und ist heute noch in der Julius-Römer-Hütte zu sehen. Adele Zeidner, der Name seiner Mutter, steht darauf. Da üblicherweise der Name wohlgeborener junger Damen durch ihren Verehrer verewigt wurde, fragte sich Paul, ob sein Vater wohl diese Buchstaben geschrieben hatte.

Paul Philippi lebte fast hundert Jahre und erlebte als Siebenbürger Sachse den Nationalsozialismus, den Nationalkommunismus und den Nationalliberalismus – für die jetzige Situation in Rumänien fehlen die Worte. Ging diese von den Stürmen der Geschichte geschüttelte Gemeinschaft wirklich verloren, oder erlebte sie die Transformationen der Zeit, nachdem sie den rauen Gegenwind in langer Erstarrung überlebt hatte? Je nach Blickwinkel fällt die Antwort anders aus. In jedem Fall hat Moni dazu beigetragen, dass sie heute politische Repräsentation auf höchster Ebene genießt, dass die Erinnerung an eine jahrhundertealte Kultur in der Öffentlichkeit nicht mehr erlöschen kann und dass sich neue Formen des Zusammenlebens entwickelt haben, die in einer sich globalisierenden Welt der Medien, Einflüsse und Migrationen vielleicht neue Wege zeigen kann. Der kleine Mann war in Wahrheit ein großer.

 

Catherine Roth ist Associate Professor an der Université de Haute-Alsace (Frankreich) in Medienkulturwissenschaften. Zudem ist sie Historikerin und Sprachwissenschaftlerin.

 

[1] Paul Philippi: Abendmahlsfeier und Wirklichkeit der Gemeinde. Berlin 1960.

[2] Paul Philippi: Die Vorstufen des modernen Diakonissenamtes (1789–1848) als Elemente für dessen Verständnis und Kritik. Eine motivgeschichtliche Untersuchung zum Wesen der Mutterhausdiakonie. Neukirchen-Vluyn 1966.

[3] Vgl. Hans Klein: „Abschied von Paul Philippi“. Aussegnung. Hermannstadt 3. August 2018 (Manuskript).

[4] Paul Philippi, 25.5.2012.

[5] Vgl. Harald Roth: Herausragende Persönlichkeit der Zeitgeschichte: Zum Tode von Paul Philippi. In: Siebenbürgische Zeitung, <https://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/19119-herausragende-persoenlichkeit-der.html>, 19.8.2018.

[6] Vgl. Pierre Nora (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005.

[7] Vgl. Eric Hobsbawm, Terence Ranger: The Invention of Tradition. Cambridge 1992.

[8] Vgl. Paul Philippi: Kirche und Politik, Siebenbürgische Anamnesen und Diagnosen aus fünf Jahrzehnten. Band 2. Hermannstadt 2006, S. 46.

[9] Paul Philippi, 5.1.2010.

[10] Paul Philippi: Christozentrische Diakonie. Ein theologischer Entwurf. Stuttgart 1963.

[11] „Seit vielen Jahren wird zwischen der Bundesregierung und Rumänien immer nur über die Rumäniendeutschen verhandelt, nie mit ihnen. Es ist eines demokratischen Staates ganz gewiss nicht würdig, eine Volksgruppe, die eine große Tradition in politischer Eigenvertretung hat, zum reinen Verhandlungsobjekt unter Dritten zu machen, die über Maßnahmen beschließen, die diese Gruppe betreffen.“ Paul Philippi: Kirche und Politik. Hermannstadt 2006, S. 110, zitiert von Friedrich und Ilse Philippi, Trauerfeier, Kornstadt 4.8.2018.

[12] „Wie sehr er es verstand, uns durch sein Wesen zu verbinden, uns damit Führung zu geben ohne Anführer sein zu müssen, lässt sich an der breiten Anteilnahme unserer Gemeinschaft an diesem Abschied ablesen, die so bald Vergleichbares nicht haben wird.“ Thomas Şindilariu, Kronstadt 4.8.2018.

[13] Paul Philippi: Von der Schulbank zur Waffen-SS. In: Spiegelungen 11 (2016) H. 1, S. 77–86, hier: S. 78.

[14] In den neunziger Jahren wurde ihm die Wiedereinreise von Kanada in die USA wegen des Verdachts auf Beteiligung an Kriegsverbrechen verweigert, obwohl er zuvor mehrmals in die USA eingereist war.

[15] Ein erster, sehr wichtiger Schritt für Siebenbürgen: Paul Milata: Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS (Studia Transylvanica, 34). Köln 2009. Was zu fehlen scheint, ist eine umfassende Forschung zu diesem Thema.

[16] Ist es wirklich möglich, dass diese Männer „normale“, d. h. nicht in Kriegsverbrechen verwickelte Soldaten waren, wie ich in meinen eigenen Forschungsinterviews so oft (nie aber von Philippi) gehört habe? Handelte es sich dabei um einen innerlichen Prozess der Verleugnung oder um Tatsachen?

[17] Die These von Etienne François lautet: Gerade dadurch, dass die Grenzen zwischen Kulturen zwar unsichtbar sind, aber als sehr klar empfunden werden, kann ein multikulturelles Zusammenleben Jahrhunderte lang friedlich stattfinden. Vgl. Etienne François: Die Unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806. Sigmaringen 1991.

[18] Pierre Aubert de Trégomain: Les Frontières du dicible. Les Saxons de Transylvanie et la Seconde Guerre mondiale. [Die Grenzen des Sagbaren. Die Siebenbürger Sachsen und der Zweite Weltkrieg.] Paris 2006 (Dissertation, unveröffentlicht).

[19] Roth: Herausragende Persönlichkeit der Zeitgeschichte.

[20] Pfarrer Michael Philippi, Sohn von Paul Philippi, anlässlich der Bestattung Paul Erhard Friedrich Philippis am 4.8.2018 in Kronstadt.

[21] „Und das [die Tatsache, dass er nach dem richtigen Weg suchte] war für die, die zu ihm standen, nicht immer leicht. Die Verwandten in Siebenbürgen, die vielleicht nicht nur, aber vor allem dank seiner schon seit den 50er Jahren von der Securitate nicht nur bespitzelt wurden, seine Frau, unsere Mutter, die die Familie über die große Distanz und seine großen Fehlzeiten liebevoll chaotisch gemanagt hat und ihm trotzdem den Rücken freihielt[…]“. Pfarrer Michael Philippi, ebenda.

[22] Paul Philippi, 15.9.2011.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2018), Jg. 13 (67), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 204–212.

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