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Ágnes Tóth: Quellen zur Geschichte der Deutschen in Ungarn | Rezension

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Ágnes Tóth (Hg.): Quellen zur Geschichte der Deutschen in Ungarn 1944–1953 / Dokumentumok a magyarországi németek történethez 1944–1953. Budapest: Argumentum 2018, 1423 S.

Von Michael Prosser-Schell

Die hier anzuzeigende Edition deckt jene Zeitphase ab, in der der Einmarsch der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges, die Verschleppung zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion und die Vertreibung etwa der Hälfte der Angehörigen der deutschen nationalen Minderheit tiefgreifende Rupturen nicht nur für die Betroffenen in Ungarn, sondern für ganz Mitteleuropa zur Folge hatten. Die Herausgeberin Ágnes Tóth hat aus 94 verschiedenen Archivbestandsgruppen in Ungarn Quellen zusammengetragen, den größten Teil aus dem Staatsarchiv des Ungarischen Nationalarchivs, aus Beständen der „Obersten Organe der Staatsverwaltung“ sowie aus den Archivbeständen einzelner Komitate im Ungarischen Nationalarchiv. Dazu kommen mehrere kirchliche Archive verschiedener Konfessionen, insbesondere Dokumente des Evangelischen Landesarchivs und der katholischen Bistümer Szeged und Stuhlweißenburg. Auch die Überlieferung der politischen Parteien im Archiv des Instituts für Politikgeschichte wurde berücksichtigt, ebenso das Archiv der Staatssicherheitsdienste. Insgesamt handelt es sich um 387 Dokumente, zumeist Verwaltungsschriftgut (Anträge, Eingaben, Stellungnahmen, Protokolle Verordnungen etc.), Denkschriften; auch einige persönlich gehaltene Berichte sowie familiäre Privatbriefe lassen sich finden. Den Dokumenttexten sind jeweils kurze Materialbeschreibungen und Herkunftsangaben sowie ungarische und deutschsprachige Regesten beigegeben.

Das Werk wird durch ein umfangreiches Personenregister, ein ungarisch- und deutschsprachiges Ortsregister, ein Verzeichnis der bearbeiteten Archive und insbesondere durch ein vollständiges Dokumentenregister in seiner Benutzbarkeit wesentlich aufgewertet. Eine Auswahlbibliografie mit insgesamt etwa 500 ungarisch- und deutschsprachigen Titeln komplettiert den Anhang.

Gemäß der Profession des Rezensenten erfolgt die Besprechung dieses Werkes hier insbesondere unter europäisch-ethnologischem beziehungsweise kulturanthropologischem Blickwinkel. Evident erscheint eine solche Perspektive in mehrerlei Hinsicht; einige markante Anhaltspunkte seien im Folgenden aufgeführt: Immer wieder zieht sich durch die Akten und Berichte zur Zwangsaussiedlung (ung. Kitelepités) ein Konflikt um die Interpretation der Daten der Volkszählung 1941, weil die Fragen nach „Muttersprache“ und nach „Nationalität“ (also nach der eigenen ethnischen Zuordnung) getrennt gestellt worden waren und auch unterschiedlich beantwortet werden konnten. Daraus ergaben sich Fehlinterpretationen bei der Auswahl derjenigen Personen, die einerseits als staatstreue Ungarndeutsche zu gelten hatten und deshalb im Land bleiben sollten, andererseits als unzuverlässige Deutsche aus Ungarn ausgewiesen werden sollten. Mit anderen Worten: Hier ist die ethnologische Grundsatzfrage berührt, welche Kriterien bei der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten nationalen Minderheit beziehungsweise zu einer ethnischen Gruppe produktiv sind und welche nicht – und wer auf welche Weise einen Fragebogen unter welchen Umständen „richtig“ ausfüllt? Was ist in welcher Situation eine „richtige“ Angabe? (sehr aufschlussreich auf S. 480 [Bericht an den sowjetischen Gesandten, Dezember 1945]; S. 594 [Statistisches Zentralamt, Kommentar zu Volkszählungsdaten, Januar 1946] oder S. 394–397 [zum Problem, wer „Muttersprachler“ sind] sowie S. 494–498 [Denkschrift István Bibó zum Problem der „Kollektivschuld“, Dezember 1945]).

Der ganz praktische Zuschnitt des Problems konnte dann auf lokaler Ebene gleichsam ‚brennend‘ werden: Amtspersonen (etwa die Gemeindevorstände) hatten nach eigenem Gutdünken unzutreffende Angaben über die Muttersprache von Bürgern ihres Zuständigkeitsbereichs gemacht.

Manchmal benötigte man vor Ort einfach Wohnungen für diejenigen ethnischen Ungarn, die aus der ČSSR (vor allem aus der Slowakei) und aus der Region Bukowina ebenfalls zwangsweise ausgesiedelt wurden und in Ungarn angesiedelt werden mussten – dazu konnten etwa Häuser auszusiedelnder „Schwaben“ Verwendung finden.[1] Ganz anders geartet waren die Fragen des Bleibens oder Gehens unter anderem in Bergarbeitersiedlungen; dort konnten (und sollten) auch belastete Ungarndeutsche schlicht deshalb bleiben, weil Facharbeiterkenntnisse gebraucht wurden, um die Betriebe und Gewerke überhaupt am Laufen zu halten. Mit anderen Worten – wer als ethnischer Deutscher/„Schwabe“ zur Aussiedlung respektive in die Vertreibung gezwungen werden sollte, war zwar über zentralstaatlich-regierungsamtliche Erlasse festgelegt und definiert. Wer wirklich gehen musste und wer bleiben konnte, entschied sich indessen vielfach auf der sozialen und ökonomischen Mikro-Ebene vor Ort, bei lokalen Amtspersonen, unter lokalen Umständen und in der Pragmatik der Verhältnisse in den Gemeinden.

Dennoch – wenn schon die Diskussion um die Ergebnisse der Volkszählung 1941 empirisch eine Hauptrolle spielt, so ist die „kitelepítés“ nicht und niemals zu verstehen ohne das, was der Volksbund der Deutschen in Ungarn zuvor in den späten 1930er-Jahren, vor allem aber während des Krieges getan hatte. Vielleicht hätte die Erläuterung für ein deutschsprachiges Lesepublikum im Einführungstext ein wenig ausführlicher ausfallen sollen.

Der Wert der Editionsleistung an sich wird dadurch allerdings keineswegs geschmälert.

Die Akten geben auch zu erkennen, dass in manchen Orten/Gemeinden die offiziellen Bekanntmachungen und Geltungsverfügungen der anstehenden Vertreibungsmaßnahmen zum Teil auch nach mehreren Versuchen nicht gelungen sind. Man habe die gesetzliche Aufforderung durch Austrommeln oder Ausschellen ergehen lassen wollen, die Leute aber hätten sich geweigert, dies anzuhören, es sei zu Tumulten gekommen, in Einzelfällen mit Todesfolge (besonders instruktiv S. 473–476 [Referentenbericht aus diversen Gemeinden, November 1945]). Kulturanthropologisch hier relevant und von Interesse ist das gedächtniskulturelle respektive orale Verfahren der Nachrichtenzustellung: Wenn dies also durch „Austrommeln“ geschah (das Zusammenrufen der Einwohner einer Gemeinde durch Trommelschlag, nicht durch Einschreibebriefe), dann ist die gemeinsame physische Anwesenheit, die Menschenansammlung notwendig – aus der es dann unmittelbar auch zu tumultartigen Auseinandersetzungen kommen konnte.

In den Quellen begegnet uns zudem das im deutschen Publikationskreis lange unbekannt gebliebene Phänomen der „hazatértek“: Bei diesen „Rückkehrern“ beziehungsweise „Heimkehrern“ handelt es sich um ungarndeutsche Personen, die schon während des Vertreibungsverlaufs oder dann von Orten in Deutschland aus den illegalen Weg zurück einschlugen. Von einigen Behördenvertretern Ungarns ist dies selbstverständlich bemerkt worden (instruktiv etwa S. 838f., Maßnahmen gegen die in eine Gemeinde zurückgekehrten Personen, August 1946)[2] – was aber tun? Offizielle Maßgabe war, solche Personen zu ergreifen und zu verhaften und gegebenenfalls wieder abzutransportieren. Andererseits war es vielen möglich, sich versteckt zu halten, mit Hilfe von Nachbarn zu überleben und nach der Amnestie sogar ihre Häuser zurückzuerwerben. Später konnten von Ungarndeutschen in der DDR auch Rückreiseanträge gestellt werden (siehe S. 1226–1232 [aufschlussreicher, mehrseitiger Antragsfragebogen vom August 1953], auch dies ein sehr deutlicher Unterschied zu den Vertreibungen der Deutschen aus den neuen Territorialgrenzen Polens, der ČSSR, Jugoslawiens und der Sowjetunion).

Es lohnt sich – und dies ist meine Kernbehauptung – die hier aufgereihten Quellentexte nicht nur spezifiziert und zielgerichtet (also nur auf eine je methodisch begrenzte Fragestellung hin) zu rezipieren. Mit anhaltender Spannung kann man diese Edition wirklich ununterbrochen als Ganzes lesen. Diese Quellensammlung ist geeignet, eine bestimmte historische Zeit, eine Epoche zu erschließen. Wer sich weniger für Narrative, sondern eher für die Diffizilität der Fragen und Problematiken einer Europäischen Ethnologie mit wissenschaftlichem Anspruch interessiert, kann hier Material finden.

Große Anerkennung gebührt dem Engagement der Herausgeberin/Projektleiterin aus der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Budapest (Institut für Minderheitenforschung) sowie der Projektleitung des IdGL Tübingen und allen, die der Sache Unterstützung angedeihen ließen. Nicht zuletzt sind die konzise Übersetzungstätigkeit bei den Regesten durch Andreas Schmidt-Schweitzer sowie das Lektorat durch Dieter Uesseler hervorzuheben. Schließlich darf man dem Ungarischen Kulturfonds, dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat sowie der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen ebenfalls Anerkennung aussprechen, weil Fördergeld ganz zweifellos sinnvoll eingesetzt worden ist.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 141–143.

 

[1] Zum Gesamtproblem vgl. die Untersuchung Ágnes Toth: Migrationen in Ungarn 1945–1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch. München 2001.

[2] Vgl. hierzu insbesondere auch die Studie Ágnes Tóth: Rückkehr nach Ungarn 1946–1950. Erlebnisberichte ungarndeutscher Vertriebener. München 2012.

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