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Detlef Haberland: Region(en) von Mitteleuropa | Rezension

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Detlef Haberland, Magdolna Orosz (Hgg.): Region(en) von Mitteleuropa. Historische, kulturelle, sprachliche und literarische Vermittlungen. Wien: Praesens Verlag 2020. 433 S.

Von Noémi Hegyi

Vorliegender Sammelband ist in der Reihe Veröffentlichungen des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes erschienen und fasst die Ergebnisse des 5. Kongresses des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes zusammen, der 2017 am Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest organisiert wurde. Die 29 Studien basieren auf bereits bestehenden Theorien zu Mitteleuropa und Regionalität, führen diese gleichzeitig auch weiter. Sowohl bei den literatur- und kulturwissenschaftlichen als auch bei den linguistischen und didaktischen Beiträgen sind verschiedene Sprachgemeinschaften Mitteleuropas repräsentiert, was die Vielfalt der Teilnehmer und Teilnehmerinnen am MGV-Kongress in Budapest widerspiegelt.

In den Aufsätzen wird explizit auf Interpretationsmöglichkeiten des Mitteleuropa-Konstruktes eingegangen. Die Studie Das gespaltene Mitteleuropa von Karol Sauerland widmet sich der Analyse zahlreicher historischer Mitteleuropa-Auffassungen vom Mittelalter bis in die 1980er-Jahre. Eine ebenfalls historisch angelegte, aber ortsspezifische Studie ist Natalia Chomutskajas Deutsche Spuren in der Geschichte der altrussischen Stadt Kolomna, die 250-jähriges interkulturelles Wirken ehemaliger Aussiedler aus Preußen zusammenfasst.

Der Sammelband zeigt mannigfaltige Erscheinungen des Kulturtransfers auf und untersucht sie. Der Beitrag von Zsuzsa Bognár befasst sich mit den kulturvermittelnden Bemühungen Ludwig Hatvanys, der dank guter Kontakte zu Verlegern Texte bedeutender Autoren der ungarischen Moderne an die deutschsprachige Öffentlichkeit brachte und 1910 an der Organisation einer Ausstellung ungarischer Künstler in Berlin beteiligt war. Seine Kooperation mit Paul Cassirer wird an zahlreichen Beispielen verfolgt, wobei neben Harvanys kulturvermittelnder Tätigkeit auch seine nicht ungarnspezifischen Veröffentlichungen – vor allem Literaturkritiken – besprochen werden, die im Rahmen der literaturgeschichtlichen Forschungen zu seinem Werk noch nicht untersucht worden sind.

Dieselbe literaturhistorische Epoche behandelt Sigurd Paul Scheichl, der anhand seiner Forschungen zur Wiener Literaturszene des frühen 20. Jahrhunderts feststellt, dass der literarische Austausch in der k.-u.-k.-Monarchie einseitig war und die Literaturen der Nachbarvölker in Wien kaum beachtet wurden. Zum Schluss bemerkt aber der Autor, dass die vermeintliche Nicht-Rezeption, deren Hypothese er aufgestellt hat, genauer untersucht werden sollte.

Viele der Beiträge zeigen interkulturelle Beziehungen und Erscheinungen wie Kulturtransfer in ihrer Partikularität durch lokalbezogene Forschungen. Manche widmen sich unerforschten Facetten des kulturellen Lebens in den mitteleuropäischen Regionen, indem sie versuchen, dem deutschsprachigen Publikum kulturelle Produkte zu vermitteln oder Werke deutschsprachiger Autoren anderen Sprachgemeinschaften durch literarische Übersetzung zugänglich zu machen. Ein Beispiel für Letzteres ist der Beitrag von Delia Eșian zur Übertragung von Goethes Faust durch den Dichter, Übersetzer und Philosophen Lucian Blaga. Eșian untersucht unter anderem, wie die Ästhetik des verbotenen lyrischen, dramatischen und philosophischen Werkes Blagas auf die Übersetzung Einfluss nahm. Dadurch gewinne die Übertragung von Goethes Werk zusätzlich an Bedeutung, denn sie habe die Möglichkeit der geistigen Freiheit gegenüber der repressiven politischen Macht geboten.

Detlef Haberland interpretiert Henry Benraths 1932 veröffentlichten Roman Ball auf Schloss Kobolnow, dessen Handlung in einem imaginären Ostpreußen spielt. In der peripher verorteten Zeitkritik werde die Region zu einem „diskursiv-politische[n] Experimentierfeld“ (S. 53).

Die kulturwissenschaftliche Perspektive führt dazu, dass beliebte Klischees der Interpretationen literarischer Werke hinterfragt werden, wobei neue Interpretationspotenziale entstehen und belastete Begriffe neu definiert oder differenziert betrachtet werden. So stellt Christian Luckscheiter in seinem Beitrag zum Ort von Andrej Stasiuks Prosa die klassische Dichotomie Osten/Westen in den bisherigen Interpretationen des Werkes in Frage und betont stattdessen die Bedeutung(en) der Zwischenräume.

Ein ebenfalls problematisches Konzept reflektiert Gábor Kerekes, der in seiner Studie das Motiv der Heimat in der modernen ungarndeutschen Literatur untersucht; dabei geht er von der 1974 veröffentlichten Anthologie Tiefe Wurzeln aus und geht bis zu den Texten der 1990er-Jahre, in denen das Motiv der Heimat weniger explizit, aber öfters kritisch hinterfragt werde. In diesem und anderen, ähnlich angelegten Beiträgen erkennt man die Schwierigkeit der Abgrenzung des Textkorpus anhand geografischer, sprachlicher oder aber biografischer Maßstäbe. So bezieht sich hier „ungarndeutsche Literatur“ auf „in deutscher Sprache verfasste Werke von in Ungarn aufgewachsenen, sozialisierten Autorinnen und Autoren […], die sich selbst als Ungarndeutsche definieren und dazu bekennen“ (S. 67). Welche Schwierigkeiten eine solche Klassifizierung mit sich bringt, aber auch welche neuen Perspektiven eine für die Forschung nötige Differenzierung eröffnen kann, zeigt Gabriella Rácz in ihrer Arbeit zu Franz Liszt, in der unter anderem nach Universalismus vs. Nationalismus in Liszts Werk gefragt wird. Liszt steht aber vor allem als fiktionale Figur im Mittelpunkt der Interpretation von Markus Imbisweilers Roman Die Erstürmung des Himmels. Franz Liszt auf Nonnenwerth, der Liszts musikalische Interpretation von Raffaels Gemälde Die Verzückung der Heiligen Cäcilia literarisch bearbeitet. Das Werk wird als „Dialog der Künste“ analysiert, mit Einbeziehung weitgefasster (kunst)historischer Kontexte und intermedialer Transferprozesse (S. 117).

Ebenfalls über zeitgenössische Literatur schreibt Imre Kurdi in seiner Analyse zu Katja Petrowskajas Werk Vielleicht Esther. Geschichten, das er als Bestandteil deutscher und mitteleuropäischer Erinnerungskultur versteht; er plädiert für die Betrachtung literarischer Texte als Gestaltungsform erinnerungskultureller Diskurse.

Untersuchungen zu Dialekten in literarischen Texten sind die Beiträge von Henriett Lindner und László V. Szabó. Lindner bietet eine Lesart zu Alfred Döblins früher Erzählung Ermordung einer Butterblume unter Einbeziehung der Blumen- und Symbolsprache im Kontext folkloristischer Traditionen. László V. Szabó analysiert die poetische Rolle des märkisch-brandenburgischen Dialekts in Theodor Fontanes Roman Der Stechlin, dessen Anwendung er als Zeichen sprachlich-kultureller Regionalität interpretiert, eine Art poetischer Topografie, die der Autor des Beitrags auch historisch kontextualisiert.

Die sprachwissenschaftlichen Beiträge rücken unterschiedliche, regionsspezifische Themen in den Vordergrund wie kulturell markierte Lexik aus den russischen Linguokulturologie-Forschungen, Eigennamen im Kontext der konfessionellen Identitätsprägung oder lexikografische Traditionen des deutschen und ungarischen Sprachraums. Sigrid Haldenwang untersucht Beispiele für Lehnwörter und ihre Bedeutungen aus dem Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch, Anna Vargyas schreibt über das Rezipientenpassiv in hessischen Dialekten. Veronica Câmpian geht der Rolle der deutschsprachigen Presse in Rumänien in der Gestaltung der kulturellen Identität der Minderheit nach, und Agnese Dubova untersucht den Einfluss der deutschen Sprache auf die lettische Wissenschaftssprache der Zwischenkriegszeit.

Unter den Beiträgen finden wir auch weiter gefasste Fragestellungen, zum Beispiel zur phraseologischen Gebundenheit im Englischen und im Deutschen oder zur Epistemik sowie Faktizität in der Grammatikforschung und in der diskursorientierten Linguistik, ebenso zur arealen Sprachkonvergenz in Mitteleuropa.

Im dritten Teil, Didaktik, berichten Blaženka Filipan-Žignić und Mateja Mareković über eine spannende Untersuchung, die sie bei Siebenjährigen in Kroatien zu deren Verständnis von Germanismen durchgeführt haben. Katica Sobo und Sonja Eterović stellen einen Mangel der Regiolekte in Grundschullehrwerken und im Unterricht fest sowie eine plan- und regellose Vertretung der Soziolekte, Funktiolekte und Mediolekte im Gegensatz zur bundesdeutschen Standardsprache.

Cornelia Pătru fragt nach Möglichkeiten der Miteinbeziehung Studierender unterschiedlicher Sprachniveaus und präsentiert Praxisbeispiele zur Förderung der Sprachkenntnisse durch kooperative und kollaborative Methoden. Khrystyna Dyakiv bietet Anhaltspunkte für die erfolgreiche Vermittlung von landeskundlichen Besonderheiten anhand der Analyse kommunikativer Misserfolge. Erika Kegyes untersucht Tendenzen des Wirtschaftsdeutsch-Unterrichts, indem sie Internationalismen und Regionalismen in traditionellen und Online-Wörterbüchern sowie in Lehrwerken und in der Unterrichtspraxis erforscht.

In den Aufsätzen zeigt sich das Engagement der beitragenden Germanisten, neueste Ergebnisse der Forschung in den Unterrichtsprozess einzubringen sowie didaktische Fragestellungen zu historischen Hintergründen und kulturwissenschaftlichen Annäherungsweisen zu formulieren.

Durch diesen Kongressband des Mitteleuropäischen Germanistenverbands wird die Germanistik als Disziplin gestärkt, indem kulturwissenschaftliche Fragestellungen gefördert und weiße Flecken in der Forschung sichtbar gemacht werden. Es wird deutlich, dass Mitteleuropa nicht nur ein geografischer Raum mit vielen Transfererscheinungen ist, sondern auch ein Konstrukt, dessen Deutungsunterschiede bewusst und konstant reflektiert werden.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2021), Jg. 16, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 122–124.

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