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„Was aber, wenn der Körper sich vom Kopf nicht mehr herumkommandieren lässt?“ Richard Wagner zum 70. Geburtstag

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Richard Wagner wurde am 10. April 1952 in dem zu Rumänien gehörenden Teil der einst österreich-ungarischen Region Banat in die deutsche Bevölkerungsgruppe der Banater Schwaben hineingeboren. Das Banat, das Habsburgerreich, Rumänien und Südosteuropa sowie Deutschland beschäftigen Wagner bis heute, nachdem seine Faszination für die Literatur und das Schreiben bereits in der deutschsprachigen Abteilung des Lyzeums von Großsanktnikolaus (rum. Sânnicolau Mare) geweckt worden war.

So war er vor genau fünfzig Jahren in Temeswar (rum. Timișoara) Mitbegründer einer aufmüpfigen und für das damalige staatssozialistische Rumänien unerhört (regime-)kritischen literarischen Gruppierung, die als Aktionsgruppe Banat in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Sein erster Gedichtband Klartext erschien 1973, da war er gerade 21 Jahre alt und die Aktionen der Gruppierung waren noch voll im Gang. Doch recht schnell geriet die Aktionsgruppe ins Blickfeld des Geheimdienstes Securitate.

1975 werden Wagner und andere Aktionsgruppenmitglieder verhaftet. Danach wird auch die Gruppierung zerschlagen. Bis 1984 veröffentlicht Wagner weitere in der rumäniendeutschen Literaturkritik viel beachtete Gedicht- und Prosabände. Nach seiner Weigerung 1984, eine Jubelreportage zum Nationalfeiertag zu schreiben, können seine Werke in Rumänien nicht mehr erscheinen, so dass er mit seiner damaligen Frau Herta Müller einen Ausreiseantrag stellt. Im Februar 1987 können beide Rumänien verlassen. Kurz danach bin ich Richard Wagner das erste Mal auf einer Veranstaltung der Grünen in Heidelberg begegnet.

Wagner engagiert sich nach seiner Ausreise in Berlin gegen das Ceaușescu-Regime und erhält, wie auch seine Mitstreiter, anonyme schriftliche und telefonische Morddrohungen. Er veröffentlicht jedes Jahr ein neues Buch bei namhaften deutschen Verlagen, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann. In dem Roman Miss Bukarest (2001) setzt er sich mit dem System des Nachrichtendienstes Securitate in der rumänischen Gesellschaft auseinander. Seine engagierten Stellungnahmen gegen ehemalige Securitate-Spitzel in Deutschland bringen ihn vor Gericht und treiben ihn fast in den finanziellen Ruin. In seinem Roman Habseligkeiten (2004) schildert er banatschwäbische Lebenswelten in Vergangenheit und Gegenwart und erzielt damit seinen größten literarischen Erfolg. Mit dem Essayband „Die deutsche Seele“ (2011), in dem deutsche Schlüsselbegriffe diskutiert werden, gelingt ihm gemeinsam mit der Schriftstellerin Thea Dorn ein weiterer vielbeachteter Bestseller. In Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt (2014) nimmt Wagner uns mit auf lehrreiche Exkursionen durch die Seelenlandschaft Mitteleuropas.

Über diese und weitere Themenbereiche haben wir nach meinem Umzug nach Berlin 2002 in unseren zunächst monatlichen Treffen ausführlich und lange diskutiert. Und dann recht bald auch über die seine Bewegungsfreiheit nach und nach einschränkende Schüttellähmung. 2003 wird bei Wagner Parkinson diagnostiziert. Für ihn ist das Schlimmste passiert: Er hat den Kopf voller Ideen, allein der Körper gehorcht nicht mehr. Wagner versucht intensiver zu leben, nimmt die Dosierung der Medikamente selbst in die Hand. Seine schöpferische Begabung ist unbesiegt. Er veröffentlicht weiter, jedes Jahr ein neues Buch.

2012 dann die Diagnose Krebs. Die Krankheit überlebt Wagner knapp mit einer Chemotherapie. Sein Lebenswille bleibt ungebrochen. Wagner zieht um ins „betreute Wohnen“ in den Schöneberger Marienhof, wo unsere Gespräche nun wöchentlich stattfinden. Nach der feierlichen Überreichung des Verdienstkreuzes am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland durch den Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner im Auftrag von Bundespräsident Joachim Gauck im Oktober 2014 kommt die Hoffnung auf, dass er sein kreatives Vermögen wieder maximal entfalten kann. Wagners Sprachkunst kommt in seinem 2015 veröffentlichten Prosawerk Herr Parkinson voll zum Tragen. Hier beschreibt er schonungslos sein Leben mit der Krankheit, die ihm immer mehr Kraft raubt. Die mit mir begonnenen Aufnahmen für sein Autobiografieprojekt – Parkinson verminderte Wagners Handbeweglichkeit dergestalt, dass er kein Schreibwerkzeug mehr betätigen kann – und auch seine Recherchen für einen umfangreichen Paul-Celan-Essay müssen unvollendet bleiben.

Zum 65. Geburtstag Richard Wagners gibt die Literaturwissenschaftlerin Christina Rossi den Band Gold mit Gedichten aus den Jahren von 1972 bis 2016 heraus. Im gleichen Jahr veröffentlicht sie mit ihm den Gesprächsband Poetologik, der einen umfassenden Einblick in das Schaffen und Wirken des Schriftstellers gibt. Manuskripte und andere Zeugnisse sowie seine umfangreiche Bibliothek hat Wagner dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München überlassen. Seit 2017 kann der Bestand dort wissenschaftlich erforscht werden.

Wegen meiner Tätigkeit als DAAD-Lektor in der Republik Moldau konnte ich Richard Wagner nach seinem Umzug ins Seniorenpflegeheim, der aufgrund seines sich dramatisch verschlechternden Gesundheitszustandes notwendig geworden war, nur noch im Sommer und zwischen den Jahren besuchen. Während dieser Besuche las er mir aus seinem neuen Manuskript mit Gedanken, Sinnsprüchen, Urteilen und Lebensweisheiten vor. Wir haben eifrig über die Aphorismen diskutiert und viel gelacht. Doch seine Kraft reicht nicht mehr aus, um den Aphorismen-Band zu vollenden.

Als selbstbewusster und geistreicher Gesprächspartner erlebte ich Richard Wagner im Januar 2022, wenn auch akustisch meistens schwer verständlich, manchmal waren die Diskussionen aufgrund der Medikamente von Trugwahrnehmungen beeinträchtigt. Die früher stundenlangen Gespräche sind inzwischen auf eine halbe Stunde geschrumpft. Die Tagesmüdigkeit und die Unbeweglichkeit fordern ihren Tribut. Eine Kapitulation vor der Krankheit kommt für Richard Wagner allerdings nicht in Frage.

Herzlichen Glückwunsch zum 70. Geburtstag, Richard!

 

Dr. Josef Sallanz wurde 1963 in Arad geboren; 1978 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland aus. Er studierte Politikwissenschaft, Germanistik, Romanistik und Humangeografie in Heidelberg und Potsdam. Nach zahlreichen Stationen in Lehre und Forschung in Deutschland ist er seit 2016 Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in der Republik Moldau an der Staatlichen Pädagogischen Ion-Creangă-Universität Kischinau (rum. Chișinău).

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 231–232.

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