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Péter Lőkös: Ungarisch-deutscher Kulturtransfer in der deutschsprachigen Literatur des 16. bis 20. Jahrhunderts | Rezension

Péter Lőkös: Ungarisch-deutscher Kulturtransfer in der deutschsprachigen Literatur des 16. bis 20. Jahrhunderts (Literaturwissenschaft, Bd. 92) Berlin, Frank & Timme 2020. 212 S. 

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Von Orsolya Tamássy-Lénárt 

 

Der im Berliner Frank & Timme-Verlag veröffentlichte Band von Péter Lőkös, der 2020 in der Schriftenreihe des Germanistischen Lehrstuhls der Katholischen Péter-Pázmány-Universität erschien, enthält elf Aufsätze des Autors, die bis auf drei Erstveröffentlichungen bereits zwischen 2011 und 2018 in in- und ausländischen Sammelbänden publiziert wurden. Der thematische Zusammenhang der Beiträge soll laut Vorwort (S. 7) durch den Fokus auf die deutsch-ungarischen Beziehungen im Bereich der Kultur- und Literaturwissenschaften sowie durch den imagologischen Ansatz gewährleistet werden.

Obwohl der Titel einen Überblick über die kulturellen Transferprozesse im deutsch-ungarisch-österreichischen Kontext zwischen Früher Neuzeit und dem 20. Jahrhundert verspricht, beschäftigt sich Lőkös in erster Linie mit der literarischen Darstellung von Akteuren der so genannten Türkenkriege, wobei er auch auf die Darstellung des Eigenen und des Anderen näher eingeht. Ein weiterer Fokus liegt auf dem deutschsprachigen Schrifttum in Siebenbürgen im 16. bis 18. Jahrhundert und der Herausbildung und Tradierung nationalcharakterologischer Darstellungsschemata. Die im Titel des Bandes benannte Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert wird erst in den letzten drei Beiträgen untersucht.

Im ersten thematischen Abschnitt schildern die Beiträge die literarische Verarbeitung des Krieges gegen die Osmanen auf dem Gebiet des Königreichs Ungarn wie die Belagerung der Festung von Erlau (ung. Eger) 1552 oder Gran (ung. Esztergom) 1595. Lőkös weist dabei die Präsenz weit verbreiteter Topoi über Ungarn und Türken in verschiedenen Texten nach. In Bezug auf das Türkenbild sind dies Christian Schäseus’ Ruina Pannonica (Wittenberg, 1571) sowie Mathias Miles’ Siebenbürgischer Würgengel (Hermannstadt, rum. Sibiu, ung. Nagyszeben, 1670), in denen neben den im 16. und 17. Jahrhundert allgemein bekannten Bildern vom türkischen „Bluthund“ und „Erbfeind“ (S. 12) das insbesondere im ungarländischen, protestantischen Schrifttum verbreitete Narrativ des „flagellum Dei“, das heißt die Darstellung der Türkenkriege als Strafe Gottes für die begangenen Sünden der Christenheit (S. 22), deutlich wird. Hervorzuheben ist, dass der Autor sowohl die Türken- als auch die Ungarnbilder der analysierten Werke in einem breiteren literarischen Kontext betrachtet und sie mit anderen Turcica und Hungarica in Verbindung setzt. So kommt er zum Schluss, dass die Tradierung literarischer Fremdbilder willkürlich ist: In der Gestaltung eines Bildes über das Andere spiele weniger „der Ethnozentrismus eine entscheidende Rolle, sondern eher der Zufall, d. h. was er [der jeweilige Autor – Anm. OTL] in seinen Quellen fand“. (S. 36)

Zugleich ist anzumerken, dass sich bei der Betrachtung eines größeren Quellenkorpus (zum Beispiel der Hungarica des 17. Jahrhunderts) bestimmte Tendenzen klar erkennen lassen, so auch, dass der für die Frühe Neuzeit charakteristische Ethnozentrismus die damaligen Verfasser zwangsläufig beeinflussen musste. Der ethnozentrische Blick prägt, um mit Franz K. Stanzel zu sprechen, die Entstehung der „volkscharakterologischen Bilder“: Die vertraute Welt des Eigenen gilt als Norm und das Fremde (oder gar Feindliche) wird als verachtenswerte und gefährliche Abweichung von dieser Norm verstanden. Dies zeigt sich auch im Beitrag von Lőkös zur Nationalcharakterologie des 18. Jahrhunderts, in dem der siebenbürgisch-sächsische Lehrer und Journalist Michael Lebrecht exemplarisch betrachtet wird. Dieser vertritt die Ansicht, die Rumänen seien ungebildet, roh und wild; die Ungarn untreu, wild, grausam und tränken Blut; die Sachsen hingegen seien fleißig und insgesamt „die kulturschaffende Nation in Siebenbürgen“. (S. 52) Der Text ist zugleich ein Paradebeispiel dafür, wie hartnäckig sich manche Topoi halten können – zum Beispiel die Trunksucht der Deutschen und der Kannibalismus der Ungarn – und wie schnell andere wieder verschwinden können – zum Beispiel der Propugnaculum-Topos des 16. und 17. Jahrhunderts. (S. 41f.)

In der zweiten thematischen Einheit kehrt der Verfasser zur Belagerung von Erlau zurück, aber diesmal untersucht er die Darstellung der Ereignisse aus der Sicht von Autoren aus Schlesien, Siebenbürgen und der Zips. An dieser Stelle sei anzumerken, dass es zielführend gewesen wäre, den deutschen Namen Erlau bei der ersten Erwähnung (S. 11) anzugeben (der Name Eger korreliert im deutschen Sprachraum nämlich mit dem Namen der böhmischen Stadt Eger, tsch. Cheb) und den ersten Beitrag des zweiten Abschnitts mit einer ausführlichen Darstellung der Belagerung (S. 77.) vorzuziehen. Dieser Beitrag wiederholt zudem Informationen, die in den Aufsätzen des ersten Abschnitts ausführlich behandelt werden. Hier wäre zumindest ein Querverweis auf die vorhergehenden Texte hilfreich gewesen.

Ähnliches gilt auch für die Analyse der Beschreibung von Erlau in der von der Forschung ausgiebig erfassten Simpliciade von Daniel Speer, die eher mit dem Beitrag über Ortelius’ Chronologia im ersten Kapitel zusammenhängt. Wie auch Lőkös betont (S. 87.), ist eine Besonderheit von Speers Roman, dass er angeblich auf den Erfahrungen und Erlebnissen eines Reisenden beruht, der die Reise durch das Königreich Ungarn tatsächlich unternommen hat. Neben den auftretenden Ungarnbildern, die von der narrativen Tradition abweichen, griff Speer auch auf die gängigsten Topoi zurück. Lőkös weist zahlreiche Parallelen zu einer Reihe von zeitgenössischen Darstellungen auf, wie etwa zu David Frölichs, Martin Zeilers, Johann Wilds Beschreibungen, so dass die Frage berechtigt ist, ob „Speer tatsächlich (als Gefangener) in Eger war“. (S. 99) Obwohl Speers Simplicissimus nach Ansicht des Autors auch als historische Quelle herangezogen worden sei (S. 89), stellt er nicht explizit die Frage, wie Speers Werk auf seine Zeitgenossen und auf die späteren Darstellungen von Erlau und des gesamten Königreichs Ungarn wirkte.

Die beiden letzten, sich teilweise überschneidenden Beiträge des zweiten Abschnitts widmen sich der Gattung Predigt, die im Barock als eine „ausgezeichnete Kommunikationsmöglichkeit für den Hof, ein breites Publikum […] über die politischen, militärischen Ereignisse und Erfolge zu informieren“ galt. (S. 104, S. 129) Die beiden von Lőkös untersuchten Texte untermauern, dass Knellingers Türkenpredigt zur Krönung Josephs I. im Jahr 1687 in der Debatte um die Thronfolge 1687/88 dem Zweck diente, das habsburgische Erbfolgerecht zu unterstützen, während seine Predigt über die Schlacht bei Nagyharsány 1687 (auch als Zweite Schlacht bei Mohács bekannt) als eine Siegespredigt auf die Einheit der christlichen Völker gegen die Osmanen gelesen werden kann.

An dieser Stelle macht der Band einen großen chronologischen Sprung und stellt die ungarische Präsenz in österreichischen Zeitschriften wie Die Muskete (Wien, 1905–1941) und Der Kuckuck (Wien, 1929–1934) dar. Mit ungarischer Präsenz ist einerseits die Beteiligung ungarischer Autoren an den einzelnen Zeitschriften mit literarischen und journalistischen Texten gemeint, andererseits das Gesamtbild des Landes in der österreichischen Presse. Letzteres war, wie Lőkös im zweiten Beitrag des letzten Abschnitts bemerkt, stark von den zeitgenössischen historischen und politischen Ereignissen geprägt, insbesondere was die Zeit zwischen der Gründung der Ungarischen Räterepublik und der Abtretung Deutschwestungarns an Österreich betrifft.

An dieser Stelle wird deutlich, warum es sich lohnt, Ungarnbilder immer diachron zu untersuchen: Alte Stereotypen werden nämlich „nach einer Phase der Latenz wegen bestimmter Ereignisse wieder reaktiviert“ (S. 153), wie etwa die Grausamkeit Attilas und seiner Hunnen, die im genannten Zeitraum wieder in den Mittelpunkt „völkercharakterologischer“ Beschreibungen rückte und sogar in Karikaturen sichtbar gemacht wurde. Als Paradebeispiel gilt die Karikatur Die Erfindung des Gulyás, auf der „ein Hajduck oder Husar zu sehen ist, der eben den Kopf eines Türken in Würfel zerschneidet“. (S. 154) Der näheren Analyse dieser plastischen Darstellungen hätte man sogar einen eigenen Beitrag widmen können, insbesondere wegen der Kontinuität des Grausamkeitstopos. Die Brutalität ungarischer Krieger wurde nämlich in den Darstellungen der Frühen Neuzeit mit einer doppelten Optik betrachtet: Es war ein notwendiger Charakterzug im erfolgreichen Kampf gegen den „Erbfeind“, aber erregte zugleich Furcht und Entsetzen.

Dass das Ungarnbild der österreichischen Presse in diesem Zeitraum grundsätzlich negativ war, konnte der Autor anhand zahlreicher Text- und Bildmaterialien sichtbar machen. Laut Lőkös war die Tagespolitik in Ungarn ausschlaggebend, und die Träger der ungarischen Politik wurden oft und paradoxerweise im Hinblick auf die historische Entwicklung des Ungarnbildes als „Bluthunde“ bezeichnet. (S. 158f.) Eine unerschöpfliche Fundgrube für negativ konnotierte Ungarnbilder war auch die sozialdemokratisch orientierte Zeitschrift Der Kuckuck, in der unter dem Horthy-Regime regelmäßig über Missstände im Land berichtet wurde. (S. 186f.) Einen besonderen Aspekt der Analyse des Eigenen und des Anderen stellen Texte des Blattes von einem „gesellschaftskritischen, politischen oder ideologischen Inhalt“ (S. 187) dar, die häufig aus der Feder ungarischer Autoren stammten.

Insgesamt lässt sich also festhalten, dass der Band aufschlussreiche, philologisch gut und sauber erarbeitete Fallstudien enthält, die den Blick auch auf bisher von der Forschung weniger beachtete Quellen lenken. Obwohl der Schwerpunkt „Ungarnbild“ die Beiträge des Bandes in gewisser Weise miteinander verbindet, macht die Gliederung einen eklektischen Eindruck. Die einzelnen Aufsätze sind zwar an einigen Stellen thematisch enger miteinander verknüpft, ergeben aber letztlich kein Gesamtbild der kulturellen Transferprozesse zwischen Ungarn und dem deutschen Sprachraum in dem im Titel genannten Zeitraum. Vielmehr handelt es sich um Schlaglichter auf einzelne Epochen des „ungarisch-deutschen“ Austausches mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Zeit der so genannten Türkenkriege. Angesichts dieser Tatsache wären eine andere, präzisere Titelwahl und eine Konzentration auf die ersten acht Aufsätze mit einer genaueren thematischen Gliederung vielleicht glücklicher gewesen. Zumindest aber wäre es notwendig gewesen, die zwischen den Beiträgen bestehende chronologische Lücke durch eine detailliertere Einführung zu schließen und eine Brücke zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert zu schlagen. In einem einleitenden Kapitel hätte der Autor auch den methodologischen Rahmen der Arbeit genauer definieren können.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2024), Jg. 19, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 124-126.