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Hellmut Seiler: Schwebebrücken aus Papier / Aurelia Merlan, Joshua Ludwig: Rumänische Lyrik | Rezension

Hellmut Seiler (Hg.): Schwebebrücken aus Papier. Anthologie rumänischer Lyrik der Gegenwart. Aus dem Rumänischen übersetzt und herausgegeben von Hellmut Seiler. Berlin: Edition Noack & Block im Frank & Timme Verlag 2021. 378 S.

Aurelia Merlan, Joshua Ludwig (Hgg.): Rumänische Lyrik. Von der Romantik bis zur Gegenwart. Eine Anthologie. Rumänisch/Deutsch. Berlin: Edition Noack & Block im Frank & Timme Verlag 2021. 446 S.

 

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Von Ingrid Baltag

Die Poesie ist ein aussterbendes Genre. Es lebe die Poesie!

Was ist ein Gedicht? Das Gedicht ist eine unaufhörliche Suche nach Antworten auf existentielle Fragen. Um auf die Fragen zu antworten, ist der Dichter oftmals versucht, aus der Enge des mal bescheidenen oder hermetischen, mal direkten oder provokativen Wortes auszubrechen. Denn das Leben wird seit jeher von äußeren Umständen erschüttert, Kriege, Naturgewalten, politische Kämpfe, unentzifferbare Geheimnisse, Dichter befinden sich auf einer ständigen Suche nach Antworten, nach neuen Wegen, die sie sich und anderen verständlich machen, indem sie ihnen eine wörtliche Form verleihen. Zwischen Trost und Leid, zwischen Hilflosigkeit und Revolte, Dichter finden in Wörtern die Kraft und die Entfesselung, um denjenigen, die sie lesen, Hoffnung zu schenken. Das Gedicht ist ein Manifest, ein Schrei, eine Hoffnung. Wenn das Gedicht es schafft, das Herz oder den Verstand der Leserinnen und Leser zu berühren, dann wird es zu einem Gewinn, einem „Mehrwert“, dann hat der Dichter oder die Dichterin seine oder ihre Mission als Botschafter bzw. Botschafterin erfüllt. Was kann das Gedicht heute für Informationen übermitteln, die andere Sprachmedien nicht übermitteln können? Worin besteht sein Zauber?

Aus dem antiken poiesis stammend, bedeutet Gedicht zunächst Erschaffung. Es wird als spezifische Erkenntnis definiert, die sich auf künstlerische Weise artikuliert, und durch konzentrierte Sprache in vielfältigen Bedeutungen und suggestiven Werten des Wortes ausgedrückt: besonderes Wissen, affektive Erkenntnisse, Essenzen aus dem realen Leben in reine Sprache übertragen. Als Ausdrucksmittel benutzt das Gedicht den Reim, der überkreuzt, parallel, umarmend sein kann, was dem Gedicht eine Tonalität gibt. Eine andere Modalität des Ausdrucks ist das Versmaß, aus dem die Musikalität entspringt: die rhythmische Sukzession und Wiederholung der betonten und unbetonten Silben innerhalb eines Verses (jambisch, trochäisch, daktylisch und andere). Wie schön drückte sich einst Mihai Eminescu in seinem Gedicht Der zweite Brief aus, einem so genannten klassischen (oder weißen) Vers folgend: „Du fragst, warum meine Feder in der Tinte ruht? / Warum der Rhythmus mich nicht weg von meinen Pflichten holte? / Warum sie in den vergilbten Blättern schläft, / die steigenden Jamben, die Trochäen, die sprunghaften Daktylen?“.[1]

Beide vorliegenden Anthologien haben ihren Schwerpunkt auf der historischen Chronologie der rumänischen Lyrik. Seit dem umfangreichsten in deutscher Sprache erschienenen Sammelband von Dieter Schlesak (Hg.) Gefährliche Serpentinen von 1998 gab es einige wenige schmale Lyrik-Anthologien mit Übersetzungen aus der rumänischen Lyrik oder als zweisprachige Ausgaben angelegt, die sich sowohl der klassischen als auch der modernen rumänischen Dichtung widmen sowie einige neuere Stimmen dieser im deutschen Sprachraum weniger bekannten Dichtung enthalten. Dabei gilt es sowohl Stimmen des Exils 1945 bis 1989 einen Raum zu geben als auch der Vielfalt der nach 1989 entstandenen Dichtung gerecht zu werden.

Eines der rekurrenten Themen in der rumänischen Lyrik ist die Kunst des Dichtens, im weiteren Sinne auch die Reflexion der eigenen Dichterexistenz, oder die Quellen der lyrischen Inspiration. In einer Sprache, die so lange eine marginale Rolle spielte, spürt man, dass das Bedürfnis nach sprachlicher, lyrisch-literarischer Reflexion eine kulturelle Konstante und ein Grundbedürfnis ist. Eine der Lesarten, der man anhand der beiden neuen Lyrikanthologien folgen kann, ist die Ars Poetica, ein alter Topos.

Öffnen wir das Buch Rumänische Lyrik: Von der Romantik bis zur Gegenwart. Eine Anthologie Rumänisch/Deutsch, herausgegeben von Aurelia Merlan und Joshua Ludwig, eine der beiden Neuerscheinungen des Jahres 2021, die anhand von 22 Dichterporträts Einblicke in eine Fülle rumänischer Lyrik gewähren. Die zweisprachige Anthologie setzt mit dem romanistisch-impressionistischen 1848er Vasile Alecsandri in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, gefolgt von Mihai Eminescu (den man nicht unbedingt mit dem altmodischen Etikett „Nationaldichter“ – S. 23 – versehen müsste, seine einzigartige Poetik und sein innovativer spätromantischer Stil beschreiben ihn zur Genüge), dem Gegenspieler Eminescus Alexandru Macedonski und George Coșbuc, die für die rumänische Lyrik wegweisend sind. Es folgen modernere Autoren wie Octavian Goga, Ion Minulescu, Ion Pillat, George Bacovia, Tudor Arghezi, Ion Barbu, Nicolae Labiș, bis ins 20. Jahrhundert hinein mit Nina Cassian, Lucian Blaga, den wichtigsten Vertretern der 1960er Generation Marin Sorescu, Ștefan Augustin Doinaș und Nichita Stănescu. Auch marginale, selbst im rumänischen Kontext weniger bekannte, lange Zeit verschwiegene Dichter wie Ion Vinea, Eugen Ionescu, Tristan Tzara finden hier einen Platz, obwohl sie eher den internationalen Avantgardisten angehörten. Schließlich runden Ana Blandiana, Mircea Dinescu und Mircea Cărtărescu das Bild ab, Dichter, die bis in die 1990er-Jahre hinein oder darüber hinaus gewirkt haben. Die Gegenwart der letzten 25 Jahre bleibt jedoch ausgespart. Die Übertragung ins Deutsche ist eine interlineare Übersetzung, die manchmal gelungen ist, manchmal ein wenig steif wirkt. „Die Dürre hat jeden Windhauch getötet. / Die Sonne ist geschmolzen, auf die Erde geflossen“, „Es zeigte sich springend, es blieb stehen, / sah sich um mit einer Art Angst“, „Ich sag Vati, ich bin durstig, er bedeutet mir, zu trinken“. (S. 314)[2] Jedoch erklärt sich der pragmatische Ansatz aus dem Entstehungszusammenhang als Projekt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Es soll zunächst den Einstiegsstudierenden den Zugang zur rumänischen Sprache erleichtern. Einige der 22 vertretenen Dichter sind in verschiedenen Anthologien bereits in Teilen übersetzt worden, andere sind im deutschen Sprachraum bislang weitgehend unbekannt. Die Anthologie nimmt sich vor, eine unsichtbare Entwicklungslinie nachzuzeichnen, um wichtige Etappen zu skizzieren, ohne diese explizit zu nennen. Kurze biobibliographische Angaben runden das Bild ab und meiden die Vertiefung oder wertende Urteile, eine seriöse Studienausgabe von großem Nutzen.

Im gleichen Verlag erschien der vom Dichter Hellmut Seiler herausgegebene und übersetzte Band Schwebebrücken aus Papier. Anthologie rumänischer Lyrik der Gegenwart. Die Anthologie ist einsprachig Deutsch und zeichnet sich durch hervorragende Übersetzung aus. Die von kurzen biobibliographischen Informationen begleiteten Porträts der Autorinnen und Autoren setzen genau an dem Punkt an, an dem der zuvor vorgestellte Band aufhört. Im vorangestellten gelungenen Essay stellt der Literaturkritiker Alex Cistelecan diese Dichtung in den Gesamtkontext der rumänischen Literatur. „Die rumänische Lyrik ist eine der jüngsten in Europa“ (S. 5), schreibt er und zeichnet ihre Entwicklung aus der Geburt der rumänischen Aufklärung zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach. Der Titel des Bandes ist eine treffende Metapher: Schwebebrücken aus Papier. So eröffnet Ana Blandianas Dichtung diesen Band, die im Gedicht Biografie ihren Werdegang als Lyrikerin beschreibt: „Als Kind hatte ich beobachtet, dass die Blätter / im Rhythmus meines Gedankens zittern“. (S. 26) „Ich habe das Recht nicht mehr stehenzubleiben. / Jedes unausgesprochene Gedicht, jedes nicht gefundene Wort / bringt das Universum, das an meinen Lippen / hängt, in Gefahr“. (S. 26) Als Kind, also zu Anfang ihres Dichtens, folgten ihr ihre Brüder und Schwestern im Geiste, sie bewunderten sie, sie stimmten ihr zu und ja, imitierten sie sogar. Verfolgt wurde sie von Raubtieren, von Feinden (die bekannten politischen Umstände der Diktatur, der Geheimdienst, die Zensur, die Funktionäre des Kommunismus), dann erschrak sie, aber es war zu spät. Sie hatte diesen Weg bereits eingeschlagen, auf dem sie nichts mehr aufhalten konnte. Es bleibt ihr Dichterinnenrecht, diesen als ein Ideal für sich selbst auserkorenen Weg stetig weiterzugehen. Das Wort besitze die Macht des Magiers, Wunder zu vollbringen. Denn wenn man nichts schreibt, wenn man nichts sagt, dann ist die Welt in Gefahr, dann wird das Wort vom reinen Instinkt übernommen: „Eine einfache Zäsur des Verses / würde den Zauber aufheben, der die Gesetze des Hasses bannt, / und alle, verwildert und einsam, zurückwerfen / in die feuchte Grotte der Instinkte“. (S. 26) Die Poesie als Manifest. Welch Zartheit, wieviel Musikalität, welch Harmonie atmen die Verse in Draußen auf den Hügeln, um die Verbrüderung mit der Natur, die Freiheit des Körpers und der Gedanken zu besingen: „Draußen auf den Hügeln findet meine Seele / ihren Atem wieder“. (S. 23) In Geschlossene Kirchen durchdringt ein Gefühl der Melancholie die Verse, ein Bedauern über die Gleichgültigkeit vieler Zeitgenossen, die ein unruhiges Konsumleben führen, keine Zeit haben, um den Blick in einer anderen historischen Dimension umherschweifen zu lassen „und ohne sich zu fragen / wer jener ist der irgendwann / in einem so großen Haus gewohnt hat“. (S. 19) Hinter dem Gefühl des Schmerzes lugt eine zivile Verpflichtung hervor, die uns daran erinnert, dass wir nicht geschichtslos geboren sind. In Animal planet lanciert sie einen Aufruf zum zivilen Ungehorsam: Man darf die Augen nicht verschließen und nicht untätig bleiben angesichts der Ungerechtigkeiten, der Gesetzlosigkeiten, der Monstrositäten! Denn wenn man diese passiv betrachtet, macht man sich mitschuldig. „Wie schwer ist es doch, einem Engel die Flügel zu streicheln!“ (S. 15), heißt es in einem anderen Gedicht: der blandiansche Engel, eine Veranschaulichung des dichterischen Ideals. Das Ideal lässt sich nur erspüren, nicht erreichen. Nicht die Idee dominiert in ihren Gedichten, sondern das innere, das intensive Erleben: „[…] und von allen Sinnen wach nur der Traum vom Tasten bleibt, / einem Engel, ohne ihn zu erschrecken, über die Flügel zu streicheln […]“. (S. 15) Nur Unsensible bleiben von einem solchen Vers unberührt.

Im Fortgang der Anthologie lobt Adrian Popescu in Die Straße den ersten freien demokratischen Frühling: „Es schien der Morgen der Welt zu sein, / und über uns schütteln sich / sämtliche Zweige / der Kirschbäume Osteuropas“. (S. 264) Dieses Symbol des Lebens, des Friedens, der Freiheit, der Einigkeit: „und wir hielten uns an der Hand, waren uns sicher, dass die Straße / niemals enden würde, / oder, gut, sagen wir, / erst nach sehr langer Zeit …“. (S. 264) Im Gedicht Der Leib, die Seele schildert er das Drama des Menschen: Der Leib wird alt, aber die Seele mit ihren Wünschen, mit den Träumen bleibt jung, voller Ideale, voller Illusionen. Ioana Ieronim entführt uns in Das Alter eines Schreibers in die Antike mit Verweis auf den tragischen Poeten Euripides, einem der drei Großen der klassischen griechischen Tragödie. Im Zentrum dieser Stücke steht der Mensch, der von seinen Leidenschaften dominiert wird: „wie bei Euripides in der Höhle / und dem Leben selbst, dem gierigen, verschwenderischen?“. (S. 144)

Die Anthologie versammelt 215 Gedichte von 36 Dichtern: Ihre Namen Codruț (rum. Wäldler), Ursu (rum. Bär), Moldovan (rum. Moldauer), Mureșan (rum. von der Marosch), Blandiana (Pseudonym mit Verweis auf Herkunftsort der Mutter) und viele andere erschreiben eine Geografie der rumänischen Lyrik in einer „poetischen Landschaft“. (S. 7)

Es sind meist etablierte Dichter der älteren Generation, die den Kommunismus noch bewusst erlebt haben. Entsprechend schwebt das Politische immer im Existentiellen mit. So im Gedicht Ein dummer Tag von Matei Vișniec: Eine zugespitzte kafkaeske Situation, die vor dem historischen Hintergrund der rumänischen Geschichte interpretiert werden kann. Das lyrische Ich beklagt, seine Habe in einem Hotelbrand verloren zu haben. Sein Koffer, vielleicht sein Körper, oder seine gesamte Existenz, alles zerstob zu Asche. Niemand hilft, und als es auch noch zu regnen anfängt, wird es „wegen Störung der zerstörerischen Ordnung“ (S. 355) verhaftet. Das Urteil wurde in Abwesenheit des Richters gefällt und dem Angeklagten wurde leider verboten, sich zu verteidigen, denn „mir wurde gesagt ich sei noch nicht geboren“. (S. 355) Vișniecs Gedicht Die Katastrophe kann nicht mehr aufgehalten werden ist eine aufrüttelnde Mahnung die Macht der Literatur nicht zu unterschätzen: „sobald das Wort nichts anfängt sich Fragen zu stellen / kann die Katastrophe nicht mehr aufgehalten werden“. (S. 354) Dies ein Beispiel für die Tipp- oder Setzfehler, die sich im Band eingeschlichen haben: „nichts anfängt“ mit einem überflüssigen „s“. Ileana Mălănciou nimmt in Hieronymus’ Sohn Bezug auf den niederländischen Maler Bosch, dessen moralisierende Allegorien satirisch die menschliche Gesellschaft aufs Korn nehmen. Simona Popescu verbirgt hinter der titelgebenden Metapher unbestrittene Wahrheiten aus dem Leben. Der Keller erzählt von einem Untergeschoss im übertragenen Sinn, in dem Dinge aufbewahrt werden, die wir eigentlich nicht mehr brauchen. Die Dinge unter der Oberfläche stehen für die unergründlichen Geheimnisse des Körpers, für die verborgenen Gefühle, die Reichtümer der Seele, die darauf warten eines Tages ans Licht zu gelangen. „Nein, Herr Goethe, / das Schreiben kommt nicht von einem ,Überschuss des Sprechens‘ / das Schreiben rührt von einem Überschuss / der unausgesprochenen Musik, die in dir schlummert.“ (S. 275)

Andrei Zanca führt uns in eine apokalyptische Vision im letzten Gedicht des Bandes, Wanderungen, und bietet seiner Angst vor der atomaren Katastrophe Raum. Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl ist das Betreten der Zone immer noch verboten: Ein „radioaktives Naturreservat… // niemand weiß was dort geschieht, in jener Zone. / vielleicht nur die Vögel die sie ohne anzuhalten überfliegen“. (S. 362) Das Gebiet ist gleichzeitig mysteriös und das Leben läuft erschreckend normal weiter: „auf einem Hügel der nahen Stadt spielte ein Mädchen / namens Maraika. sie trug ein blaues Kleidchen / mit weißen Tupfen. // sie spielte allein“. (S. 362) Dystopische Visionen werden wahr, denn tatsächlich „weiß niemand mit Sicherheit, was dort geschieht“ (S. 362), „die Wesen … jene Tiere … haben sich schrecklich vermehrt … / sie sind irgendwie anders … was wird wohl geschehen / wenn sie sich eines schönen Tages entschließen die Zone zu verlassen?“. (S. 363) Eine atomare Katastrophe ist immer ein globales Drama mit unberechenbaren Folgen.

Andrei Zanca schließt den Band mit einem „Vermächtnis“. In seinem Gedicht April (S. 358f.) beschreibt er die dramatische Trennung eines sterbenden Vaters von seinem Sohn: ein unermesslicher Reichtum an Gefühlen, die er seinem Sohn zuflüstert, Geheimnisse, Offenbarungen, Ratschläge, Wünsche in verschiedenen Tonlagen. Dieses Zuflüstern ist für den Sohn ein wahrer Schatz, den er im Verborgenen seiner Seele aufbewahrt.

Am Ende dieses lyrischen Wegs blickt man zurück und betrachtet die Schaufenster links und rechts. Viele lyrische Perlen bleiben im Gedächtnis: die Gemälde des Hieronymus, die Maraika, Künderin des Todes, in wilde Tiere verwandelte Menschen, Kirchen, Klöster, Keller und andere geheimnisvolle Orte. Manche Schaufenster lassen einen Blick ins Innere zu, manche verstecken sich hinter opaken Fensterscheiben und gewähren niemanden den Eintritt, man bleibt ungerührt davorstehen. Man müsste noch einmal diese Straße entlanglaufen, immer wieder stehen bleiben, in die Schaufenster blicken und sich anstrengen, das zu sehen, was beim ersten Blick nicht ersichtlich war. Auf diesem Weg würde sich ein dritter Band mit den neuesten jüngsten Dichterstimmen aus Rumänien hervorragend einreihen.

Die neue Poesie liest sich wie Prosa, die Grenzen sind fließend, der Lesefluss zuweilen auch. Es ist ein bisschen schade um die alten gereimten, rhythmisierten Verse, in denen das Herz dachte und litt, heute vom Hirn ersetzt, und wir allzu genau erfahren, wie Gefühle, Poesie und Liebe verschmelzen. Aber erfahren wir dies wirklich? Oder sollten wir ab und zu wieder die späten Romantiker, die frühen Symbolisten, die abgedrehten Surrealisten zum Wohlbefinden unserer Seelen lesen? Die vorliegenden Anthologien tragen ihr Eigenes dazu bei, sich in das lyrische Denken hineinzuversetzen, und bestätigen die zum Klischee erstarrte, aber dennoch zutreffende Aussage des rumänischen Dichters Vasile Alecsandri: „Der Rumäne ist als Dichter geboren“. Lesend können wir in beiden Bänden erahnen, was zwei Jahrhunderte rumänische Dichtung zu dieser Welt beitragen. Wie einst George Coșbuc schrieb: „Kind, vertrau den schreibenden Dichtern / denn ihnen ist die Gabe zuteil / das Ganze besser zu hören, lebendig zu erleben / des Lebens Schmerz zu erspüren. // Sie können wie Wogen Strände fluten / im Rückzuge bettet der Sand sich fein / Von Wellen verstreut an den Ufern / werden Perlen verstreut ganz allein“.[3]

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 168–173.

 

[1] De ce pana mea rămâne în cerneală, mă întrebi? / De ce ritmul nu m-abate cu ispita-i de la trebi? / De ce dorm, îngrămădite între galbenele file, / Iambii suitori, troheii, săltărețele dactile? M. Eminescu: Scrisoarea a II-a [Der zweite Brief]. In: Poezii [Gedichte]. Bukarest 1971, S. 120. (Dt. Übersetzung I. B.).

[2] Seceta a ucis orice boare de vânt. / Soarele s-a topit și a curs pe pământ; Ea s-arătă săltând și se opri / Privind în jur c-un fel de teamă; Spun tatii că mi-e sete și-mi face semn să beau. Nicolae Labiș: Moartea căprioarei [Der Tod des Rehs], S. 314f.

[3] Copilă, tu crede poeții ce scriu, / Căci lor li s-a dat o putere / S-audă mai bine, să simtă mai viu / Întreagă a lumii durere. // Ei sînt ca oceanul ce-neacă vrun mal, / Dar cînd se retrage, el lasă / Mai fin nisipișul, și-aduse de val / Ici-colo, și perle ne lasă. George Coșbuc: Copilă, tu crede poeții ce scriu … [Kind, vertrau den schreibenden Dichtern …]. In: Cîntece de vitejie (Poezii II) [Lieder der Tapferkeit (Gedichte II)]. Bukarest 1966, S. 413. (Dt. Übersetzung I.B.)