Von Mariana Hausleitner
Am 14. März starb Richard nach langem Leiden, und es gab viele Nachrufe, die vor allem seine Tätigkeit als Schriftsteller würdigten. Er hat mir auch etwa die Hälfte seiner dreißig Bücher geschenkt, und bei meinen Besuchen wollte er dazu einen Kommentar hören. Da ich Historikerin bin, sprachen wir nicht über die literarische Umsetzung, sondern über die angeschnittenen politischen Themen. An einige erinnere ich mich noch und will diese skizzieren.
Da ich schon mit 16 Jahren Rumänien verließ und er erst mit 35, hatten wir trotz unseres Altersunterschieds von nur zwei Jahren sehr unterschiedliche Erfahrungen. Ich lernte Richard Wagner 1985 über György Dalos kennen, als er mit einem Stipendium für einen kurzen Aufenthalt aus Temeswar (rum. Timișoara, ung. Temesvár) nach Westberlin kam. Damals arbeitete ich in meiner Freizeit beim Osteuropa-Info des Sozialistischen Osteuropakomitees mit und war besonders interessiert an der Sicht der Dissidenten aus Rumänien. Ich verfasste dann einen Beitrag über die Aktionsgruppe Banat und den zunehmenden Druck, dem diese Autoren ausgesetzt waren. Bis 1984 hatte Richard in Rumänien sieben Bücher in deutscher Sprache veröffentlicht. Andere Gruppenmitglieder konnten kaum etwas publizieren, und vier richteten einen Protest an den Schriftstellerverband. Es folgten Publikationsverbote und Arbeitslosigkeit. Gelegentlich konnte Richard etwas in der Bundesrepublik Deutschland publizieren. Mir gefiel besonders sein Beitrag Unter Brüdern. Ein Hassregister im Kursbuch vom September 1985, in dem er mit spitzer Feder den Nationalismus vieler Osteuropäer skizzierte.
1986 besuchte ich Richard und Herta Müller in Temeswar, da bereiteten sie ihre Ausreise vor. Durch die Auflösung ihres Haushaltes hatten sie plötzlich mehr Geld, sodass sie uns in ein Lokal einladen konnten. Dort war es wegen der damaligen Sparmaßnahmen so dunkel, dass man kaum sehen konnte, was sich auf dem Teller befand. Wir freuten uns, dass die beiden im Frühjahr 1987 nach Berlin zogen, und waren empört, als die rumäniendeutschen Landsmannschaften Richard Wagner als ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei denunzierten. Aufgrund des Drucks der Securitate zog der Evangelische Kirchentag im Juni 1987 die Einladung an Herta Müller und Richard Wagner zurück. Gleichzeitig bedrohten Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes telefonisch besonders Richard mit Konsequenzen für seine Eltern im Banat, wenn er das Land öffentlich kritisiere.
Da die beiden dennoch über das brutale Regime Ceaușescus informieren wollten, waren sie bereit, mit Mitgliedern der damals noch kleinen Oppositionspartei Die Grünen aufzutreten. Deren Abgeordnete Petra Kelly hatte den Arbeitskreis Außenpolitik Ost/West initiiert, der im Bonner Bundeshaus im April 1988 über Verletzungen der Menschenrechte in Rumänien informierte. An der Veranstaltung beteiligte sich auch die Rumänien-Gruppe von Amnesty International. Richard führte dort in einem längeren Beitrag aus, warum das Bild von Ceaușescu im Westen revidiert werden müsse. Durch dessen Weigerung im August 1968, die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei zu befürworten, galt er bei vielen im Westen noch als unterstützenswert. In der Bundesrepublik kam zudem hinzu, dass Ausreisen von Angehörigen der deutschen Minderheit aus Rumänien nicht durch Kritik gefährdet werden sollten. Zu der Veranstaltung kamen außer Journalisten auch Vertreter der Rumänischen Botschaft, die versuchten, uns einzuschüchtern. Die Redebeiträge erschienen als Broschüre mit dem Titel Ceaușescu isolieren!. Mit dieser Zielsetzung bildete sich in Berlin ein Komitee für Menschenrechte in Rumänien, an dessen Aktionen auch einige aus der DDR ausgewiesene Bürgerrechtler teilnahmen.
Zwischen 1987 und 1991 arbeitete ich in Frankfurt in der Konfliktforschung und sah Richard und Herta selten. Aber sie luden mich ein, einen Beitrag zu ihrem Band Der Sturz des Tyrannen zu schreiben, der im Juni 1990 herauskam. Ich war gerade von einem viermonatigen Aufenthalt in Moskau zurück und hatte damals die Hoffnung, dass eine umfassende Umwälzung in Gang käme. Aber während die Moskauer Gruppe von Memorial die kommunistischen Verbrechen recht eingehend recherchierte, wurde in Rumänien vieles nur dem sowjetischen Einfluss angelastet.
Richard kritisierte 1991 in dem Buch Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland, dass dort durch das Fehlen einer Oppositionsbewegung vor Dezember 1989 ehemalige kommunistische Funktionäre weiterhin an der Macht partizipierten. Er beschrieb, wie Staatspräsident Ion Iliescu Bergarbeiter mit Sonderzügen nach Bukarest holen ließ, damit sie die Kritiker seiner Regierung verprügelten. Er thematisierte auch, mit welchen perfiden Mitteln Konflikte zwischen Rumänen und den nationalen Minderheiten angeheizt wurden.
Richard lotete in seinem 1992 erschienenen Buch Völker ohne Signale aus, warum auch in anderen osteuropäischen Staaten der Prozess der Demokratisierung nur sehr langsam vorankam. Im Essay-Band Mythendämmerung. Einwürfe eines Mitteleuropäers thematisierte er 1993, wie in Osteuropa alte Machteliten den Neuanfang behinderten. In dem 1990 erschienenen Roman Die Muren von Wien geht es um die leidvollen Erfahrungen eines Ausgewanderten, der sich zwischen der alten und neuen Heimat nur schwer orientieren kann. Die beiden nächsten umfassenden Erzählungen Ausreiseantrag und Begrüßungsgeld betrachtete ich als Zeugnis seiner Position als Außenseiter sowohl in Rumänien als auch in Deutschland. Ich konnte die Bände den Studierenden am Berliner Osteuropa-Institut empfehlen, weil sie eindringlich die Erfahrungen und Konflikte von Menschen vermittelten, die in einer Diktatur gelebt hatten.
In den seit 1995 erschienenen Erzählungen schilderte Richard das Alltagsleben in Berlin oft in recht düsteren Farben. Seit 1993 griff er bei öffentlichen Auftritten auch „die Linken“ immer häufiger an, unter anderem, weil sich einige gegen die Öffnung der Stasi-Akten wandten. Ich hatte damals in meiner eigenen Stasi-Akte die Berichte von Informanten zum Beispiel über unsere Arbeit im Komitee zur Freilassung von Rudolf Bahro gelesen und war skeptisch, ob derart verzerrte Darstellungen für Nichtbetroffene einen Informationswert hätten. Richard wandte sich besonders scharf gegen die PDS, der er vorwarf, die Aufarbeitung der DDR-Geschichte verhindern zu wollen.
Ich freute mich, als Richard sich 2003 mit Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkans den historischen Hintergründen vieler Problembereiche zuwandte, die durch die Massaker in den Balkankriegen sichtbar geworden waren. Besonders erfolgreich war sein Roman Habseligkeiten von 2004, in dem er sich mit der Banater Migrationsgeschichte beschäftigte. In der Geschichte eines Ausgereisten, der sich bei einem Besuch in der alten Heimat mit den Erinnerungen an das Dorfleben seiner Familien auseinandersetzt, konnte er eigene Erfahrungen plastisch darstellen. So sprachen wir viel über unsere recht unterschiedlichen Wahrnehmungen als Kinder in Bukarest und in einem Banater Dorf.
Vor dem Erscheinen seines Romans Das reiche Mädchen (2007) erörterten wir öfter die zugrundeliegende Geschichte. Sie beruhte auf dem Drama einer Bekannten aus der Zeit des Rumänien-Komitees. Die Protagonistin stammte aus einer wohlhabenden westdeutschen Familie und heiratete einen mittellosen Roma-Flüchtling aus Serbien. Sie bekam mit ihm ein Kind. Ihre Liebe konnte aber die großen kulturellen und sozialen Unterschiede nicht überbrücken, und der Mann ermordete seine Ehefrau. Richard gestaltete die Figur der Ehefrau als fanatische Linke, welche die komplexe Realität nicht akzeptieren wollte.
Nur schwer konnte ich Richards verbissenen Kampf gegen einen Informanten der Securitate nachvollziehen. Er hatte 2010 zusammen mit Herta Müller die gemeinsame Akte in Bukarest gelesen und dessen langjährige Berichterstattung entdeckt. Ich kannte den aus Siebenbürgen stammenden Schriftsteller bis dahin nur als Sammler jüdischer Märchen sowie Sagen der Rumäniendeutschen und fand Richards öffentliche Angriffe übertrieben. Sie brachten ihm schließlich auch einen Prozess wegen Rufschädigung ein, der recht hohe Kosten verursachte. Ich konnte Richard nicht davon abbringen, weitere „Entlarvungen“ zu starten. Nach so vielen Jahren hielt ich es nur noch für wichtig, über die Arbeitsweise der Securitate aufzuklären, die sich „wunde Punkte“ in den Biografien Einzelner zunutze gemacht hatte, um viele Leute zur Mitarbeit zu bringen. Richard betonte aber, er habe trotz des Berufsverbots niemanden denunziert.
Um 2009 unterstützte Richard eine Weile den Blog Achse des Guten von Henryk M. Broder mit eigenen Beiträgen, die sich gegen die sogenannte 68er-Ideologie richteten. So kritisierte er eine Migrationstagung am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, über die ihm Broder berichtet hatte. Dort war darüber diskutiert worden, ob ähnliche Vorurteile wie gegen Juden auch gegen Muslime bestehen würden. Einige Freunde, welche die Arbeit des Zentrums schätzten, wandten sich von ihm deswegen ab.
Wie stark ihn unterdrückte Ängste aus Rumänien noch belasteten, begriff ich erst sehr spät. Seine zunehmenden gesundheitlichen Probleme verarbeitete er 2015 noch in dem Buch Herr Parkinson. Doch bald danach konnte er nicht mehr schreiben und sich selbst versorgen, sodass er in einem Berliner Pflegeheim untergebracht werden musste. Dort erlebte ich ihn einmal ganz panisch, als in der Corona-Zeit Außenkontakte unterbunden wurden. Er wollte mir im Delirium weismachen, dass die Securitate vor seiner Tür stünde. Ich rechnete ihm vor, dass seine einstigen Peiniger nun uralt sein müssten, was ihn anscheinend beruhigte.
Bis zum Schluss begleiteten ihn einige Getreue, von denen ich Sabina Kienlechner, Josef Sallanz, Gilles Duhem und Elisabeth Ernst nennen will. Die medikamentöse Behandlung machte es möglich, dass er ohne Schmerzen einen ruhigen Tod fand.
Mariana Hausleitner wurde 1950 in Bukarest geboren. Sie veröffentlichte Monografien insbesondere zu den Minderheiten in der Bukowina, Bessarabien und im Banat. 2021 erschien ihr Buch Selbstbehauptung gegen staatliche Zwangsmaßnahmen. Juden und Deutsche in Rumänien seit 1830.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 211–214.