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Pia Janke, Teresa Kovacs: Schreiben als Widerstand | Rezension

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Pia Janke, Teresa Kovacs (Hgg.): Schreiben als Widerstand. Elfriede Jelinek & Herta Müller. (DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums, Bd. 15.) Wien: Praesens Verlag 2017. 503 S.

Von Irene Husser

Bereits der Titel Schreiben als Widerstand legt den Doppelcharakter dieses Sammelbandes nahe, der aus drei vom Elfriede- Jelinek-Forschungszentrum in Kooperation mit rumänischen Universitäten und anderen Kultureinrichtungen organisierten Symposien in Bukarest und Wien 2015 sowie in Temeswar 2016 hervorgegangen ist: Nicht nur haben die Herausgeberinnen Pia Janke und Teresa Kovacs die erste umfassende komparatistische Publikation zum Werk der beiden Literaturnobelpreisträgerinnen vorgelegt, sondern auch einen bedeutsamen Beitrag zur politischen Gegenwartsliteratur geleistet. Denn als Tertium comparationis gilt den Herausgeberinnen und Autoren/innen der politische Impetus von Jelineks und Müllers Texten. Von dem programmatischen Aufstand der Literatur gegen den gesellschaftlichen und politischen Status quo können sich die Leser/innen in den Nobelpreisreden der beiden Schriftstellerinnen überzeugen, die in dem Sammelband abgedruckt und den Forschungsbeiträgen vorangestellt sind. Die weitere Unterteilung des Sammelbandes in sieben Themenblöcke (»Politische Kontexte« – »Österreich – Rumänien« – »Sprache. Politik. Subversion« – »Totalitarismus und Repression« – »Gewalt und Tabus« – »Öffentliches Exponieren und Sanktionierung « – »Das Theater als politisches Medium«) weist eine Rahmenstruktur auf, die das Spektrum des Politischen in Jelineks und Müllers Arbeiten abbildet: Ausführungen zu den Produktions- und Rezeptionskontexten ihres Schreibens flankieren Beiträge, die sich ausgewählten Themen und ästhetischen Aspekten der literarischen Texte widmen und diese auf ihr subversives Potenzial hin untersuchen.

In den Einzelstudien des ersten Themenblocks zur politischen Entwicklung Österreichs und Rumäniens nach dem Zweiten Weltkrieg werden die zeithistorischen Kontexte von Jelineks und Müllers Schreiben beleuchtet und zugleich die thematische Bandbreite ihrer Texte vorweggenommen. Oliver Rathkolbs vergleichende Analyse der europäischen Diktaturen bereitet hier den Boden für weitere Überlegungen zur österreichischen und rumänischen Nachkriegsgeschichte: Thomas Schmidinger zieht in seinem Beitrag Bilanz über die demokratiefeindlichen und autoritären Tendenzen in der österreichischen Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts und vermag mit Darstellungen zum Postnazismus im ländlichen Raum nach 1945, dem Erstarken des Rechtspopulismus in den 1980erund 1990er-Jahren und dem Aufkommen neuer staatlicher und nicht-staatlicher Autoritarismen (autoritärer Etatismus; Jihadismus) die zeitgeschichtlichen Koordinaten von Jelineks Schreiben zu umreißen. Parallel dazu beschäftigen sich die Beiträge von Anton Sterbling und Roman Hutter mit dem gesellschaftspolitischen Entstehungskontext von Müllers Schaffen: Hutter zeichnet die Geschichte der Rumäniendeutschen als eine »Situation des Dazwischen« (S. 89), zwischen zwei Gewaltregimen, zwischen Ost und West, die sich bei Müller in der »sprachliche[n] Widerständigkeit gegen festgefahrene Ordnungen« (ebd.) manifestiert; Sterbling verortet Müllers Schreiben im doppelten Entstehungskontext von kulturpolitischem »Tauwetter« der 1960er-Jahre und Ceaușescus nationalkommunistischer Spätdiktatur, von deren Repressionen und Machtmechanismen die Texte Zeugnis ablegen. Die Stärke dieser Beiträge und ihrer Zusammenstellung besteht darin, autoritäre Strukturen und Mechanismen in demokratischen und nicht-demokratischen Gesellschaften aufzuzeigen, ohne diese gleichsetzen zu wollen, und zugleich die Literatur als einen Ort zu konturieren, in dem die Auseinandersetzung mit Autoritarismen erfolgt.

Mit Blick auf Politik und Zeitgeschichte wird deutlich, dass die von den Autorinnen behandelten Themen wie Gewalt, Repression und Unterdrückung von Minderheiten, aber auch Vergangenheitsverdrängung, Deutschtum und Heimattümelei auf konkrete historische Kontexte zurückverweisen. Genau an dieser Stelle setzen die Beiträge der drei mittleren Themenblöcke an: Zentrale Motive, Problemstellungen und Sujets des literarischen Werks von Jelinek und Müller werden bei Isolde Charim, Graziella Predoiu, Teresa Kovacs, Ruth Klüger, Christian Klein, Maria-Regina Kecht und Elin Vestli durchdekliniert und poetische Strategien der Demaskierung und Sichtbarmachung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen besprochen. Die Auswahl der Beiträge bietet einen umfassenden Überblick über das thematische Spektrum der beiden Schriftstellerinnen, der Gemengelagen und motivische Verästelungen sichtbar werden lässt. Dass das Politische in Jelineks und Müllers Schriften sich nicht nur in ähnlichen thematischen Schwerpunktsetzungen erschöpft, also inhaltlich zu denken ist, sondern auch die Ebene der ästhetischen Komposition und formalen Gestaltung der Texte betrifft, arbeiten vor allem die Beiträge von Kovacs und Charim heraus. Kovacs’ Artikel besticht durch die Einbettung des Schreibens der Autorinnen in die allgemeine Frage nach dem Verhältnis von Kunst, Politik und Widerstand. Mit Rancière definiert Kovacs das Politische in der Kunst als Produktion von »singuläre[n] Störungen, die zur Verschiebung von Wahrnehmungsgewohnheiten führen« (S. 239), und vermag so das Prinzip der Stiftung von Unordnung und die Dekonstruktion von (literarischen, zeitlichen, diskursiven, sozialen) Ordnungen als zentrale poetische Verfahren bei Jelinek und Müller nachzuweisen. Während Kovacs die Verbindungslinien im politischen Schreiben der Nobelpreisträgerinnen im Blick hat, macht Charim gerade in der Nähe der beiden Autorinnen einen Unterschied zwischen Müllers »politischer Poetikstrategie« und Jelineks »poetischer Politikstrategie« (S. 216) aus: Müllers Schreiben zielt demnach auf die Rettung des Einzelnen im totalitären Zusammenhang und sieht in der Sprache eine Möglichkeit der Stiftung einer – wenn auch fragilen – Identität, wohingegen Jelineks Programm der Mythenzerstörung die Durchstreichung des »(rechten[n], männliche[n]) Phantasma[s] der vollen Identitäten« (S. 216) verfolgt.

Dem nicht-belletristischen Werk (Essays, Interviews, Reden) der Autorinnen und der öffentlichen Wahrnehmung ihres politischen Engagements widmet sich der vorletzte Themenblock des Bandes, »Öffentliches Exponieren und Sanktionierung «. Christian Schenkermayr liefert hier eine aufschlussreiche Chronologie von Jelineks und Müllers politischen Interventionen, die thematische Überschneidungen zutage treten lässt (siehe dazu auch den Beitrag von Agnieszka Jezierska und Agnieszka Reszka). In dem fortwährenden außerliterarischen Engagement der Schriftstellerinnen sieht er die Etablierung einer »literarische[n] Gegen-Öffentlichkeit […], mittels derer die Erscheinungsformen und Machtstrukturen der staatlichen Öffentlichkeit kritisch reflektiert und in Frage gestellt werden« (S. 371). Das Provokationspotenzial, das diesen Gegen-Öffentlichkeiten eignet, hat sich in zahlreichen Diffamierungs- und Rufmordkampagnen entladen, denen beide Autorinnen in ihrer Karriere immer wieder ausgesetzt waren. Einen Einblick in ebendiese Repressions- und Zensurmechanismen einer posttotalitaristischen Diktatur gewährt Cristina Petrescu; die Autorin legt besonderes Augenmerk auf Müllers Überwachung durch den rumänischen Geheimdienst und vermag durch den Vergleich ihrer Securitate-Akte mit den autobiografisch inspirierten Schriften die Vorgehensweise des Geheimdienstes gegen Dissidenten/ innen darzustellen und den psychischen und physischen Terror, mit dem nonkonformistische Intellektuelle und Künstler/ innen konfrontiert waren, eindringlich nachzuzeichnen. Elenora Ringler-Pascus Beitrag vervollständigt den Themenblock mit einer Betrachtung von Jelineks politischen Essays zum Thema Heimat.

Besonders herauszustellen und zu empfehlen sind an dieser Stelle noch einmal die aus den Symposien hervorgegangenen, im Sammelband abgedruckten Gespräche und Diskussionen. Das Format geht auf, weil hier thematische Engführungen und offene Fragen, die sich aus den Vorträgen ergeben haben, ebenso ihren Platz finden wie Kontroversen und allgemeine Überlegungen zum Verhältnis der beiden Autorinnen.

In seiner interdisziplinären Ausrichtung dokumentiert der Sammelband die intensive Zusammenarbeit des Elfriede- Jelinek-Forschungszentrums mit rumänischen Universitäten (Bukarest, Klausenburg/ Cluj-Napoca, Jassy/Iași, Hermannstadt/ Sibiu, Temeswar/Timișoara), den Instituten für Osteuropäische Geschichte und für Politikwissenschaften der Universität Wien, österreichisch-rumänischen Vermittlungsinstitutionen und Kultureinrichtungen, aus der Symposien und zahlreiche andere Projekte und Veranstaltungen hervorgegangen sind. Der Themenblock »Österreich – Rumänien« widmet sich diesen und weiteren kulturellen (Karin Cervenka), literarischen (Maria Irod), wissenschaftlichen (Susanne Teutsch, Carmen Elisabeth Puchianu) und wirtschaftlichen (Laura Balomiri) Austauschbeziehungen zwischen den beiden Ländern. Komplettiert wird der Sammelband durch einen Ausblick auf die Rezeption von Jelineks und Müllers Texten auf deutschen, österreichischen und rumänischen Theaterbühnen, wobei sich die Herausgeberinnen für einen praxisorientierten Zugang entschieden haben: Neben Irina Wolfs, Teresa Kovacs’ und Maria Irods Überlegungen zur politischen Funktion des Theaters stellen der Regisseur Michael Thalmeier, die Dramaturgin Rita Thiele und die Autorin und Regisseurin Ana Drezga hier aktuelle Inszenierungen von Jelineks und Müllers Texten vor und machen so noch einmal auf die Bedeutung der Autorinnen für die europäische Theaterlandschaft aufmerksam.

In diesem Sinne hat der Sammelband einen Grundstein für die weitere Jelinek- Müller-Forschung gelegt und einen bedeutenden Beitrag zur Gegenwartsliteraturwissenschaft geleistet. Die Heterogenität der Beiträge adressiert ein breites Publikum: Überblicksartige Darstellungen eignen sich vor allem für den Einstieg in die komparatistische Auseinandersetzung mit den Autorinnen; im Forschungsfeld bewanderte Leser/innen werden vor allem in instruktiven Einzelanalysen fündig, die Schlaglichter auf zentrale Fragestellungen in Jelineks und Müllers Werk werfen und diese in allgemeinen literarischen und kulturellen Zusammenhängen verhandeln. Zugleich ist der Sammelband aber auch Zeugnis einer erfolgreichen interkulturellen und interdisziplinären Kooperation, die Anregungen für vergleichbare Austausch- und Vermittlungsprojekte birgt und den Beweis dafür antritt, dass Literatur und das Reden über Literatur Grenzen zu überschreiten und Brücken zu bauen vermag.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2018), Jg. 13 (67), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 112–115.

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