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Linda Maeding, Marisa Siguan: Utopie im Exil | Rezension

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Linda Maeding, Marisa Siguan (Hgg.): Utopie im Exil. Literarische Figurationen des Imaginären. Bielefeld: transcript Verlag 2017. 244 S.

Von Klaus Hübner

Die Beiträge zum vorliegenden Sammelband, die auf eine im April 2016 an der Universität Bremen veranstaltete Tagung zurückgehen, versuchen zu zeigen, dass und wie, anders als in der Forschung oft angenommen, »Diskurse des Zukünftigen und in potenzierter Form des Utopischen einen bedeutenden Teil der Exilliteratur begleiten« (S. 7). Wie die Herausgeberinnen in ihrer konzisen Einleitung feststellen, seien im 20. Jahrhundert, vornehmlich in dessen erster Hälfte und angesichts einer »Zeitgeschichte im Katastrophenmodus « (S. 7), nicht nur dystopische Bilder von Gesellschaft entstanden, sondern auch Utopien – oft an die Exilerfahrung der Ent-Ortung rückgebundene Konstrukte. Insbesondere das Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs habe »Vorstellungen eines Neuanfangs, von tabula rasa und Stunde Null« evoziert, »die utopische Dynamiken entfacht und befeuert haben – und oft herb ins Dystopische umschlugen« (S. 9). Wie sich diverse Spielarten eines Möglichkeitsdenkens literarisch artikulieren und ob sie die Funktion eines Gegenbilds zum Bestehenden beanspruchen können, ist das übergreifende Thema der dreizehn hier versammelten Studien. So heterogen ihre Gegenstände sind – sie alle untersuchen, inwiefern Begriff und Phänomen von »Utopie« und »Exil« in bestimmten Texten eine Verbindung eingegangen sind, »in der das Utopische exiltypisch gestaltet wird« (S. 9).

Eröffnet wird der Band mit Theoretisierungen des Utopischen durch das Exil, und hier ist man gleich bei Ernst Bloch, dem prägenden Philosophen des Utopischen im 20. Jahrhundert. Jörg Zimmer untersucht »Ernst Blochs ästhetisches Denken im Exil« – zunächst in seinem ersten Exil in der Schweiz, wo Geist der Utopie (1918) beendet wurde, dann auch in seinem zweiten Exil der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre in den USA, in dem große Teile des Meisterwerks Das Prinzip Hoffnung (1954–1959) entstanden. Zimmer erläutert und belegt seine These, dass das Ganze der Philosophie Ernst Blochs »nur vor dem Hintergrund der katastrophischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« zu verstehen sei (S. 17). Er erörtert unter anderem den Bloch’schen Zentralbegriff des »Vor- Scheins« und zeigt, wie das Möglichkeitsdenken des Philosophen ganz entscheidend im und durch das Medium der Kunst entfaltet wird. Robert Leucht erhellt Blochs »Profilierung des Utopischen im Schweizer Exil«, sowohl in der Exilzeit während des Ersten Weltkriegs als auch in der der 1930er-Jahre – die Werke Geist der Utopie (1918) und Erbschaft dieser Zeit (1935) stehen dabei im Mittelpunkt. Im Feld der Kulturkritik ist das Utopische im Werk von Siegfried Kracauer besonders virulent, und Heidi Grünwald weist im Detail nach, wie dessen utopische Denkansätze »Kracauers grundlegender exterritorialer Perspektive« (S. 55) geschuldet sind und geradezu aus ihr erwachsen. »Der Begriff des Exterritorialen reflektiert Kracauers persönliche Identität und intellektuelle Befindlichkeit genauso wie seine theoretischen Entwürfe« (S. 57). Dass die von Heimatverlust und Marginalisierung geprägte Erfahrung des Exils auch einen der Zeit enthobenen Freiraum der Imagination eröffnen kann, lässt sich in den Schriften des an Fotografie und Film besonders interessierten Kulturkritikers ebenso nachweisen wie an manchen Texten von Hannah Arendt und Vilém Flusser, denen sich Linda Maeding zuwendet. Sie analysiert speziell die Figuren des jüdischen Paria und des hybriden Migranten, deren Fremdheit auf ihre Umgebung meist eher unheimlich wirkt und zugleich ein utopisches Potenzial birgt, das sie zu Vorreitern oder Vordenkern einer nicht mehr national verstandenen Welt werden lässt. Dass sich von hier aus zahlreiche Verbindungen zu höchst aktuellen Debatten um Hybridität und Migration als gesellschaftliche Zukunftsgeneratoren knüpfen lassen, ist evident.

Der zweite Teil des Bandes trägt die Überschrift »Utopie und Ästhetik im Exil«. Jordi Jané Carbó beschäftigt sich mit Heinrich Heine, auf den sich zahlreiche Künstler des deutschsprachigen Exils nach 1933 immer wieder bezogen haben – eine solide Studie, die die »Utopie als Ironie« im Werk des 1856 im Pariser Exil gestorbenen Dichters untersucht, der zwar kein utopisches Gesellschaftsmodell entwickelt, wohl aber auf nicht verwirklichte Möglichkeiten der politischen und sozialen Umwälzungen seiner Zeit hingewiesen hat. Germán Garrido Miñambres nimmt das Werk von Peter Weiss und ganz besonders dessen großen Romanessay Die Ästhetik des Widerstands (1975–1981) unter die Lupe. Er arbeitet dabei die vielgestaltige Art und Weise heraus, in der Weiss auf die Dante’sche Metapher der Vorhölle Bezug nimmt, um zu verdeutlichen, wie sich das utopisch Imaginäre in der Sphäre der Kunst ausdrücken und differenzieren kann. »Literatur und Autofiktion als utopische Projektionsräume « untersucht Marisa Siguan am Werk von zwei Autoren, die wenig zu verbinden scheint – bis auf den Umstand, dass sie beide von Exilerfahrungen, wenn auch ziemlich unterschiedlichen, wesentlich geprägt wurden: Max Aub, der im deutschsprachigen Raum zu Unrecht wenig bekannte spanische Republikaner, und Herta Müller, die aus dem Banat stammende und der Unterdrückung durch ein diktatorisches Regime knapp entkommene spätere Nobelpreisträgerin. Einerseits werden Aubs Imaginationen des »Was hätte sein können« erörtert, welche utopische Räume im Sinne Ernst Blochs aufschließen, andererseits wird aus Müllers Romanen und Essays, vor allem aus Herztier (1994), eine Art Museum unscheinbarer Dinge destilliert. Diese unscheinbaren Objekte, etwa das Taschentuch, werden mit Ablagerungen historischer und autobiografischer Zeit aufgeladen und weisen dadurch utopisch über sich selbst hinaus: »Sie erstellt keine Gegenwelt, sondern realisiert mit ihren Bildern eine Kritik der bestehenden Verhältnisse und eröffnet damit einen Raum der Freiheit für das Bewusstsein der Wirklichkeit, für die anderen Möglichkeiten menschlicher Beziehungen, für Freundschaft, Solidarität, Freiheit: alles das, was in der Diktatur unterbunden wird« (S. 107). Marisa Siguan arbeitet, wohl als Erste, die Gemeinsamkeiten der beiden Exilautoren heraus: »Realität erscheint erst im Licht der Fiktion, nicht umgekehrt. Gerade beim Schreiben, das aus der Erinnerung entsteht und das Utopische freisetzt: als Überlebensnotwendigkeit sozusagen, sowohl bei Aub als auch bei Müller« (S. 119).

Ein weiterer nicht alltäglicher Versuch, zwei recht unterschiedliche Autorinnen aus zwei Generationen zusammenzudenken, steht am Anfang des dritten Teils des vorliegenden Buches: Rosa Pérez Zancas analysiert »Figurationen der Nicht- Verortung« in den Werken von Irmgard Keun und Ursula Krechel. Die Figur des Heimkehrers, der nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrt und sich dort mit zerstörten Hoffnungen konfrontiert sieht, steht dabei im Zentrum, wobei Pérez Zancas den von Marc Augé geprägten Begriff des Nicht-Orts sowie Michel Foucaults Konzept der Heterotopien für ihre Textanalysen auf gewinnbringende Weise fruchtbar macht. »Dystopische Visionen« umkreist auch die Arbeit von Enric Bou, der den Spuren des spanischen Lyrikers Pedro Salinas in Amerika nachgeht und dabei dessen einzigen, den Abwurf der ersten Atombombe literarisch verarbeitenden Roman La bomba increíble (1950) besonders würdigt. Das »Motiv des leeren Wartens« bei Anna Seghers und der katalanischen Autorin Teresa Pàmies behandelt Loreto Vilar, während Caspar Battegay Franz Werfels utopischen Reiseroman Stern der Ungeborenen (1946) nicht als Science Fiction, sondern als Zeitroman liest – seine Analyse verdeutlicht Werfels kreativen Umgang mit Zeitkonzepten im Kontext einer von theologischen Bezügen nicht freien Poetologie der literarischen Moderne. Wolfgang Stephan Kissel untersucht »Figuren der Zeit(losigkeit)« in der Prosa von Vladimir Nabokov, und Anna Montané geht den »Spuren des Utopischen« in dem ohne Gattungsbezeichnung publizierten Erinnerungsbuch Austerlitz (2001) von W. G. Sebald nach. In den oft im Modus einer diffusen Trauer gehaltenen, die prinzipielle Unabschließbarkeit des Vergangenen herausstellenden Erinnerungen des Jacques Austerlitz macht Montané, durchaus überraschend, auch einen verhaltenen utopischen Gestus dingfest.

Trotz des hochinteressanten Generalthemas, trotz innovativer komparatistischer Fragestellungen und trotz vieler aufschlussreicher Einzelanalysen kann der Tagungsband den Charakter einer literaturwissenschaftlich-philosophischen Buchbindersynthese nicht ganz verbergen. Er zeigt auch, wie weit die Spezialisierung in den Kultur- und Textwissenschaften fortgeschritten ist und wie mühsam es sein kann, heterogene Forschungsfelder und Analysemethoden unter einem gemeinsamen Nenner zu subsumieren. Insofern wird Utopie im Exil manchem etwas bringen, aber nicht unbedingt alle an derartigen Fragen Interessierte unmittelbar in seinen Bann ziehen. Doch von einem Tagungsband wie diesem mehr zu erwarten, wäre wahrscheinlich ein wenig vermessen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2018), Jg. 13 (67), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 117–119.

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