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Wilfried Heller: Rumänien. Bilder aus einer verlorenen Zeit | Rezension

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Wilfried Heller: Rumänien. Bilder aus einer verlorenen Zeit. Eine fotografische Landeskunde Rumäniens vor und nach der Wende. Hermannstadt, Bonn: Schiller Verlag 2020. 256 S.

Von Tobias Weger

Der tschechische Kulturphilosoph Vilém Flusser hat einmal betont, dass Fotografien – in seiner Terminologie „technische Bilder“ – keineswegs objektive Ebenbilder der Natur seien, sondern zum einen durch die technischen Möglichkeiten des sie erzeugenden Apparats, zum anderen durch die hinter den Bildern stehenden Ideen des Fotografierenden determiniert würden. Diese Erkenntnis gilt es auch bei dem hier zu besprechenden Band mit zu berücksichtigen. Der emeritierte Kultur- und Sozialgeograf Wilfried Heller, zweifelsohne in Deutschland einer der besten Kenner Rumäniens, seiner unterschiedlichen naturräumlichen Gegebenheiten und seiner Menschen, hat aus seinem privaten Bildarchiv 738 Fotografien zusammengestellt, von denen 570 auf Reisen in das Land vor dem Sturz des Diktators Nicolae Ceaușescu, 168 hingegen während der anschließenden Phase der politischen, ökonomischen und sozialen Transformation entstanden sind.

Daraus ist im Schiller Verlag eine ansehnliche Publikation geworden, die weit mehr ist als die illustrierte Landeskunde Rumäniens in einer bewegten Zeit, die – anders als es der Titel suggeriert – keineswegs „verloren“, sondern im kollektiven Gedächtnis von Millionen Menschen nach wie vor präsent ist. Das Buch ist auch eine Art illustriertes Tagebuch einer sich über Jahrzehnte erstreckenden Forschertätigkeit, sicherlich zu dieser Zeit eine der intensivsten Befassungen eines Menschen mit Rumänien, dessen familiengeschichtliche Bezüge in einen anderen Teil Zentraleuropas verweisen, in das westböhmische Egerland. Vielleicht war es die Erfahrung des „Andersseins“, die Heller als Kind einer Vertriebenenfamilie im Berchtesgadener Land gemacht hat, die bei ihm ein besonderes Interesse für das östliche Europa und speziell Rumänien geweckt hat?

Zwischen 1971 und 1989 hat der Göttinger Geografieprofessor vier persönliche Forschungsreisen unternommen und drei studentische Exkursionen in alle Regionen Rumäniens begleitet, denen weitere in den Jahren 1991 bis 2000 folgten. Wenn man vor der Herausforderung steht, aus Tausenden Farbdiapositiven eine repräsentative Bildauswahl zu treffen, kommt endgültig die „Idee“ als handlungsleitendes Motiv des Fotografierens zum Tragen. Rumänien hat in der Vergangenheit schon immer Fotografen inspiriert und ist Gegenstand zahlreicher Bildbände. Häufig stehen dabei imposante Landschaften, malerische Dörfer und Städte sowie folkloristische Szenen im Mittelpunkt. Einige „klassische“ Ansichten hat auch Wilfried Heller in seine Auswahl mit eingestreut, doch spricht uns in den meisten Bildern gerade der professionelle Blickwinkel des Geografen an, der zugleich wie ein Ethnologe auf ständiger Feldforschung unterwegs war. Der Übergang vom traditionellen Dorf zur „systematisierten“ Agrarsiedlung, der Eingriff der rasch hochgezogenen Plattenbausiedlungen und politisch motivierten Repräsentationsbauten in die urbane Landschaft vieler rumänischer Städte, der Wandel der menschlichen Lebens- und Arbeitswelten, aber auch die ökologischen Rücksichtslosigkeiten, die das sozialistische Regime im Interesse der angestrebten wirtschaftlichen Autarkie in Kauf genommen hat – diese und viele weitere Aspekte finden sich auf den abgedruckten Fotografien wieder. Viele der Bilder veranschaulichen einen rapiden kulturellen Wandel: Im August 1972 dokumentierte Wilfried Heller einen festlichen Gottesdienstbesuch von Siebenbürger Sachsen in Kleinschelken (rum. Șeica Mică), der in dieser Größe und generationellen Differenziertheit heute kaum mehr vorstellbar wäre. Doch auch manche landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft oder Fabrik, die Heller „in Betrieb“ festhielt, dürfte heute nur mehr ein Schatten ihrer selbst sein.

Gemäß dem Muster einer klassischen Landeskunde hat Heller sein Material nach den historischen Regionen Rumäniens gegliedert, die sich in einer durch farbige Kopfzeilen eingängigen Kapitelstruktur widerspiegeln. Die Leser begleiten ihren Autor durch Siebenbürgen, das Banat, das Kreischgebiet, Sathmar, die Maramuresch, die Bukowina, die Moldau, Muntenien, Oltenien und die Dobrudscha. Einfühlsam und kenntnisreich beschreiben die Einführungstexte die naturräumlichen Gegebenheiten, wichtige Orte und Besonderheiten, aber auch die Geschichte jeder dieser Regionen. Die Fotografien stehen für die immense geografische und kulturelle Vielfalt des Landes, greifen unterschiedliche Einflüsse auf und zeigen zur Abwechslung auch immer wieder reizvolle Landschafts- und Ortsansichten. Dann wieder gewähren sie Einblicke in den sozialistischen Alltag: In Wolfsberg (rum. Gărâna) und Temeswar (rum. Timișoara) fotografierte Heller 1982 Schlangen von wartenden Einkäufern vor Geschäften, in denen sie Brot und Milch zu erwerben hofften. In Sathmar (rum. Satu Mare) hielt er fest, wie Betonkolosse des Brutalismus das organisch gewachsene Stadtzentrum überbauten, in der Bukowina die sozialistische Kollektivierung des traditionellen Töpferhandwerks, den Bau von gleichförmigen Hochhäusern in Jassy (rum. Iași) und Bukarest (rum. București). Gerade bei den Straßenansichten aus der sozialistischen Zeit fällt die Leere der breit angelegten Boulevards auf, deren Gehwege zwar Passanten bevölkerten, deren Fahrbahnen aber kaum Autos befuhren. Solche Ansichten wirken aus heutiger Sicht beinahe gespenstisch, weil sie die Monumentalität der „Systematisierung“ besonders unterstreichen. Es ist jedoch nicht nur der gestaltete Raum, den Heller durch sein Objektiv einfing, sondern es sind auch die dort lebenden Menschen. Einige hat er wohl bewusst in Szene gesetzt wie das gelassene Feierabend-Ehepaar in Balotești, jud. Ilfov (S. 188), oder Handwerker in der Maramuresch (S. 115). Bei anderen Menschenaufnahmen erahnt man, dass sie ohne das Wissen der Abgebildeten, quasi mit versteckter Kamera, gemacht worden sind. Schließlich entstanden sie zu einer Zeit, da Fotografieren nicht nur ein kostspieliges Hobby, sondern im sozialistischen Rumänien auch mit zahlreichen Einschränkungen und Verboten belegt war.

Häufig scheint sich weniger die „verlorene Zeit“ auf den Bildern wiederzufinden als eine verlorene physische Welt. Dies lässt sich anhand einiger Aufnahmen aus der Dobrudscha exemplifizieren: 1974 bestieg Wilfried Heller das Minarett der König-Karol-Moschee in der Innenstadt von Konstanza (rum. Constanța). Seine Kamera erfasste beim Rundumblick unter anderem noch eine repräsentative Häuserzeile am Ovid-Platz, die vor dem Ersten Weltkrieg der damalige Stadtbaumeister, der aus Kronstadt (rum. Braşov) stammende Adolf Linz, erbaut hatte (S. 234). Kurze Zeit später ist dieser Komplex ohne Not dem Modernisierungswahn Ceaușescus anheimgefallen, der es allerdings nicht schaffte, ihn durch einen Neubau zu ersetzen, weshalb an dieser Stelle bis heute eine empfindliche Lücke im Stadtbild klafft. Im selben Jahr reiste Heller auch in die nördliche Dobrudscha und hatte in dem Dorf Ciucurova, südwestlich von Tulcea, Gelegenheit, einen traditionellen Bauernhof zu besuchen. Man sieht ein lang gezogenes, frisch gekalktes und strohgedecktes Haus und den Brotbackofen im Hof (S. 236f.). In diesem Hof lebten bis zur nationalsozialistischen „Umsiedlung“ im Herbst 1940 Deutsche, in enger Nachbarschaft zu ihren rumänischen, tatarischen und russischen Mitmenschen. Auch dieses materielle Erbe ist heute nur noch rudimentär existent, und insofern besitzen Hellers Aufnahmen nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen hohen dokumentarischen Wert.

Wer selbst in den 1970er- und 1980er-Jahren in Rumänien gelebt hat, wird sich beim Lesen und Betrachten dieses Bandes sicherlich atmosphärisch in die damaligen Verhältnisse zurückversetzt fühlen. Den Nachgeborenen sowie den „Quereinsteigern“, zu denen sich der Rezensent selbst zählt, kann das Buch helfen, die heutige Realität Rumäniens besser zu verstehen. Eine Qualität ist besonders hervorzuheben: Bei aller Kritik an Missständen, die in Wort und Bild bei Wilfried Heller zum Ausdruck kommen, überwiegt doch deutlich die Empathie. Und damit unterscheidet sich seine Publikation auf angenehme Weise von vielen reißerischen Bildberichten, die Rumänien in einer schon fast kolonialistischen Art und Weise zu einem Dritte-Welt-Land am Rande der europäischen Zivilisation herabgewürdigt haben und deren Stereotypen bei vielen Menschen bis heute nachwirken.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2021), Jg. 16, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 131–134.

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